Der Traum vom künstlichen Geist

Bild: Gerd Doeben-Henisch

Grundbausteine eines künstlichen Geistes

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Wer kennt sie nicht, diese Bilder: halb real, halb unwirklich, manchmal beglückend, oft eher bedrohlich, Angst einflößend. Man will weglaufen, kann aber nicht; man ist wie gelähmt. Man will schreien, aber die Stimme versagt, bleibt stumm. Das Unheil ist ganz nah. Und dann wieder diese wunderbaren Situationen, mit lieben Menschen, vielleicht mit dem liebsten Menschen, mit dem man immer schon mal zusammen sein wollte. Helle Landschaften, bunt, auch bizarr, grotesk, fantastische Häuser, Städte, fantasievolle Kleidung …. unsere Träume.

Die einen nehmen sie nicht sehr ernst, lachen darüber, verdrängen sie; andere sehen die Träume als eine Sprache, in der uns unser Inneres etwas mitteilen möchte. Sie versuchen in den Träumen zu lesen, suchen Träume zu deuten. Vielfach wird angenommen, dass unsere Träume nicht aus dem Nichts kommen sondern ihre Inspiration und Energie aus dem beziehen, was uns im alltäglichen Leben beschäftigt. So eine Art Widerhall des Alltags, nicht 1:1, sondern kreativ verändert, verzerrt, überhöht, übertrieben, mit fantastischen Anteilen, die so im normalen Alltag nicht vorkommen würden. Und es scheinen besonders die Emotionen zu sein, die eine spezifische Antriebsenergie für Träume bilden, und hier die verdrängten oder unbewältigten Emotionen: Ängste, die uns umtreiben oder gar peinigen, traumatische Erlebnisse, oder unerfüllte Sehnsüchte, Bedürfnisse, unterdrückte Triebe, die eigentlich da sind, aber aus irgendwelchen Gründen nicht offen ausgelebt werden können. Sie alle sollen dann im Untergrund unseres Inneren ihr Unwesen treiben, uns im Traum peinigen, quälen, oder auch beglücken.

Biologische Gehirne

Nun wissen wir heute - zumindest können wir es wissen, wenn wir wollen -, dass Träume im Gehirn zu verorten sind, im biologischen Gehirn, jenem Wunderwerk von ungefähr 100 Milliarden Zellen, die sich im Innern unseres Kopfes befinden, die einerseits mechanisch weitgehend unverbunden sind, aber doch beständig miteinander Botschaften austauschen, Energieimpulse senden und empfangen, chemische in elektrische Energie umwandeln, und umgekehrt. Dieses Gehirn ist real, für Beobachter ein mögliches Objekt zum Messen, um Experimente zu machen. Ein biologisches Gehirn ermöglicht einem biologischen System Umweltereignisse (und systemspezifische Ereignisse) in elektrochemische Zustände zu konvertieren, zu transferieren und zu modifizieren. Was immer da in unserer Umwelt außerhalb des Gehirns auch geschehen mag, bestimmte Sensoren (andere Zellen) registrieren energetische Zustände und Ereignisse und verwandeln sie in elektrochemische Zustände des Gehirns, so, dass sie dem Gehirn quasi als Modell einer Welt dienen, die das Gehirn selbst niemals gesehen hat noch jemals sehen wird. Das biologische Gehirn weiß nichts von der Welt da draußen. Es bekommt nur beständig einen Strom von Energieimpulsen von allen möglichen Quellen, die es nicht selbst geschaffen hat, sondern immer schon vorfindet.

Das Erstaunliche am biologischen Gehirn ist, dass es seinen Besitzer, den umgebenden Körper, in der Welt jenseits des Gehirns mit nahezu traumwandlerischer Sicherheit durch genau jene Welt steuert, die es eigentlich gar nicht kennt.

Wer schon mal selbst versucht hat, ein kleines Netzwerk von vielleicht nur 100 künstlichen Neuronen für eine bestimmte Aufgabe zu programmieren, der weiß, dass dies schwierig sein kann. Erhöht man die Anzahl, wird es immer schwieriger bis dahin, dass man schon bald einfach nicht mehr weiß, wie man solche künstlichen Neuronen als ein selbstlernendes System programmieren soll, schon gar nicht, wenn es um solch komplexen Leistungen geht, wie diejenigen, die da biologische Gehirn in jedem Moment einfach so leistet.

Eine detaillierte Antwort auf die Frage, wie das biologische Gehirn all diese komplexen Aufgaben steuert bzw. es gelernt hat bzw. beständig weiter lernt, einen Körper durch seinen Alltag zu steuern, haben wir bis heute nicht.

Andererseits wissen wir - können wir wissen! -, dass die biologischen Gehirne der Gattung homo sapiens nicht vom Himmel gefallen sind. Sie waren nicht einfach da. Sie durchlaufen hochkomplexe Generierungsprozesse, die im Fall der Ontogenese (individueller Wachstumsprozess eines Organismus von einer befruchteten Zelle bis in zum ausgewachsenen Körper) das Wunder vollbringen, aus einer befruchteten Zelle zu einem galaktischen Zellsystem von ungefähr vier Billionen Zellen anzuwachsen, von denen die 100 Milliarden Gehirnzellen nur eine kleine Teilmenge bilden.

Diese vier Billionen Zellen - unser Körper - erscheint uns hoch organisiert, arbeitsteilig, mit mehreren komplexen Kommunikationssystemen, und sind beständigen Veränderungen unterworfen. Ist dies für sich genommen schon ein atemberaubender Prozess, den wir bislang nur anfangshaft verstehen, so gerät das Bild schier aus den Fugen, wenn wir berücksichtigen, dass diese vier Billionen Körperzellen selbst wiederum in eine phylogenetische (Entstehungsprozess einer Population als Population) Geschichte von mehr als 3 Milliarden Jahre eingebettet sind.

Wie wir heute wissen (können), ist das heutige Format des biologischen Gehirns und des zugehörigen biologischen Körpers nur eine Momentaufnahme. Forschungen zurück in die Vergangenheit haben immer mehr Fakten zusammen getragen, anhand deren wir davon ausgehen müssen, dass sich alle bekannten biologischen Körper (samt den darin enthaltenen Gehirnen) im Laufe von ungefähr 3.8 Milliarden Jahre langsam, schrittweise, von einer einzelnen Zelle - nach immerhin fast 2.8 Milliarden Jahren - über allereinfachste Zellverbänden zu immer komplexeren Zellverbänden entwickelt haben. Die heutige Gestalt des biologischen Gehirns und seines Körpers ist also eine extrem langwierige Such- und Lerngeschichte in beständiger Wechselwirkung mit der umgebenden Welt, von der wir wissen, dass diese Welt - unsere Erde - sich ebenfalls beständig verändert hat und sich immer noch weiter verändert.

Das, was wir heute an biologischen Arten sehen, das sind nur die Überlebenden. Auf dem Weg von gestern zum Heute sind viele Millionen Arten gescheitert; der Preis für die Suche nach der geeigneten Gestalt war sehr, sehr hoch; und die Suche ist - strenggenommen - noch nicht am Ende. Solange die Erde sich weiter verändert - und mittlerweile hilft der homo sapiens dabei kräftig mit - wird die Gattung homo sapiens sich weiterhin um eine geeignete Anpassung bemühen müssen. Und wenn unsere Astrophysiker Recht haben, dann wird es auf der Erde wegen dem Aufblähen der Sonne in ungefähr 1 Milliarde Jahren so ungemütlich, ja lebensfeindlich, werden, dass wir gut daran tun, entweder die physikalischen Prozesse der Sonne unter Kontrolle zu bringen oder das Leben auf der Erde in die Lage zu versetzen, sich irgendwo anders im bekannten Universum nieder zu lassen. Damit verlängert sich der Anpassungsdruck ins quasi Unendliche. Wer kann heute schon sagen, wie ein biologisches Lebewesen in ferner Zukunft aussehen wird, falls es dann überhaupt noch biologisches Leben geben wird.

Gehirnträume

Ist es schon erstaunlich, wie die biologischen Gehirne in der Lage sind, ihre Körper in einer Welt zu steuern, die sie selbst nicht kennen, so ist es eigentlich mindestens so erstaunlich, dass diese auf Realitätspassung getrimmten Gehirne einen Zustand einnehmen können, den wir salopp als Träumen bezeichnen. Beim Träumen verschwimmen Realitätselemente mit Fantasiegestalten, ähnlich wie beim kreativen Denken, wenn es darum geht, jenseits des Bekannten etwas Anderes, etwas Neues zu finden. Die Nähe zum Un-Normalen, zum Krankhaften, zum Wahnhaften, wie es der Durchschnittsmensch empfindet, ist allemal fließend. Genie und Wahnsinn galten schon immer als eng benachbart. Im biologischen Kontext der Gehirnzustände ist es ein großer Raum, ein Kontinuum möglicher Zustände, wo es in der Tat schwer fallen kann, zwischen gesund und krank zu unterscheiden.

Das Kreative, das Fantastische, das Geniale, dies sind Gehirnzustände, die bis zu einem gewissen Grad die Überlebensfähigkeit erhöhen. Ohne die Fähigkeit, vom Gewohnten und Bekannten deutlich abweichen zu können, würde es niemals biologisches Leben gegeben haben. Und im modernen Wirtschaftsleben gewinnt die Innovationskraft eines Unternehmens eine immer größere Bedeutung. Wenn alle zu einem bestimmten Zeitpunkt das gleiche Kapital und die gleiche Technologie besitzen, dann wird dasjenige Unternehmen gewinnen, das die höhere Kreativität, die bessere Innovationskraft besitzt. Dies gilt auf allen Ebenen.

Im Traum, im Träumen, im Fantastischen, im Kreativen begegnet uns also eine grundlegende Fähigkeit der biologischen Gehirne, das Gegebene, das Bekannte, das Gewohnte in Richtung von etwas Neuem zu durchbrechen. Auf der genetischen Ebene der Körpererfindungen haben wir das Pendant des genetischen Selbstreproduktionsmechanismus, der in einer Mischung aus vorgegebener Information und Zufall nach neuen Strukturen suchen darf, was ein einfaches Weiter so an der Wurzel untergräbt. Während sich in Populationen des homo sapiens immer die Tendenz findet, dass privilegierte Teilmengen (viel Geld, viel Macht, ..) versuchen, ihren Zustand abzusichern, abzuschirmen, und damit die Dynamik einer Population untergraben und gefährden, herrschen im Reich der biologischen Informationen und Zellen radikal andere Gesetze: Niemals das Gleiche nochmals! Stillstand ist Untergang! Neues muss her! Kooperationen sind alles! Wer kooperiert, der lebt! Andererseits haben sich im Laufe von Milliarden Jahren immer wieder auch Formen gebildet, die nicht nur Millionen Jahre überleben konnten, sondern viele hundert Millionen Jahre. Aber auch diese Überlebenskünstler sind - wie wir heute sehen können - permanent gefährdet. Die Haie z.B., so erfolgreich sie auch bislang waren, wir als homo sapiens sind dabei, ihnen den endgültigen Garaus zu bereiten. Zerstören können wir sehr gut.

Unsere Träume, unser fantasierendes Denken, sind also nicht das Schlechteste was wir haben. Natürlich, wie immer, in der richtigen Dosierung, im konstruktiven Miteinander mit allen anderen Zuständen. Aus der Vergangenheit wissen wir jedoch, dass nicht wenige Ideen zwar nur durch radikale Andersheit das Licht der Welt erblickt haben, dass ihre Urheber dafür abr oft nicht belohnt wurden; im Gegenteil, sie wurden zum Gespött, waren die Spinner, oder verarmten, oder wurden gar verfolgt und verbrannt. Das Neue ist vielen Menschen nicht geheuer, es macht ihnen Angst. Das Neue wirkt bedrohlich für das Bekannte und Vertraute. Das Neue ruft Widerstände hervor, weil man glaubt, das Leben nur erhalten zu können, wenn man es so bewahrt, wie man es bisher kennengelernt hat. Beides ist wahr. Und im Moment des Entstehens von Neuem weiß keiner so recht, hilft es uns weiter oder führt es uns in den Abgrund. Die Zukunft gibt es nicht zum Nulltarif. Die Zukunft des Lebens hat ihren Preis, nämlich das ganze bisherige Leben. Wer hier an der falschen Stelle falsch spart, wird morgen nichts mehr in der Hand haben, weil das Alte verschwunden ist und etwas Neues nicht entwickelt wurde.

Das Wort Geist

Wer das Wort Geist in den Mund nimmt, gerät unmittelbar in ein schwieriges Gelände. Der deutsche Begriff Geist korrespondiert mit vielen anderen Begriffen, auch in anderen Sprachen; leicht lassen sich historische Bezüge in vergangene Jahrtausende konstruieren, und quer bzw. über viele Kulturen hinweg bieten sich Vergleiche und Variationen an. In diese Situation, nimmt man sie ernst, kann man - würde man all diesen Spuren nachgehen - hunderte Seiten lang aufzählen, und aufzählen und noch weiter aufzählen, und wüsste am Schluss dann möglicherweise doch nicht, was von dem Vielen man dann nun wichtig nehmen sollte.

Ich erlaube mir daher die Freiheit, ausgehend von einer gegenwärtigen Frage selektiv bestimmte Kernpunkte aus der Historie aufzugreifen, die im Lichte dieser Frage als mögliche Antwortbeiträge identifiziert werden können. Wem dies zu einseitig oder gar falsch erscheint, ist herzlich eingeladen, diese Fehleinschätzung in Form konstruktiver Kommentare zu korrigieren.

Der Ausgangspunkt ergibt sich aus der heutigen Wissenschaft und Philosophie, die ja nicht losgelöst von der Vergangenheit ist, sondern weitgehend ein Ergebnis der vorlaufenden Jahrhunderte und Jahrtausende bildet. Auch wenn es nicht immer ausdrücklich gesagt wird, sind die heutigen Denkgestalten geprägt von den vorausgehenden Denkprozessen und geistigen Auseinandersetzungen. Am deutlichsten greifbar erscheint dies in Gestalt der modernen Logik und Mathematik als neuer Sprache des forschenden Geistes, wie auch in der modernen Ingenieurkunst, die mithilfe eben dieser Mathematik und neuer umfassender Materialkenntnisse in der Lage ist, neue Konstruktionen zu denken und dann auch umzusetzen, wie sie zuvor nicht einmal in Träumen möglich waren. Das Fantastische besitzt so gesehen zwar eine gewisse Sprengkraft gegenüber dem Bekannt-Alltäglichen, aber es ist nicht absolut: das Fantastische bezieht seine Inhalte auch aus dem jeweilig Gegebenem und hat von daher einen begrenzten Horizont in das Mögliche. Es ist ein reales Mehr, aber kein absolutes Mehr! So gesehen schiebt ein Erfolg im Neuen zwar weiteres Neues an, aber jede Zeit hat ihre Denkgrenzen, die sich ausweiten oder einengen, je nachdem, wie weit sich der Gesamtzustand entwickelt.

Geist und Struktur

In diesem Neuen der Gegenwart konnten wir gegenüber früher u.a. lernen, dass das biologische Lebendige nach innen sehr wohl eine Struktur besitzt, dass der Körper sich in unterscheidbaren Subsystemen organisiert, dass diese Subsysteme sich weiter unterteilen in Teilbereiche, die letztlich aus den besagten ca. 4 Billionen Zellen bestehen, die in ihrem Zusammenwirken das bilden, was wir unseren Körper nennen. Letztlich konnten wir sogar noch weiter vordringen in die innere Struktur von Zellen, in ihren komplexen Aufbau, die dann schließlich im Konzept des Moleküls enden, das sich in Atome zergliedert, die wiederum …. bislang dringt die moderne Physik immer tiefer hinein die die Struktur hinter den Strukturen; ein absolutes Ende ist noch nicht abzusehen. Als Grundbegriffe haben wir bislang Energie und zu ihr äquivalent die Materie, und als Zusammenhangskonzept wurde die Quantenphysik entwickelt, die eine gewisse Ordnung in dieses Unbekannte hinein projiziert.

Eine Kernbotschaft aus all dem ist jene, dass wir auf allen Ebenen Elemente identifizieren können, die mit anderen in Wechselbeziehung stehen, und dass sich aus diesen Wechselwirkungen der Elemente der einen Ebene Phänomene ergeben, die mehr sind als die jeweiligen einzelnen Elemente für sich erkennen lassen. Wir nennen solche Phänomene emergent, weil uns bislang nichts besseres einfällt. Letztlich fehlt uns weitgehend ein wirkliches Verständnis für diese Phänomenwunder. Und diese emergenten Phänomene sind nicht nur dynamischer Natur als Ereignis, als Prozess, sondern sie sind auch struktureller Natur: Atome bilden unter bestimmten Bedingungen Molekülstrukturen; Moleküle bilden unter bestimmten Bedingungen immer komplexere Anordnungen, die nach oben in Richtung von zunehmender Komplexität keine Grenzen zu kennen scheinen.

Die Struktur der Zelle scheint hier eine Sonderstellung einzunehmen. Eine Zelle kann sich selbst versorgen, sie kann sich auch aus sich heraus vervielfältigen und damit ihr Strukturwissen weiter verteilen. Dieser Prozess beinhaltet zufällige Elemente, so dass das aktuell Strukturwissen bei jeder Weitergabe auch Varianten erzeugen kann, die den Raum der möglichen Strukturen weiter ausnutzen. Ferner kann eine Zelle beliebige Kooperationen mit anderen Zellen eingehen und kann ihr eigenes Verhalten (ihre Funktionalität) aufgrund ihres flexiblen Weitergebens anpassen; in diesem Sinne besitzt jede einzelne Zelle eine gewisse Lernfähigkeit.

Wenn man sich vor Augen führt, in welch vielseitiger Weise Zellen sich bislang organisiert haben (man denke nur an die vier Billionen Zellen unseres Körpers, die in unseren Knochen, in unseren Muskeln, in den verschiedenen Organen, im Gehirn usw. auf atemberaubender Weise Spezialisierungen ausgebildet haben, Arbeitsgemeinschaften bilden, dynamisch auf wechselnde Bedingungen reagieren, usw.), dann müssen wir - wenn wir sehr ehrlich sind -, vor Staunen den Mund offen lassen und zugeben, dass wir von all dem fast noch nichts verstehen. Und wenn man dann weiß, wie z.B. in einem Max-Planck-Institut für Biophysik seit Jahrzehnten mit ungeheurem Aufwand als anerkannter Akteur der weltweiten Forschungsfront noch immer an der Entschlüsselung der Zellstrukturen und ihrer Dynamik gearbeitet wird und man bislang trotz allem noch nicht alles versteht, dann kann man sehr demütig werden, geradezu andächtig vor diesem ungeheuren Wunder der biologischen Natur als Phänomen der Natur.

Mathematisch kann man eine Zelle als ein Input-Output-System betrachten, das seine interne Zustände modifizieren kann. Das aber ist der Grundbegriff für ein lernfähiges System. Dies besagt, dass der Stoff aus dem sich biologische Systeme wie Pflanzen, Tiere und damit auch der homo sapiens, zusammensetzen, schon in seinen Grundlagen aus lernfähigen Systemen bestehen; diese kombinieren sich zu immer komplexeren Strukturen, die alle lernfähig sind, bis dahin, dass wir Tieren, insbesondere dem homo sapiens, neben dem seiner offensichtlichen Fähigkeit der permanenten Strukturveränderung, auch das zuschreiben, was wir Intelligenz, Geist, Klugheit, Vernunft usw. nennen.

Ist Geist überall?

In den vorausgehenden Jahrhunderten und Jahrtausenden war der Blick der Menschen in gewisser Weise gefangen durch die typischen Makrophänomene von Geistigkeit, die wir am homo sapiens beobachten konnten. Ohne eine tiefere Einsicht in die Struktur menschlicher Körper erschienen Fähigkeiten wie Gefühle haben, Denken, Schlussfolgern, Sprechen können, soziale Gemeinschaften ausbilden, zunächst als etwas sehr Besonderes, was nur dem homo sapiens zukommt.

In dem Maße, wie die Menschen dann mit Hilfe der sich entwickelnden modernen empirischen Wissenschaften lernen konnten, wie das beobachtbare Verhalten auf den Eigenschaften eines Körpers beruhen, der die oben skizzierte komplexe Struktur von kooperierenden lernfähigen Untereinheiten besitzt, in dem Maße konnten wir nicht nur das beobachtbare Verhalten auf die ermöglichenden (transzendentalen) Strukturen zurückführen, sondern wir begannen auch zu verstehen, dass alle anderen biologischen Systeme mit dem homo sapiens weitgehend baugleich waren, aus dem gleichen Material bestanden, und dass man, wenn man genau hinschaut, bei diesen anderen biologischen Systeme auch ein Verhalten beobachten kann, das man als Lernen bezeichnen muss.

Zunächst waren es die menschenähnlichen Affen, aber je mehr man forschte und seinen Blick nicht durch Vorurteile von vornherein verdunkelte, umso mehr entdeckte man die direkten Parallelen und begann zu begreifen, dass sich Lernen bis zu einzelnen Zelle zurück verfolgen lässt. Die Gattung homo sapiens stellt insofern nicht das ganz andere dar, sondern ist in das Kontinuum biologischer Formen einzuordnen und nimmt darin eine Stellung ein, die auffällig ist, aber nicht abgrenzend. Heute können und müssen wir feststellen, dass alles Biologische empfindet, wahrnimmt, merkt, erinnert, reagiert, sich ändert. Die Unterschiede liegen in der Komplexität und im Ausbildungsgrad.

Akzeptiert man dies (und das sind die Fakten, die jeder selber nachprüfen und überprüfen kann), dann muss man die Hypothese formulieren, dass all das, was in der Vergangenheit unter den Begriffen Geist, Geistigkeit, Intelligenz, Verstand, Vernunft usw. transportiert wurde, letztlich zu verorten ist in dem beobachtbaren Verhalten biologischer Systeme - speziell dem homo sapiens -, und damit letztlich in den Eigenschaften der biologischen Zellen und deren schier unfassbare Kooperationsfähigkeiten.

Wenn wir also verstehen wollen, was Geist ist, dann müssen wir verstehen, was es mit dieser grundsätzlichen Lernfähigkeit jeder Zelle und dann aller kooperierender Zellen auf sich hat. Denn eine Zelle als lernfähiges Input-Output-System besteht ja wiederum nur aus Millionen von Molekülen. Einem einzelnen Molekül sieht man keine Geistigkeit an, und doch muss man sich klar machen, dass auch ein Molekül mindestens ein Input-Output-System ist, das eine beobachtbare Verhaltensfunktion besitzt, die nicht völlig deterministisch ist, sondern je nach vorausgehenden Ereignissen und Bedingungen sein Verhalten ändern kann! Selbst ein Molekül ist systemtheoretisch daher rudimentär lernfähig! Und dieser grundsätzlichen Lernfähigkeit entkommt man nicht, wie tief man auch in die Struktur der Materie eindringt.

Emergenz als Metapher

Wie aber schon oben angemerkt, ist es nicht das Abtauchen in das immer Kleinere, was unbedingt die interessantesten Phänomene enthüllt, sondern in der Tat sind es die immer komplexeren Kooperationen von Zellen, die immer interessantere Eigenschaften und Verhaltensweisen sichtbar machen, die man den einzelnen Bestandteilen als solchen nicht anzusehen vermag. Im Zusammenspiel, in der Kooperation enthüllen die Zellen aber ein verborgenes Potential, dessen innere Schönheit und Kraft einen Schauer auslösen kann. So gesehen erscheint Geist, das Geistige nicht als etwas Individuell-Isoliertes sondern als ein durchgängiges Phänomen des Biologischen, das wiederum Teil des gesamten Universums ist. Geist ist in dieser Perspektive ein emergentes Phänomen, das sich quer in allem Biologischen zeigt; je nach Komplexität der Struktur weniger und einfacher oder mehr und komplexer, reicher.

Vielleicht ist es kein Zufall, dass sich das Verständnis von Geist in der antiken griechischen Philosophie mit dem Wort pneuma an dem Atmen des Lebendigen orientierte und den Atem, auch als Wind, Luft als Lebensprinzip des ganzen Kosmos verstand. Der Geist durchatmet alles, und wird besonders im (biologisch) Lebendigen sichtbar. Nichts anderes sagt letztlich das moderne Bild der Wissenschaft im 21. Jahrhundert: in allem biologisch Lebendigen wird für uns ein Gestaltungsprinzip sichtbar, das in immer größerer Komplexität immer mehr Geistigkeit erkennen und praktizieren lässt. Diese Geistigkeit ist ein Kontinuum, das sich durch die gesamte Materie zieht. So gesehen erscheint Geist als ein Ko-Kriterium der bekannten Energie-Materie.

Künstlicher Geist

Hat man sich soweit vorgetastet, kann man die zusätzliche Frage aufwerfen, inwieweit man solche, auf biologische lernfähige Substrate aufgebauten, Phänomene des geistigen mit anderen künstlichen Substraten reproduzieren kann? Wie es aussieht, muss man simultan zwei Komponenten berücksichtigen: (i) die Phänomene des Geistes, wie sie sich im beobachtbaren Verhalten zeigen, und (ii) jene künstlichen Systeme, die dieses Verhalten hervorbringen können.

Für das Reden über Verhalten (Punkt (i)), für das Beobachten und Messen des Verhaltens, ist in besonderer Weise die experimentelle Psychologie zuständig. Sie vereint mehr als 100 Jahre an Erfahrung und Theoriebildung unter ihrem Dach. Am Beispiel der Intelligenzmessung (z.B. IQ-Quotient) hat die Psychologie schon vor ungefähr 100 Jahren gezeigt, wie man etwas, was man nicht kennt - die Intelligenz - dennoch mit großer Genauigkeit messen kann, und man auf dieser Basis eine Vielzahl von interessanten Modellen mit großer Vorhersagekraft erarbeiten konnte (eine wirklich Theorie im Sinne einer Wissenschaftstheorie scheint aber bislang noch auszustehen).

Fragt sich, was ist mit Punkt (ii), den künstlichen Systeme, die dieses Verhalten hervorbringen sollen? Von den Anforderungen her ist klar, dass diese potentiellen künstlichen Strukturen lernfähig sein müssen. Nicht klar ist, was mit künstlich gemeint ist.

In der Informatik gibt es im Deutschen den Begriff der Künstlichen Intelligenz (KI), im Englischen den Begriff Artificial Intelligence (AI). Für beide Begriffe findet sich in den aberhunderten Artikeln und Büchern zum Thema nirgendwo eine grundlegende Definition von künstlich. Klar ist nur, dass man für jene Systeme, die man im Kontext von KI bzw. AI bislang überwiegend benutzt hatte, als Baumaterial nichtbiologische Materialien verwendete. Allen gemeinsam war, dass man mathematisch verwertbare Zustandsgrößen realisieren konnte, mit denen sich schließlich ein beobachtbares Verhalten erzeugen lies. In neuester Zeit, mit dem Voranschreiten der Erkenntnisse zu den Fähigkeiten der Zellen und der Technologie der Nutzung biologischer Zellen, findet man auch hybride Konstruktionen, bei denen man nichtbiologische Materialien mit biologischen Materialien verknüpft, sie interagieren lässt, um auf diese Weise noch mehr die grundlegenden Eigenschaften biologischer Substrate ausnutzen zu können. Diese hybriden Strukturen zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich als Ganze nicht selbst reproduzieren können wie die beteiligten biologischen Substrate.

In Ermangelung einer allseits akzeptierten Definition von künstlich werde ich in diesem Beitrag den Standpunkt einnehmen, dass künstliche Systeme der Art künstlicher Geist keinerlei biologische Materialien benutzen. Nur dann ist auch eine klare experimentelle Ausgangslage gegeben, ob man die beobachtbaren Phänomene des Geistigen in diesem Sinne durch einen künstlichen Geist reproduzieren kann.

Roboter. Bild: Gerd Doeben-Henisch

Künstlich und Biologisch - untere Schranke

Von einem biologischen Geist wissen wir, dass er sich zwar im Kontext eines wachsenden und alternden biologischen Körpers zeigt, dass er aber als Eigenschaft dieses Körpers nicht nur in die Ontogenese eingebunden ist, sondern auch in die Phylogenese: die jeweilige Erscheinungsform eines biologischen Geistes ändert sich im Laufe der Populationsgeschichte. Um also die Eigenart des biologischen Geistes im vollen Umfang anzunähern, müsste strenggenommen ein künstlicher Geist auch eine vergleichbare Einbindung in eine Populationsgeschichte künstlicher Systeme besitzen. Will man also die Frage beantworten, ob ein künstlicher Geist möglich ist, dann müsste man ein Äquivalent zur biologischen Populationsgeschichte definieren.

Innerhalb der Informatik gibt es unterschiedliche Ansätze, eine solche Idee umzusetzen. Im Kern laufen diese Ansätze darauf hinaus, dass sich jene künstlichen Strukturen, die im beobachtbaren Verhalten Phänomene des Geistigen zeigen sollen, auch - analog den biologischen Strukturen - entwickeln müssen (einschlägige Schlagworte sind hier z.B. genetische Algorithmen, genetische Programmierung, evolutionäre Programmierung). Da diese Ansätze sehr schnell sehr komplex werden, sehr zeitaufwendig und ressourcenhungrig sind, werden sie bislang nur selten und nur in speziellen Kontexten auf komplexe Strukturen angewendet. Doch es gibt sie.

Zwischenergebnis: die Materialien unseres künstlichen Geistes sind nicht biologische Materialien und jene Strukturen, die letztlich Phänomene des Geistigen zeigen sollen, sind als Strukturen nochmals eingebunden in einen evolutionären Prozess, der - analog zur biologischen Phylogenese - eine Art künstliche Phylogenese des künstlichen Geistes ermöglicht.

Bei biologischen Systemen wissen wir ferner, dass die Selbstreproduktionsfähigkeit als Voraussetzung für eine Phylogenese darauf beruht, dass die elementaren Baustein eines biologischen Systems sowohl eine individuelle Selbstreproduktionsfähigkeit besitzen, dazu aber auch zugleich eine elementare Kooperationsfähigkeit! Biologische Zellen können mit anderen biologischen Zellen kooperieren; es hat zwar ungefähr 2.8 Milliarden Jahre gebraucht, bis die individuellen biologischen Zellen diese Kooperationsfähigkeit zur Bildung von immer größeren Zellverbänden nutzen konnten, aber die Zellen haben es geschafft. Nach 2.8 Milliarden Jahren haben sie ihre Individualität überwunden und sich zu sozialen Gebilden zusammen gefunden (Dass z.B. die ungefähr 100 Milliarden Einzelzellen des menschlichen Gehirns im Millisekundenbereich miteinander so kooperieren, dass sie verschiedene hochkomplexe Aufgaben simultan lösen können, ist ein Phänomen, an dem die moderne Gehirnforschung sicher noch einige Zeit zu knabbern haben wird).

Es ist eine offene Frage, ob unser künstlicher Geist über eine Struktur verfügen muss, deren Bestandteile auch solche eine Selbstreproduktionsfähigkeit und Kooperationsfähigkeit besitzen.

Klar ist allerdings, dass die biologische Phylogenese nur möglich war in einer vorgegebenen Umgebung (unsere Erde), die als primäres Referenzsystem gedient hat für die Leistungsmessung. Das alles überragende Kriterium des Erfolgs für ein biologisches System war und ist die grundlegende Fähigkeit, innerhalb des primären Referenzsystems (bislang die Erde) möglichst so lange leben zu können, bis eine hinreichende Menge von nachfolgenden Systemen erzeugt werden konnte. Ohne solche Nachkommen würde jede Population in Kürze aussterben. Selbstreproduktion spiegelt sich also auf der individuellen Ebene wieder wie auch auf der Populationsebene. Letztlich macht Selbstreproduktion sogar nur im Kontext einer Population Sinn. Aus Sicht einer Population wäre es völlig OK, wenn ganze viele Mitglieder sich nicht reproduzieren, so lange die restlichen Mitglieder genügend Nachkommen sicher stellen können. Die Bereitstellung von Nachkommen und deren Befähigung zu einem immer besseren Weiterleben zeigen sich also als die primäre Aufgabe, der sich alles andere in einer Population unterordnen muss.

Stellt man an einen künstlichen Geist die Forderung, dass er sich im Kontext eines bestimmten Referenzsystems - und hier im Kontext des gleichen Referenzsystems wie jenes für einen biologischen Geist - bewähren muss, und dass er sich analog dem biologischen Geist kontinuierlich verbessern sollte, dann wäre eine Art künstliche Phylogenese also unabdingbar. Analog der biologischen Phylogenese müsste die künstliche Phylogenese über grundlegende Mechanismen verfügen, aufgrund deren sich die reproduzierten Strukturen ändern können.

Bleibt jetzt die Frage, wo eine künstliche Phylogenese beginnen sollte? Gibt es zellähnliche künstliche Grundelemente, auf denen alle Prozesse aufsetzen, oder müsste man ein Analogon zur chemischen Evolution dazu nehmen, um den Weg zur biologischen Zelle nachzuempfinden?

In den empirischen Wissenschaften ist der Übergang von bloßen Atomen und einfachen Molekülen bis zu den hochkomplexen Strukturen der biologischen Zellen bis heute mehr offen als geklärt. Eine rein auf Kombinatorik und Zufall setzende Bildungshypothese scheidet rein mathematisch aus. Man benötigt zusätzliche empirisch reproduzierbare Wirkprinzipien, um die Entstehung solch komplexer Strukturen wie der biologischen Zelle in vergleichbar kurzer Zeit von einigen wenigen hundert Millionen Jahren plausibel machen zu können. Der naturwissenschaftliche Theoriebaukasten versagt bislang. Wer will, der kann dies als Hinweis darauf deuten, dass wir möglicherweise noch nicht alle wichtigen Eigenschaften der Materie genügend verstanden haben.

Aufgrund dieser unbefriedigenden Erklärungssituation beschließen wir hier pragmatisch, die Vorgeschichte zur biologischen Zelle aus dem Reproduktionsexperiment zu Phänomenen des Geistigen auszuklammern, wohl wissend, dass dadurch möglicherweise entscheidende Faktoren unberücksichtigt bleiben. Für unseren künstlichen Geist bedeutet dies, dass wir irgendwelche Grundelemente zum Ausgangspunkt nehmen, mit denen wir dann einen Reproduktionsprozess organisieren, der die Entstehung immer neuer und immer - hoffentlich - besserer künstlicher Systeme des Geistes erlaubt.

Grundbausteine eines künstlichen Geistes

Während sich die Trägerstruktur des biologischen Geistes ganz eindeutig auf die biologische Zelle als universellen Elementarbaustein zurückführen lässt, ist es bislang offen, ob und wie sich in der Trägerstruktur eines künstlichen Geistes auch solche universellen Grundbausteine finden sollten oder nicht. Klar ist nur, dass sich die Trägerstruktur eines künstlichen Geistes im Rahmen einer künstlichen Phylogenese entwickeln können muss und dass sie sich in diesem Sinne auch reproduzieren können muss.

Rein mathematisch ist es egal, wie die Verhaltensfunktion eines künstlichen Geistes im Detail realisiert wird, so lange das beobachtbare Verhalten in Bezug auf die Phänomene des Geistigen sich von dem beobachtbaren Verhalten eines Menschen - der natürlich gewisse allgemein akzeptierte Kriterien erfüllt - sich nicht unterscheidet. Dennoch kann es eine interessante Überlegung sein, ob es im Künstlichen ein Analogon zur biologischen Zelle geben könnte.

Im Bereich der biologischen Strukturen können wir die folgende grundlegende Unterscheidung beobachten: (i) es gibt Strukturen, die als Kette von Befehlen (:= biologischer Kode) fungieren können, sowie (ii) Strukturen, die biologischen Kode unter Einbeziehung von anderen biologischen Strukturen (Strukturbausteine) in andere Strukturen transformieren können. Die Übersetzung von biologischem Kode in andere Strukturen ist mathematisch eine Funktion: einem abstrakten Kode (Ausgangsmenge) werden konkrete biologische Strukturen (Zielmenge) zugeordnet.

Die Kette von Befehlen wird im Falle der biologischen Zelle als Genom bezeichnet, das alle Steuerungsinformationen enthält, die die Struktur der Zelle benötigt, um sich zu organisieren bzw. um sich zu reproduzieren.

Im Bereich der Mathematik gibt es den Unterbereich der theoretischen Informatik, in dem solche Funktionen untersucht werden, die man als Automat bezeichnet. Ein Automat ist eine Struktur, die einen Input (Ausgangsmenge) in einen Output (Zielmenge) anhand vorgegebener Befehlssequenzen (Kode, Maschinentafel, Programm, …) transformiert. Wendet man diesen Begriff des Automaten probeweise auf eine biologische Zelle, speziell auch auf den Reproduktionsmechanismus, an, dann ist die strukturelle Entsprechung (Isomorphie) zwischen dem Reproduktionsmechanismus einer biologischen Zelle und einem mathematischen Automaten verblüffend. Man könnte sehr detailliert aufzeigen, wie der moderne mathematische Begriff des Automaten sich vollständig schon im biologischen Reproduktionsmechanismus vorgebildet vorfindet.

Würde man also den Funktionstyp Automat für einen künstlichen Geist als Grundbaustein benutzen (was man nicht muss, aber kann), dann würde dies den - vergleichsweise einfachen - Aufweis erlauben, dass alle Prozesse auf der Ebene der biologischen Zelle sich prinzipiell in eine Struktur von Automaten übersetzen lassen. Offen wäre nur die Frage, ob man für einen künstlichen Geist unbedingt alle Eigenschaften einer biologischen Zelle reproduzieren muss, oder nur einige? Dies betrifft solche Eigenschaften einer biologischen Zelle, die diese als reale Zelle zum Funktionieren zwar benötigt (Stützelemente, Abgrenzung, Transport, Energieerhaltung usw.), die aber im Falle eines künstlichen Geistes u.U. wegfallen könnten.

Würde man sich für Automaten als Grundelemente der mathematischen Struktur eines künstlichen Geistes entscheiden, dann müsste man im weiteren Verlauf dann nur noch aufzeigen, wie sich unter Voraussetzung von Automaten als Grundbausteine sowohl die individuelle Selbstreproduktion als auch die Reproduktion einer Population einschließlich der geforderten potentiellen Verbesserung relativ zu einem vorgegebenen umgebenden Referenzsystem reproduzieren lässt. Aus mathematischer Sicht ist die grundlegende Selbstreproduktion eines einzelnen Systems wie auch einer Population kein Problem. Die Probleme beginnen erst dort, wo es um die Konkretheit einer Umsetzung in der realen Welt geht.

Körperlichkeit - embodied

Um das mathematische Konzept von künstlichen Strukturen bestehend aus Automaten realisieren zu können, benötigt man reale Maschinen, die die mathematische Beschreibung in reale Ereignisse übersetzen können, und die dann zusätzlich die übersetzen Strukturen in einer realen Welt real agieren lassen. Diese realen Übersetzungsmaschinen bestehen aus irgendwelchen Materialien, die letztlich wiederum das Konzept eines Automaten realisieren; solche realen Automaten nennen wir normalerweise Computer. Diese Computer können, wie wir heute erleben, ganz verschiedene Formen annehmen. Menschenähnliche Roboter sind eine spezielle Variante neben vielen anderen Formen von Robotern, Autos, Produktionsstraßen, ganzen Fabriken oder einfach Smartphones, Multimediaanlagen, Wachmaschinen, Haussteuerungen, usw.

Für ein Experiment mit einem künstlichen Geist stellt sich die Frage, wie konkret muss dieser in die reale Welt der Menschen eingebettet sein? Muss er tatsächlich, wie der geniale Alan Matthew Turing schon 1950 spekulierte, so aufwachsen wie alle Kinder, frei herumlaufend, spielend, mit wechselnden Interaktionen zu seiner Umgebung, zu den Personen seiner Umgebung? Dazu würde er dann eine minimale Körperlichkeit benötigen um sensorisch wahrnehmen und um sich motorisch bewegen zu können. Braucht es das?

Bei den ersten Versuchen der künstlichen Intelligenzforschung, Computern Sprachverstehen so beizubringen, dass sie in der Lage wären, natürliche Dialoge zu führen und Übersetzungen zu erstellen, zeigte sich sehr schnell, dass die sprachlichen Ausdrücke als Zeichen beliebige Verknüpfungen zwischen sprachlichen Ausdrücken (gesprochen, geschrieben, gestikuliert, …) und beliebigen anderen Dingen implizieren. Diese treten im Kontext des Handelns auf, in Situationen mit Elementen, die als solche unverbundenen sind, die aber in einer Situation durch Gleichzeitigkeit kurzfristig in einer zeitlichen Beziehung vorkommen, durch die indirekt die intendierte Bedeutungsbeziehung kodiert wird. Es gehört zur Fähigkeit der Sprachlerner (z.B. Kinder), dass sie diese potentielle Beziehung in solch einer Situation versuchsweise erkennen und intern abspeichern, um dann aufgrund dieser internen Speicherung in nachfolgenden ähnlichen Situationen diese gespeicherte hypothetische Beziehung zu testen, indem man sich so verhält, als ob diese Beziehung stimmt. Gibt es keinen direkten Widerspruch, dann ist diese Hypothese gestärkt, andernfalls geschwächt.

Philosophisch war dieses spielerische Konzept von Sprache von Ludwig Wittgenstein in seinen Philosophischen Untersuchungen vorbereitet worden; in der Künstlichen Intelligenzforschung fand es erst ab den 1980iger Jahren Beachtung. Bislang ist diese Forschung noch nicht wirklich weit gediehen. Man kann aus diesen Experimenten aber herauslesen, dass am Beispiel des Lernens und Sprechens soweit ein Bezug zur realen Welt hergestellt werden muss, soweit dieser Weltbezug in der verwendeten Sprache eine Rolle spielt. Je mehr Weltbezug man für einen künstlichen Geist fordert, umso mehr Weltbezug muss man ihm für seine Lernprozesse ermöglichen.

Man kann erahnen, was dies bedeutet. Die Annäherung eines künstlichen Geistes an die Inhalte eines biologischen Geistes verlangt eine Angleichung der Schnittstellen zur realen Welt wie auch der zugehörigen Interaktionsmöglichkeiten. Und man beginnt zu ahnen, wo hier mögliche Fallstricke, wenn nicht gar unüberwindliche Hindernisse, lauern.

Ein biologischer Geist mit einem biologischen Körper ist buchstäblich eingehüllt in eine Fülle von Körpererfahrungen, z.B. auch im Intimleben, die für seine Selbsterfahrung wichtig sind. Ein künstlicher Geist könnte hier nicht mitreden, solange er keinen Zugang zu solch einer Körpererfahrung hätte. Aktuell ist es schwer vorstellbar, wie man einem künstlichen Geist mit einem künstlichen Körper die Erfahrung der biologischen Körperlichkeit samt ihren Interaktionen mit der realen Umgebung ermöglichen soll.

Künstlicher (transhumaner) Geist?

Solange die vorausgehende Frage nach einer hinreichenden Körperlichkeit für einen künstlichen Geist nicht beantwortet werden kann, ist offen, ob ein künstlicher Geist in den Inhalten seiner Geistigkeit einem biologischen Geist hinreichend ähnlich werden kann.

Dies auf den ersten Blick negative Ergebnis enthält aber einen versteckten Hinweis auf etwas ganz Anderes, Neues, möglicherweise sehr Spannendes.

Das Prinzip eines künstlichen Geistes stößt zwar durch die Begrenzungen seiner Körperlichkeit an gewisse Grenzen bei dem Versuch einer vollen Menschenähnlichkeit, das bisherige Konzept lässt aber erahnen, dass dieser künstliche Geist möglicherweise eine neue, über die biologische Geistigkeit hinausweisende transhumane Geistigkeit realisieren kann.

In vielen Science-Fiction-Romanen und -Filmen wird die gedankliche Möglichkeit fantasievoll ausgelebt mit bizarren und bizarrsten Varianten. Auffällig ist, das diese Varianten meistens eher bedrohlich erscheinen, die Roboter als Feinde der Menschen, der Kampf er Maschinen gegen die Menschen, als Machtpotential für eine Weltherrschaft. In der realen Wissenschaft findet sich ein Pendant dazu in der Singularity-Hypothese und in der Weltanschauung des Transhumanismus: Der Mensch ist am Ende, die Maschinen werden alsbald übernehmen.

Ob dies tatsächlich so menschenfeindlich kommen wird, muss man sehen. Aus vielerlei Gründen - das wäre ein weiterer Artikel - würde ich vermuten, dass es nicht so kommen wird. Bei der Untersuchung der Möglichkeiten eines künstlichen Geistes stehen wir immer noch so ziemlich am Anfang. Was vielen kaum auffällt: wir sind auch bei der Erforschung des biologischen Geistes noch nicht allzu weit, ebenso sind die wichtigsten Fragen bei der Erforschung der realen Welt keinesfalls gelöst.

Anstatt von vornherein eine Kluft aufzubauen zwischen biologischem und künstlichem Geist sollten wir vielleicht eher unsere Kreativität in die Frage investieren, wie sich in der Zukunft der biologische und der künstliche Geist noch weiter symbiotisch ergänzen können. Die anstehenden Überlebensaufgaben der Population homo sapiens im Kontext des ganzen Lebens sind so groß, dass wir jede Form von Unterstützung im Verstehen unserer selbst, unserer gemeinsamen Welt, unseres Universums dringend benötigen. Wie können wir die offensichtlichen Kommunikationsbarrieren in unserem Alltag in Zukunft besser überwinden, besser meistern, damit aus dem Nebeneinander der vielen biologischen Geister graduell ein immer stärkeres Miteinander werden kann, nicht uniform, kommandiert, erzwungen, passiv, sondern vielfältig, selbständig, motiviert, aktiv, freiwillig.

Emerging Mind Project

Fast traue ich mich es nicht, es hier aufzuschreiben, aber ich bekenne mich dazu, dass ich zusammen mit dem INM Frankfurt und KollegenInnen aus anderen Universitäten und Forschungseinrichtungen und mit allen, die Interesse haben, ab November 2015 ein öffentliches Forschungsexperiment unter dem Label Emerging Mind starte, bei dem es um eine gemeinsame Erforschung eines künstlichen Geistes geht, der mit biologischen Geistern eine Symbiose versucht. Aktuell verfügen wir über 0€ Forschungsgelder, aber einen offenen Geist.

PS: Ja, es ist richtig, in den letzten Jahren fokussierte sich bei mir die Aufmerksamkeit auf den künstlichen Geist. Aber, wie die Lektüre des vorausgehenden Textes nahe legen kann, ist das Thema biologischer Geist damit ja in keiner Weise erledigt, im Gegenteil. Je mehr uns bei der Untersuchung der Möglichkeiten eines künstlichen Geistes klar wird, wie ein solcher künstlicher Geist funktionieren könnte, treten zugleich auch die Besonderheiten des biologischen Geistes immer mehr hervor.

Von daher drängt sich jetzt der Gedanke (neu!) auf, das Emerging-Mind-Projekt als Parallelprojekt zu verstehen: (i) im einen Track wird geforscht, welche Formen von künstlichem Geist möglich sind und wie Sie uns biologischen Geistern helfen können, unser Lebensaufgabe besser zu gestalten, (ii) im anderen Track wird parallel alles zusammen getragen was wir vom biologischen Geist in Erfahrung bringen können. Gemeinsam ist beiden, dass sie evolvierend sind und emergent. Dies impliziert im Phänomen selbst eine Entgrenzung sowohl in die Bestandteile wie auch in die möglichen Komplexitäten. Man kann hier auch von einer realen endlichen Unendlichkeit sprechen, wofür Philosophen auch schon mal den Begriff der Transzendenz bemüht haben.

Prof. Dr.phil Dipl.teol Gerd Doeben-Henisch

Philosoph - Informatiker - Künstler - Theologe

cagent@cognitiveagent.org

Traum vom künstlichen Geist 11//12