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Europäischer Gerichtshof urteilt zu den Grenzen von Boulevardjournalismus

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2003 begab sich ein psychisch kranker Mann in Lausanne auf eine Amokfahrt, bei der er drei Menschen tötete und acht verletzte, bevor er selbst mit seinem Auto von einer Brücke stürzte, jedoch überlebte. Der Fall schlug in der französischen Schweiz hohe Wellen. Eine Kopie der Ermittlungsakte, die zum Zweck einer Zivilklage unter Berechtigten kursierte, fand ihren Weg zu einem Enthüllungsjournalisten. Dieser verwertete in einer Illustrierten die enthaltenen Verhörprotokolle und Fotos und nannte den vollen Namen des Täters. Daraufhin wurde er wegen Verstoß gegen das Verbot der Veröffentlichung amtlicher geheimer Verhandlungen nach Art. 293 Schweizer Strafgesetzbuch verurteilt.

Wie in etlichen anderen Mitgliedsstaaten auch existiert in Deutschland mit § 353d Nr. 3 StGB eine ähnliche Vorschrift. Mit diesem Verbot soll die eine Beeinflussung des Strafverfahrens durch die Presse verhindert werden. Neben der Funktionsfähigeit der Justiz werden auch die Persönlichkeitsrechte von Angeschuldigten geschützt.

Der Schweizer Journalist sah durch seine Verurteilung die Pressefreiheit verletzt und zog vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßbourg. So schützt Art. 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention das Recht auf Presse- und Meinungsfreiheit. In Abs. 2 der Vorschrift werden jedoch Grenzen aufgezeigt:

"Da die Ausübung dieser Freiheiten Pflichten und Verantwortung mit sich bringt, kann sie bestimmten, vom Gesetz vorgesehenen Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, wie sie vom Gesetz vorgeschrieben und in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen Sicherheit, der territorialen Unversehrtheit oder der öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung, des Schutzes der Gesundheit und der Moral, des Schutzes des guten Rufes oder der Rechte anderer, um die Verbreitung von vertraulichen Nachrichten zu verhindern oder das Ansehen und die Unparteilichkeit der Rechtsprechung zu gewährleisten, unentbehrlich sind."

Die damals befasste Kammer erkannte 2014 eine Verletzung von Art. 10 EMRK, da der Journalist legitime Interessen verfolgt habe, die den Bruch des Gesetzes gerechtfertigt hätten. So hätten etliche Medien den Fall aufgegriffen und über die Arbeitsweise der Strafjustiz berichtet. Zudem habe der Angeklagte sich nicht gegen Berichterstattung gewehrt.

Gestern nun hob die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte das Urteil auf. Bei der Abwägung zwischen Pressefreiheit und Persönlichkeitsrechten kam die Große Kammer zu einer anderen Entscheidung. Zwar betonte das Gericht durchaus die Rolle der Pressefreiheit in einer demokratischen Gesellschaft. Jedoch habe im vorliegenden Fall ein qualifiziertes öffentliches Interesse an der Publikation amtlicher geheimer Dokumente nicht bestanden, da die Behörden über den Fall regelmäßig informiert hätten und die Publikation auch erst Monate nach dem Unfall erschienen sei. Darauf, dass sich der Betroffene gar nicht wehrte, kam es nicht an. Verletzt worden sei das in Art. 6 Abs. 1 EMRK geschützte Recht auf einen fairen Prozess, was eine unvoreingenommene Richterbank und die Unschuldsvermutung impliziere, sowie das öffentliche Interesse an einer effektiven Strafjustiz.

In seiner Wertung entspricht die Entscheidung der vom deutschen Bundesgerichtshof und vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Lex Wallraff. So besteht an rechtswidrig beschaffter Information dann ein den Rechtsbruch überwiegendes Informationsinteresse der Öffentlichkeit, wenn nicht anders etwa ein erheblicher gesellschaftlicher Missstand aufgedeckt werden kann. Eine bloße Befriedigung von Neugier und Sensationslust genügt solchen Anforderungen nicht.