Abstürzende Eilbauten

Lerchenfelderstraße, Wien. Bild: Archiv Appleton

Eine Stadt verkrümelt sich. Wiens morsche Bau-Substanz wartet auf den Supergau

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Einstürzende Altbauten - Teil 2

Ich bin im Zweiten Teil meines Artikels angekommen. Höchste Zeit, die Finger in den feuchten Mörtel zu schieben. Noch vor wenigen Wochen, im Juli und August dieses Jahres, als gleich mehrere Teile von Gebäuden und sogar ein ganzes Haus in Wien kollabierten, sah es so aus, als ob die Stadt demnächst Opfer eines unaufhaltsamen Domino-Effekts sein würde. Obwohl weg-knickende Gebäude in Wien durchaus Tradition haben.

Diesmal reagierte die Wiener Bau-Polizei jedoch spontan, und rief eine "Aktion Scharf" ins Leben. Ab sofort würde es in Wien Kontrollen geben, hieß es, und sie würden scharf sein. Für Pfusch am Bau gibt es aber auch unter "scharfer" Prüfung meist nur milde Strafen. Mehr oder weniger in Form eines Klapses aufs Handgelenk. (Baupolizeiliche Verwarnung, zur Bewährung ausgesetzte Geldstrafen von 150 Euro.)

Dramatisch sehen die angedrohten Strafen erst dann aus, wenn an einer Baustelle "Schwarzarbeiter" entdeckt werden, wie im Oktober letzten Jahres. Damals wurden gleich 29 Illegale erwischt, die zu einem Stundenlohn von 5 Euro zehn Stunden täglich an einem Bürohaus-Projekt in der Millennium City arbeiteten.

Da wären "2 Mio Strafe möglich", hieß es. Wie die Geschichte weitergeht, erfährt man selten. Vermutlich passiert gar nichts, weswegen es eben auch nichts zu berichten gibt. Sicher ist nur, dass die Schwarzarbeiter fürs Erste ihren Job los sind. Oder abgeschoben werden.

Aber sehen wir uns doch einmal die einstürzenden Gebäude selber an:

Je nach Bezirk bzw. Gebiet sind die Gebäude der Gründerzeit in unterschiedlicher Qualität errichtet. D.h. in Bezirken, in denen sehr rasch Spekulationsobjekte errichtet wurden, ist z. B. auch die Qualität des Mörtels schlechter als bei Gebäuden des Großbürgertums (klar, weil gespart wurde). Die Mörtelqualität nimmt gerade bei Kalkzementmörtel mit den Jahren ab (besonders wenn man kaum Zement verwendet).

Ich zitiere hier einen befreundeten Architekten, der mir über seine Erfahrungen mit Altbausanierungen bzw. Umbauten in Wien berichtet:

Bei einem unlängst von mir vorgenommenen Umbau im [...-ten] Bezirk habe ich festgestellt, dass der Ziegelmörtel eigentlich nur noch aus reinem Sand besteht. Dieser hat sich zwar etwas verfestigt, greife ich aber in die Substanz ein, indem ich ein Dachgeschoss drauf setze oder in unmittelbarer Nähe Baugruben aushebe, störe ich das im Laufe der Zeit eingependelte Gleichgewicht und die Sache kann auseinander brechen. In Wien gibt es seit einiger Zeit einen Passus in der Bauordnung, nach dem ich die Gesamtstruktur eines Gebäudes überprüfen bzw. verstärken muss, wenn man z.B. aufstocken will oder das Dachgeschoss ausbaut (d.h. die Last wird über neue Stahlrahmen nach unten abgetragen, also in jedem Geschoss). Diese Vorschrift hängt mit der Erdbebennorm zusammen und wurde aufgrund einiger eingestürzter Häuser beschlossen.

Besonders schlechte Bausubstanzen finden sich in allen Bezirken, die schnell für irgendeinen Zweck aus dem Boden gestampft wurden. Wie z. B. im 10. Bezirk, wo billige Mietskasernen für die böhmischen Ziegelarbeiter ("Ziegelbehm") benötigt wurden. Ironischerweise sind diese Gebäude, aufgrund ihrer schlechten Qualität auch zu den "Ausländerwohnungen" der Gastarbeiter Ende des 20.JH. geworden. Somit erklärt sich auch die Situierung der sogenannten "Ausländerbezirke".

Wahr. Der 10te Bezirk in Wien hat etwas von der Tristesse von - Kreuzberg, anno 85. Aber die miesen Bauten in Wien, die feuchten Wände, den Schimmel in jeder Ecke, findet man überall. Ich selber habe einen Sommer lang im 11ten Bezirk gegenüber von den berühmten Gasometern gewohnt - großen, runden Ziegelbauten, die kurz darauf zu Bienenstöcken voller Luxusapartments umgebaut wurden - und es war eine Qual. Ich wohnte in einem Sechzigerjahre-Neubau, wo ich auch bei weit geöffnetem Fenster immer den beißenden Gestank der vor sich hinschimmelnden Wand in der Nase hatte. Man konnte weder arbeiten bei Tag noch schlafen bei Nacht, und ich bin auch so rasch wie möglich wieder ausgezogen.

Ein Bekannter von mir musste sich mit der gleichen Situation vier Jahre lang herum schlagen. Im 8ten Bezirk.

Die Medien", erklärt er, "brachten ja früher viele Berichte über den Schimmel in den Wiener Gemeindewohnungen (der sich oft durch ganze Wohnblöcke hindurch ausgebreitet hat), doch die Beamten unter dem damaligen Wohnbaustadtrat Faymann (das ist jetzt der Bundeskanzler der Republik Österreich) sprachen auf Faymanns Order immer nur von falschem Wohnverhalten' der einzelnen Mieter. Vier Jahre lang habe ich in einer Gemeindewohnung in der Josefstadt gelebt [Anmerkung T.A.: Innenstadt, eigentlich beste Wohngegend]. Die ganze Wohnung war feucht, und überall war Schimmel. Immer wieder wandte ich mich an den Magistrat um Hilfe. Jedes mal bekam ich zu hören, dass ich besser lüften müsse. Ich recherchierte und kam dahinter, dass die dünnen Schlackenwände dieser Gemeindewohnungen oft zur Gänze so verfault sind, dass nur mehr der Abriss vieler Häuser die einzige Alternative gewesen wäre.

Und prompt stürzten auch während der Generalsanierung im Karl-Marx-Hof Plafonds [d.h., die Zimmerdecken] von Wohnungen ein. Und vor gar nicht so langer Zeit musste in Wien erstmals ein Gemeindebau wegen baulicher Mängel abgerissen werden. Die Anlage in der Breitenfurter Straße Ecke Rodauner Straße in Liesing war akut einsturzgefährdet. Der verwendete Beton, der bei der Errichtung zwischen 1947 und 1951 verwendet wurde, entspricht bei weitem nicht den vorgeschriebenen Standards.

So eine Zimmerdecke hat es übrigens durchaus in sich: solider Verputz mit einer Stärke von ca. 5cm. Als ich im 8ten Bezirk wohnte, verließ die Hausmeistersfamilie einmal für fünf Minuten die Wohnküche, und als sie alle wiederkamen, war die gesamte Zimmerdecke auf den Mittagstisch geknallt. Den kleinen Sohn der Familie hätte diese geballte Ladung mit Sicherheit ins Jenseits befördert, die Erwachsenen hätten sich Gehirnerschütterung, Schädelbruch oder einen Krankenhausaufenthalt einfangen können.

Dieser Schimmel, die kriechende Feuchtigkeit im Gemäuer, die heimlich still und leise die ganze Stadt Wien zerfrisst, hat dabei eine dreifache Dimension, von denen eine natürlich die Politik ist. Zunächst einmal muss man sich jedoch mit einer schleichende Ursache beschäftigen, die sich um das Zauberwort Bassena rankt, und um die Kanalisation.

Das Zauberwort "Bassena" oder "Wasser in der Wand"

Bis um die vorige Jahrhundertwende - also jene kulturelle Hochblüte, die uns Freuds Traumdeutung, sowie die Künstler Klimt und Schiele bescherte und die in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften abgefeiert wurde - war Wien eine Stadt ohne fließendes Wasser in den Wohnungen. Zwar besaß das Wiener Wasser edelste Trinkwasserqualität - auch heute noch gilt ein Glas "Gemeinde Wien" als jedem Mineralwasser ebenbürtig - aber es gab nur eine Stelle auf jedem Stockwerk, wo das Wasser gezapft werden konnte - die Bassena. Ein Bassin, oder Waschbecken, mit einem Wasserhahn. Hier standen die Wohnparteien mit ihren Eimern, Koch-und Nachttöpfen herum und warteten darauf, dass sie an die Reihe kämen.

Wiener Fassaden - Eine Märchenstadt für Touristen? Bild: Archiv Appleton

Bis zu dieser besagten Jahrhundertwende gab es in den Wiener Häusern auch keine Klos. Es gab eine Art Hochsitz, der in irgendeinem Zimmer aufgestellt wurde, und darunter befand sich der zusehends voller werdende Nachttopf. Bei dunkler Nacht wurde dann das Dienstmädchen oder der Fuhrknecht der hohen Herrschaften gebeten, drei Stockwerke abwärts zu gehen und den vollen Topf am Straßenrand auszuschütten.

Diese Sitte hat sich - als Äquivalent zur Hour of the Wolf - als "Stunde des Hundes" in der Stadt erhalten. Gegen zehn Uhr nachts verlassen die Wiener im Sommer das Haus, im Winter schon gegen acht Uhr, um die Straßen massiv mit dem Kot ihrer mitlaufenden Vierbeiner einzudecken. Neben dem Gassi-Führen gilt dieses Ritual auch als Kennenlern- und flüchtiger-Kopulations-Ritus der die Hunde begleitenden Menschen. Dunkle Hauseingänge und verschließbare Kolonia-Räume bieten Gelegenheit genug zum schnellen Genuss, auch wenn der Duft zuweilen etwas streng sein mag.

Für die Notdurft der Menschen wurde das Plumpsklo am Gang, vorerst noch ohne Wasserspülung, erst um die Zeit des Ersten Weltkriegs eingeführt. Bis in die Siebzigerjahre des 20ten Jahrhunderts war die Konstellation Bassena plus Plumpsklo - bzw. die Verwendung des Nachttopfs in der Wohnung, der dann irgendwann ins Klo entleert wurde - noch allgemein üblich in Wien. Erst in den 90er Jahren hatte es sich eingebürgert, dass jede Wiener Wohnung eine eigene Toilette mit Wasserspülung und wenigstens eine Nasszelle mit Sitzwanne haben müsse.

Das morsche Gemäuer, dass durch diese unzähligen Eingriffe aufgelockert und durch den in Wien handelsüblichen "Pfusch" - schlechte Handwerksarbeit durch "billige" Amateure - und somit durch fortlaufendes Geträufel und Getropfe zusätzlich aufgelöst und beschädigt wurde, konnte gar nicht anders, als sich zu zersetzen.

In einer Wohnung, die ich im 6ten Bezirk bewohnte, hatte die Hauptmieterin eine Batterie von Schlössern an der Haustür anbringen lassen, um sich gegen unerwünschte Eindringlinge zu schützen. Die Handwerker meinten, die Tür sei nun sicher. Wer in die Wohnung eindringen wolle, müsse einfach nur die Mauer eintreten.

Die Bassena-Wohnungen, ohne eigenes Klo und eigenes Bad, sind bis heute nicht ganz verschwunden. Ein Freund erlebte es noch vor wenigen Jahren, dass ein Mieter auf dem gleichen Stock in einer Wohnung hauste, bei der die Vermieter aus Platzersparnisgründen eine hochklappbare Badewanne, ich glaube in der Küche, eingebaut hatten. Wenn der Mann dann seine Badewanne heruntergelassen, vollgefüllt, und ein Bad genommen hatte, musste er versuchen, das Wasser wieder loszuwerden. Es rann mit schöner Regelmäßigkeit aus der Wohnung über den Gang - durch das Treppenhaus - und in die Wände der Mitbewohner unter ihm. Der Geruch von feuchtem Kalk und Schimmel stand wie eine lebende Präsenz im ganzen Gebäude.

Diese Dinge sind keineswegs die Ausnahme. Ich habe es selber mehrfach in einer Wohnung im 8ten Bezirk erlebt, dass es nachts im Klo regnete - Wasserrohrbruch in der Wohnung über mir - oder dass sich eine Badewanne zum soundsovielten Mal durch ein defektes Rohr in die Wand entleerte, bis der Verputz endlich ins gemeinsame Bett von mir und meiner Partnerin kippte. Wir durften von Februar bis September im Wohnzimmer kampieren, während die nasse Wand versuchte, auszutrocknen.

Die Wiener Handwerker, mit solchen Situationen bereits vertraut, versiegelten die Wand schließlich im September - das heißt sie leiteten den Schimmel ins Wohnungsinnere, wo das Badezimmer in kompletter Dunkelheit, nur mit einem dünnen Entlüftungskanal mit der Außenwelt verbunden - nun seinerseits vor sich hingammelte. Das ganze unter dem Titel "innerstädtische Luxuswohnung." Ich habe auch in einer noch wesentlich luxuriöseren Innenstadtwohnung gelebt, im 4ten Bezirk, wo Klo, Bad und Küche jeweils immer ins Treppenhaus entlüftet wurden. Auch hier abblätternde Wände, innerlich morsch und verrottet.

Ich glaube, man kann guten Gewissens sagen, dass die gesamte Wiener Bausubstanz marode ist, und man sieht es deutlich, wenn man einmal einer Stelle begegnet, an der die Fassade oder der Verputz abgebröckelt sind. Wild durcheinander und übereinander gelagerte Ziegel- und Steinmengen, die einzig durch den Zufall der jahrzehntelangen Aufeinanderhäufung zusammengehalten werden.

Und wie könnte es anders sein? Diese Gebäude wurden zu einer Zeit errichtet, als es in Wien nicht einmal zehn Prozent des gegenwärtigen Verkehrsaufkommens gab. Heute donnert schwerer Güterverkehr und ein ständiges Gebrumm und Getöse von öffentlichen und privaten Fahrzeugen über diese Straßen, die jede Bewegung wie ein feines Sirren bis ins dritte Hinterhaus weiterleiten. Als Teetrinker betrachtet man die permanente Wellenbewegung auf der Tasse wie die Ankündigung des heran nahenden Tyrannosaurus Rex in "Jurassic Park."

Unterirdisch geht es so noch viel grauslicher weiter. Wohl gibt es touristisch aufbereitete Trips in die Unterwelt, man kann die Kanalisation betrachten und "auf den Spuren des Dritten Mannes" wandeln oder "Wien von unten" erkunden. Nur den nächsten Keller eines Wohnhauses in der Innenstadt sollte man möglichst nicht betreten. Die meisten Menschen denken bei "Keller" gewöhnlich an einen Ort wo man etwas "aufbewahren" könnte - Kartoffeln, Brennholz, Konservendosen, Weckgläser mit Eingemachtem, alte Matratzen, Spielzeug, Fahrräder und so fort. Wer einen Wiener Keller betritt, weiß sofort, dass man HIER besser gar nichts aufheben sollte. Das morsche Gemäuer, wie aus einem Hammer-Horror-Film. Und wer dumm genug war, vor einem Jahr hier irgendetwas abzustellen, ein eisernes Bett mit Matratze, hat nun Krümelrost in Händen, und die feucht-klamme Matratze verdreckt von herab bröselndem Gemäuer und eingesaut von Ratten oder Mäusen.

Die Hausmeister lüften den Keller meist den ganzen Sommer hindurch und die ganzen Winter hindurch nicht - also genau falsch herum.

Hinzu kommen Spätschäden aus den Bombardements vom Zweiten Weltkrieg, die nie ausreichenden Mittel zur Reparatur der Schäden, die Tradition des Pfuschs, also die enorme Schattenwirtschaft, die jährlich rund 20 Milliarden Euro am Fiskus vorbei schleppt. Der Schimmel ist hier eine Art fleischgewordene Metapher des fortschreitenden Zerfallsprozesses, eine Karies des Stadtbildes.

Die Karies des Stadtbildes: Morsche Fassaden

Im ersten Teil dieses Artikels verglich ich Wien mit einem alten Speichenrad. Die Nabe ist der zentrale Stephansdom, und das Rad sind die ehemaligen Stadtwälle, die heutigen Verkehrs-Karusselle, Ring und Gürtel. Dazwischen verlaufen die Straßen als Radspeichen, beispielsweise die Lerchenfelderstraße, die das Parlamentsgebäude am Ring in direkter Linie mit den Puffs am Gürtel verbindet.

Betrachtet man die Straße mit dem Blick des Touristen, sieht man eine Art Traumbild aus Schönen Fassaden, eine Stadt wie aus einem Film, unvergleichbar mit Duisburg oder Bielefeld.

Diese schmucken Fassaden, zumeist um die 100 Jahre alt, sehen erstaunlich gut erhalten aus, wenn sie auch zuweilen in merkwürdigen modernen Konstellationen zweckentfremdet erscheinen, wie hier die Atlasfigur, die mit kräftigen Armen einen Erker hochhält, während unter ihr sich ein Geschäft für "Fitness Equipment" breit macht.

Fitness Equipment mit Atlas-Figur, Wien. Bild: Archiv Appleton

Indessen, es gibt auch die Statuen, wie diese Rittergestalt auf einem Dach an der Ecke Lerchenfelder- und Strozzigasse, bei der man von ebener Erde aus nicht einmal mit der 160prozentigen Scharfsicht eines Autisten erkennen könnte, was sie darstellt. In einer kalten Winternacht ist sie zur näheren Besichtigung schon mal herunter gekracht, glücklicherweise ging gerade niemand vorbei, und auch an der nahen Bushaltestelle stand niemand. Aber was taten die Hauseigentümer? Sie hatten nichts Eiligeres zu tun, als das Monster wieder auf dem Dach zu postieren, nachdem seine Unsicherheit bereits deutlich genug erwiesen war.

Ritterfigur auf Dach, Gebäude Lerchenfelder/StrozziGasse. Bild: Tom Appleton

Die Fassaden, um es nur gleich zu sagen, sind morsch. Gewiss, man sieht nicht jeden Tag, wie im Budapest der 90er Jahre, ganze Balkons auf dem Trottoir. Aber nur 20 Meter von dem gefallenen Ritter in der Strozzigasse, am Eingang zur Filiale der Großbäckerei Felber ("der Felber bäckt selber") bin ich schon im Winter über eine Fassadenverzierung gestolpert, die aus circa 15 Metern herabgestürzt war. Ein Glück, dass nicht gerade in dem Moment jemand seine Frühstückssemmeln holen wollte, als das massive Steinartefakt sich in den Asphalt bohrte!

Im Winter wird man öfter mal von Lawinen getroffen, wenn ganze Dachladungen von Schnee und schmelzendem Eis sich auf den Fußgänger niederstürzen, zuweilen vermischt mit ein paar losen Schindeln. Aber es kommt ohnehin alles Mögliche vom Himmel, auch ohne den Winter. Bauarbeiter stürzen sich mit besorgniserregender Regelmäßigkeit aus großer Höhe auf dem Pflaster zu Tode, ebenso Kinder, Katzen, Pensionisten, Hausfrauen beim Fensterputzen, und gewöhnliche Selbstmörder.

Daran trifft die Fassaden keine Schuld, dennoch gehörten sie eigentlich abgerissen, aber oft verdecken sie, wie bei einem hohlen Zahn, das noch viel schrundigere Innenleben des Gebäudes. Man kann also die Häuserzeilen mit Zahnreihen vergleichen. Einige Gebäude stehen scheinbar solide, andere sind zerbombt oder abgerissen und dann durch Neubauten ersetzt worden. Symptomatischerweise sehen die "Neu"-Bauten in der Regel noch älter und abgefackter aus als die Altbauten. Ebenfalls symptomatisch ist in vielen Teilen Wiens die noch aus Nazi-Zeiten erhalten gebliebene graubraune "Tarnfarbe", die Wien vor alliierten Luftangriffen schützen sollte. Auch die Einschusslöcher aus bewaffneten Auseinandersetzungen der letzten 100 Jahre sind allüberall noch deutlich erhalten geblieben. Es hat also seitdem nie wieder genug Geld gegeben, um diese Fassaden zu reparieren oder neu zu bemalen.

An manchen Stellen, sieht man, ist ein Haus weggeräumt worden oder zusammengebrochen. Es entstand ein eigenes Biotop, eine sogenannte "G'stettn". Sie ähnelt in der Regel dem Hundertwasser-Haus, das ja das Ideal einer zerbombten Nachkriegs-Ruine mit Pflanzenüberwucherung zur architektonischen Maxime erhob. Typisch für die G'stettn ist der rasant wachsende G'stettn-Baum, oder Götterbaum, der ursprünglich aus China stammt und in Wien seit zwei oder drei Jahrhunderten wild wuchert. Ebenso der auf ihm lebende Ailanthus-Spinner, ein Riesenfalter, den man sogar im Winter nächtens an irgendwelchen Würschtel-Buden beobachten kann, wo er sich, verzweifelt Wärme suchend, an die Beleuchtung klammert.

DIE POLITISCHE DIMENSION

Die politische Dimension der Wiener Bau-Misere lässt sich kaum besser als an der Person des oben erwähnten und schon in seinem Amt in der Stadtverwaltung sichtlich überforderten Wiener Wohnbaustadtrats FAYMANN festmachen, der von seiner Partei ins Amt des Bundeskanzlers (!) gehievt wurde - ohne je gewählt worden zu sein. Gewählt, hinterher gewählt, wurde er erst, als er bereits Kanzler war. Es wirft ein Schlaglicht auf die Personalmisere der österreichischen Sozialdemokraten, die jetzt schon den dritten Kanzler in Serie aus der Schublade hinten links neben der Abstellkammer hervorkramen mussten, nach Klima und Gusenbauer, nun Faymann. Leute, die dann möglichst rasch und unsichtbar wieder entsorgt werden. Der einzige Altkanzler, der nach wie vor öffentlich vorgezeigt wird, ist Franz Vranitzky.

Die Partei, die sich einst unter einem Bruno Kreisky ein international wahrnehmbares Profil geben konnte, - Kreisky, sozusagen ein weltoffener jüdischer Sozialdemokrat an der Spitze eines ehedem faschistischen Staates - kann heute bestenfalls auf einen Karrierekaiser wie Heinz Fischer verweisen, einen farblosen Partei-Apparatschik, der im Windschatten von Kreisky, Vranitzky, Gusenbauer seine Punkte sammelte, bis er als höchster Staatspensionist in die Hofburg ziehen durfte.

Ich verwende das Wort "Kaiser" hier übrigens mit Bedacht. Die österreichischen Sozialdemokraten haben nämlich seinerzeit, 1919, nach dem Ersten Weltkrieg, ebenfalls, wie ihre deutschen Genossen, den Kaiser und den Adel abgeschafft, aber sich trotzdem eine Leidenschaft dafür bewahrt, SELBER an die Stelle des Kaisers und des Adels zu treten. Das ist also keineswegs nur bei der ÖVP so, die sich als eine Art heimliche Adelspartei versteht. Es ist ein fast durchgängiges Wiener Phänomen, quer durch alle Altersgruppen und Parteizugehörigkeiten. Beim Begräbnis der letzten Habsburger-Kaiserin (Zita mit Namen) versammelte sich im Jahr 1989 vor der innenstädtischen Begräbnisgruft eine Menschenmenge, die voll vergleichbar war den Hunderttausenden, die an der gleichen Stelle der Kaiserin Sissi 1898 das letzte Geleit gegeben hatten.

So verwundert es nicht, wenn auch bei Fischers, ganz wie in feudalen Zeiten, jeden Mittwoch der Himbeermann vorbeikommt. Teerunden der SPÖ-Damen im Hause Fischer sollen, dem Vernehmen nach, regelrecht marieantoinettös sein, und etwas von jenem postrevolutionären Charme der Dienstmädchen an sich haben, denen nun selber der Gebrauch des feinen Porzellans zusteht. Quasi, nachdem der "Zar" vertrieben wurde. Zugleich zeigt der Herr Bundespräsident sich, ganz die Bescheidenheit in Person, "volksnah" wie einst der selige Kaiser Franz Joseph, und ist auch in seiner eigenen Innenstadtwohnung wohnen geblieben, statt den Bundespräsidialpalast zu beziehen. Grund? Die Präsidentenvilla auf der Hohen Warte war (wie in Wien nicht anders zu erwarten) baufällig und unbewohnbar geworden - wie uns Wikipedia mitteilt

Dem Vorgänger Fischers, Thomas Klestil, war solche "Bescheidenheit" fremd. Der aus dem proletarischen 3ten Bezirk stammende Klestil war kein Sozialdemokrat sondern ein typischer Kleinbürger mit dem bewussten "Streben nach Höherem", also daher auch ein Mitglied der ÖVP. Für ihn war es selbstverständlich, als krönenden Abschluss seiner politischen Karriere, eben diese zutiefst baufällige Hütte zu bewohnen und sich die Schimmelpilzsporen in die Lungen zu ziehen bis zum Gehtnichtmehr. Gesundheitlich schwerst angeschlagen, überlebte er den von den Ärzten empfohlenen Auszug zuletzt nur noch um zwei Monate.

Hier zeigt sich sogar bei einem Spitzenpolitiker eine komplette Verkennung, um nicht zu sagen, Unkenntnis der Wiener Lebenssituation. Was ein bezeichnendes Schlaglicht auf den politischen Diskurs im "Roten Wien" wirft. Die verrottete Architektur der Stadt ist sozusagen kein Thema. Oder das unterschlagene Thema Nummer Eins.

Geheimbund SPÖ?

Auch das hängt mit der geheimbundartigen Verschlossenheit der SPÖ zusammen, die an ihrer Spitze eher Ähnlichkeit mit einem Rotarier-Klub oder einer Freimaurer-Loge aufweist. Statt eben, beispielsweise, eine demokratische Wählerpartei zu sein. Den heimlichen Oberchef scheint dabei der stärkste Kurfürst am Platz zu stellen - der Wiener Bürgermeister, Michael Häupl

Ich sehe es förmlich vor mir, wie er Faymann, dem Wohnbaustadtrat mit der geschienten Grinse, in den Sattel geholfen hat. Wo Häupl, der Kanzlermacher, vermutlich gesagt hat:

Nehmt doch den da einstweilen. Ich hab sonst keinen andern mehr. Aber der Faymann ist eh gut, der hat uns damals Unsummen erspart, indem er immer blockiert hat, wenn die Leute sich über den Schimmel in den städtischen Wohnungen beschwert haben. Er hat immer gesagt, üsst ihr eben besser lüften'. Das könnt' er jetzt auch wieder machen. Immer blockieren, wenn's ums Geldausgeben geht.

Das ist ein Zitat, das ich mir nur vorstelle - in der Phantasie. Aber so ähnlich wird es schon gelaufen sein. Die Vorgänge sind gewissermaßen blickdicht abgeschottet und dennoch durchsichtig.

Die SPÖ unterscheidet sich deutlich von ihrer deutschen Schwesterpartei, der SPD. Sie hielt auch bis eben noch an alten Ritualen fest, dem "Freundschaft"-Gruß, der Anrede mit "Du" und "Genosse" und natürlich dem kompletten Verkehrsstillstand am Ersten Mai. Speziell die Wiener SPÖ, die praktisch durchgängig die "Absolute" in der Stadt gehalten hat, ist insofern eher vergleichbar mit der SED der DDR, auch darin, dass sie zwar einen progressiven Anspruch hat, aber im Grunde nur eine ziemlich korrupte Geldmaschine ist, eine Art Tontine für ihre obersten 50 Mitglieder.

So brachte die SPÖ zwar - wie einst die SED in der DDR - nach dem faschistischen Staatsstreich in Chile vom 11. September 1973 unzählige chilenischen Linke nach Wien, vorgeblich unter dem Banner der "Internationalen Solidarität", versteckte dann aber diese Leute - Intellektuelle, Lehrer, Gewerkschaftsaktivisten - in Hausarbeiterjobs in den Volkshochschulen und ähnlichen Niedriglohnpositionen und ließ sie ansonsten über die nächsten Jahrzehnte hinweg am ausgestreckten Arm verkümmern.

Auch heute (und erst recht heute) betreibt die SPÖ eine Ausländerpolitik, die sich in erster Linie an den Vorgaben der faschistisch ausgerichteten Konkurrenz orientiert. Auch das lässt sich am Beispiel der Lerchenfelderstraße recht gefällig illustrieren. Dort, wo die Straße den Gürtel überquert, geht sie als Thaliastraße weiter. Die Thaliastraße war noch vor 50 Jahren eine gehobene Einkaufsstraße der wohlhabenden Wiener Mittelschicht. Heute betreiben die Banken ihre Bankomaten dort nur noch bis 18 Uhr, weil die ganze Gegend (der 16te Bezirk) zu einem Getto der Unterprivilegierten herab gesandelt ist.

Unterprivilegiert, zu Menschen mit einem Sonderstatus, werden die dort Wohnenden, weil ihnen kein Wahlrecht zusteht. Ob Euro-Bürger oder Türken oder Nigerianer, sie haben hier keine Entscheidungsgewalt über ihre eigenen Lebensumstände, sie haben keine politischen Bürgerrechte. Sie werden OFFEN von der Wiener Stammbevölkerung diskriminiert. Und sie sind Freiwild für die Polizei. Ausgenommen ein paar Wenige, die durch Heirat mit einem Österreicher oder einer Österreicherin zu StaatsbürgerInnen wurden oder durch langjährige Sesshaftigkeit oder Geburt im Lande sich das Recht auf einen Pass erdienen konnten. Die Diskriminierung von "Ausländern" hat in Wien Tradition. Die Vertreibung von 200.000 Juden. Die fast zwangsweise Ein-Deutschung von einer Million Tschechen. Und auch heute werden Ausländer politisch instrumentalisiert. Eingesetzt wie eine Peitsche, die man zur instinktiven Reaktion der eigenen Stammwähler knallen lässt.

Könnten sie, dürften sie - wenigstens lokal - wählen, die Ausländer. Dann wäre klar, dass die FPÖ des Herrn Strache, des Haider-Klons und Nachfolgers in Wien, ihre Stimme nicht bekommen würde. Die Grünen, die im Stadtinnern von Wien noch am höchsten punkten, würden vermutlich auch von den ausländischen Wählern die meisten Stimmen bekommen, weil diese Wähler sich von dieser Partei Verbesserungen ihrer Lebensumstände erwarten könnten. Kein Wunder, dass es in Wien, solange die SPÖ das alleinige Sagen hat, nie ein Ausländerwahlrecht geben wird.

Heinz-Christian Strache bei einer Wahlkampfveranstaltung der FPÖ (2008). Bild: Christian Jansky. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Um sich eine solide Wählerbasis zu schaffen, züchtet die SPÖ stattdessen im sogenannten Transdanubien - in den Stadtteilen "auf der anderen Seite der Donau" - in den großen, flachen Parklandschaften von Floridsdorf, Kagran, Schönbrunn - ihre eigene Prolokratie - eine SPÖ-hörige, weil finanziell von der SPÖ abhängige und geförderte, konsumfreudige aber bildungsferne Schicht, die einzig dem Zwecke dient, als Stimmvieh zum Wahltermin ihr Kreuzerl auf dem Wahlzettel unter die "SPÖ" zu setzen. Um diese numerisch stets gefährdete Wählerbasis marginal zu erhöhen ließ die SPÖ sogar das Wahlalter auf 16 Jahre herunterdrücken - schließlich gibt es gerade hier unzählige arbeitslose junge Mütter, die in SPÖ-geförderten Wohnungen leben und Unterstützung von der Stadt erfahren, die sich also bitte auch dankbar zu erweisen haben. Ihr wollt schließlich nicht - so lautet die stets implizierte Drohung - so leben wie die Ausländer in ihrem Getto?

Für die Faschos sind diese Wähler natürlich eine "gemähte Wiese" - sie brauchen nur ihren Herrn Strache, der ein wenig die "good looks" eines Alec Baldwin zur Schau trägt, hin zu schicken, und schon kippen die Wählerinnen reihenweise um. Strache, der sich von den Betonköpfen und Hendlfriedhöflern der Stadt-Bonzeria schick unterscheidet - das hat er von seinem "feschen" Vorgänger, dem "Feschisten" Haider gelernt - weiß: das unpolitische Fußvolk wählt auch seine Politiker wie seine TV-Stars. Die starre Wählerbindung an eine Partei gibt es nicht mehr, die Wähler springen, sie zeigen politisches Konsumverhalten. Man muss ihnen nur das Richtige versprechen.

Gerade hier, "im Grünen", in den bewohnten Parkanlagen mit dem Blick auf den Kahlenberg, hier, wo die aus den einstigen Sumpfgebieten übrig gebliebenen Frösche noch immer in der Nacht lautstark ihre Gesänge anstimmen, haben "die Grünen" die geringste Wählerbasis. Dafür stehen hier die Reihenhäuser, säuberlich, mit trockenen Kellerräumen und je einem Hobbyraum für jede Mietpartei, mit ausreichenden Parkplätzen auf den Straßen, mit styroporverputzter Außenhaut, mit Begrünung und künstlerischer Behübschung, mit überdachten Einkaufszentren, mit U-Bahn-Zugang. Es sind Muster der Stadtplanung, wenn man so will - jedenfalls sind es offene Siedlungsbauten - und somit alles andere als moderne Varianten jener Trutzburgen, die das Rote Wien der SPÖ einst für die Arbeiterschaft im cis-danubischen Stadtbereich errichtete.

Trutzburgen, Altbauten und "echte" Neubauten

Der oben erwähnte Karl-Marx-Hof, ein gigantischer Gemeindebau, der seinen Namen bis heute nicht ändern musste, obwohl man auch in Österreich immer wieder gerne verschämt die eigene Geschichte zuschüttet, war ein Musterbeispiel menschengerechter Bewohnbarkeit, mit eigener Bücherei für die bildungsbeflissene Arbeiterklasse, und natürlich hing hier, damals, zur Zeit des Austro-Faschismus (1934) und des Nazi-Anschlusses (1938), aus jedem Fenster ein bewaffneter Arbeiterkämpfer mit der Knarre. Es floss Blut, es gab Tote.

Karl-Marx-Hof. Bild: Anatoly Terentiev

Heute ist der Glorienschein dieser alten Wohnmaschinen verblichen. Das Bürgertum - und Wien ist eine sehr bürgerliche Stadt - bewohnt immer noch sehnsuchtsvoll die Altbauwohnungen aus der Kaiserzeit - ein komplizierter Prozess, bei dem Vokabeln wie Hauseigentümer, Hauptmieterin, Investitionsablöse, Weitergaberecht, Mietvertrag, anfechten, Isolierfenster, 7ter Bezirk, Jugendstil, usw. stets eine Rolle spielen.

Dazu muss man wissen, dass das heutige Wien im Wesentlichen in der Zeit 1850-1915 gebaut wurde (deswegen "Altbauten"). Diese Gebäude haben wegen des damals herrschenden Historismus schon "alt" ausgesehen, als sie noch neu waren. Neubauten heißen alle Häuser aus der Zeit nach 1945, sie können also auch schon 60+ Jahre alt sein. Mit Ausnahme der Regionen am Stadtrand und den großen Stadtentwicklungsgebieten (jenseits der Donau, oder an Stellen, wo früher große Bahnhöfe standen) gelten in Wien immer noch die Baupläne der Jahrhundertwendezeit (aus dem vor-vorigen Jahrhundert). Gebaut wird also oft in die Lücken zwischen den typischen Jahrhundertwendehäusern. Ein Grundproblem ist die ungebrochene Liebe der Wiener zu alten Häusern - den hohen Räumen, den Fenstern und Türen vom Tischler, dem Parkettboden, den Stiegenaufgängen mit Schmiedeeisen-Geländer usw. So ein Haus macht einfach mehr her (imagemäßig) als ein Neubau. Für Altbau zahlt man 10-15 Euro pro Quadratmeter und Monat.

Andererseits, um es hier nur zu erwähnen, gibt es auch die zufriedenen Wiener Innenstadtbewohner der gehobenen Einkommensklasse, die sich durchaus an ihren modernen Neubauwohnungen erfreuen, wie dieses Beispiel eines Freundes zeigt, der seine Wohnsituation folgendermaßen schildert:

Die Lebensqualität im Neubau (im echten Neubau, also alles ab 1980) ist alle Mal besser - siehe Wohnungsgrundriss, Heizkosten, Verkabelung (Elektro, Fernsehen, Internet), Lärmschutz, Lift, Zentralheizung, barrierefreier Zugang (es gibt auch alte Leute), Luftzug (eben nicht! - wegen dichten Fenstern), Schimmel (eben nicht! - wegen gelüfteten Nassräumen), Stabilität des Fußbodens (kein Schwingen und Knarren), Blick ins Grüne, zentrale Waschküche, Garage im Haus, Fahrrad/Kinderwagenraum, Hobbyraum, Sauna, Müllraum usw. Wir pfeifen daher aufs Image - und haben eine Wohnung Richtung Garten (mit Nachtruhe bei offenem Fenster), das Auto im Keller, barrierefreie Zufahrt für den Einkaufswagen vom Supermarkt zum Kühlschrank, mindestens 20 Restaurants in unmittelbarer Nähe, zwei Häuserblöcke zur U-Bahn, 15 Minuten Fußweg ins Stadtzentrum. Und das um - darf man das überhaupt laut sagen? - um 7 Euro monatlich pro Quadratmeter. Wir danken diese Preise noch einer zweiten Liebe der Wiener, und das ist die zum Landhaus oder Stadtrand. Für 2 Stunden täglich im Stau, den Rasenmäher-Lärm und das Hundekläffen vom Nachbarn, die zusätzlichen Heizkosten, die Gartenarbeit und das Schneeschaufeln zahlen die Wiener gern etwas mehr. "Es gibt immer etwas zu tun" sagt die Hornbach-Werbung. Na, wen es freut. Mich freut es, wenn ich in der Wohnung nichts tun muss.

Wie man sieht. Das, was in Wiesbaden, als "normal" gelten würde, darf sich der Wiener, wenn er es antrifft, als Luxus anrechnen. Die modernen Neubauten werden, wie Stiftzähne, in die morschen Zahnreihen der Wiener Straßenbilder eingelassen, und alle auf gleiche Höhe getrimmt - da ja kein Gebäude höher sein darf als das Dach des Stephansdoms (!) - aber mit fünf Stockwerken statt der vier von Einst, schließlich trägt keiner mehr zu Hause den Zylinder. Und das leicht speleologische Wohngefühl, bei einer Deckenhöhe, die man mit den Fingerspitzen erreichen kann - und bei Wohnräumen, die, ohne künstliche Beleuchtung, auch bei Tag stets im (Halb-)Dunkel liegen: Gewöhnungsbedürftig. Und natürlich muss tief in die Erde gegraben werden, um den Platz für die Tiefgaragen freizuschaufeln. Da kommt man nicht umhin, das morsche Gemäuer links und rechts der neuen Baustelle immer wieder mal ein wenig zum Einknicken zu bringen.1

Wie anders ist da doch Bratislava - wo einfach großzügig weggerissen wurde, was nicht mehr stehen konnte. Es stehen ausgemachte Scheußlichkeiten neben Baustellen oder Schutthalden, wo Neues entsteht, und dann geht man um die Ecke und sieht ein schönes altes Haus, umringt von hohen Bäumen. Kein falscher "Historismus", sondern die echten Runzeln und Narben im Gesicht einer Stadt, die ihre Geschichte gehabt hat und weiterlebt.

Tourismus-Betreiber werden natürlich lachen, wenn sie lesen oder hören, dass ich Bratislava gegen Wien hochhalte. Aber das eben ist die tödliche Schlinge um den Hals der Stadt Wien - der Tourismus. Und die Vorstellung, dass knapp zwei Millionen Menschen mit all ihren realen Lebensbedürfnissen in einem Flachland-Machu Picchu eingeschlossen werden können. Einer Nekropole.

Was mit dem Stephansdom geschehen muss

Es passt dazu, wenn ich zum Schluss noch einmal zu dem städtischen Stalaktiten, dieser zu Stein gewordenen Anhäufung menschlicher Tränen, menschlichen Schweißes und Blutes, und seelischer Leiden zurückkehre, zum Stephansdom. Was Jesus dazu sagen würde (eine Vorstellung, die den Wienern selbst völlig fremd, gerade bei Amerikanern aber sehr beliebt ist), wenn ER wieder käme, lässt sich (wie ich meine) unschwer erraten. Im sogenannt christlichen Abendland unserer Tage würde man mir aber wahrscheinlich eine Fatwah - eine Bannbulle - hinterherschicken, wenn ich meine Spekulationen über dieses Thema schriftlich fixieren würde.

Letzten Endes geht es mir nur um den rein architektonisch-städtebaulichen Aspekt. Es war die Korruption des Kölner Baugewerbes, die die Fertigstellung des DORTIGEN Domes um 800 Jahre verzögerte. Der Wiener Stephansdom, im Zweiten Weltkrieg niedergebombt, blieb nicht als Brandruine, als "Gedächtniskirche" im Stadtzentrum stehen. Er wurde wieder aufgebaut. Und -

...das dauergerüst hat nicht mit dem brand zu tun, sondern damit, dass er aus burgenländisch-st. margaretner sandstein gebaut ist, der seit jahrhunderten ständig vor sich hin verwittert...

wie mich eine "überzeugte Wienerin", leicht pikiert, korrigiert. Aber eben das war ja meine Absicht, darauf hinzuweisen, dass einem gerade hier leicht etwas aufs Hirn klatschen könnte, bei Sturm und Wind. Die Stadt selbst ist dem Dom viel zu nahe auf die Pelle gerückt, und das Gebäude ist einfach lebensgefährlich. Man frage nur die Fuhrkutscher, die dort mit ihren Pferden und Droschken bei Wind und Wetter ausharren müssen.

Es gibt nach meinem Dafürhalten nur die Möglichkeit, den gesamten Dom - der nach den heutigen baulichen Möglichkeiten mit seinen 137 Metern nicht eben sonderlich hoch ist - unter einen schützenden Glassturz, also eine Art riesige Käseglocke, zu stellen. Damit würde das Gebäude auch äußerlich begehbar und somit einzigartig tourismustauglich. Das Problem des dahinbröckelnden Sandsteins wäre damit indessen nicht gelöst. Und: es müssten auch einige Gebäude rund um den Dom niedergerissen werden.

Eine zweite Variante wäre die - den Dom behutsam abzutragen und unter einem Glassturz (NB: in Originalhöhe des Doms!) als eine maßstabsgerecht verkleinerte Nachbildung zu errichten, die äußerlich dem Dom gleichen würde, und innerlich als modernes Dom-Museum - übrigens auch mit modernen Toiletteneinrichtungen für Frauen und Männer - zum Andenken an den Dom dienen würde. Dies wäre dann keine geweihte Kirche mehr, sondern - ähnlich wie die geplanten Bauten am New Yorker "Ort Null" - ein Neubeginn.2

Ich könnte der Variante, den Stephansdom als verkleinertes Modell neu aufzubauen - viel abgewinnen. Die zutiefst kompromittierte - gerade auch in Österreich kompromittierte - katholische Kirche könnte damit, durch einen symbolischen Schritt einen mehr als nur symbolischen Schnitt unter ihre Jahrzehnte und vermutlich Jahrhunderte währende Vergangenheit als kinderquälerische Missbrauchsanstalt setzen.

Altlerchenfelder Pfarrkirche. Bild: Archiv Appleton

Einen Mangel an geweihten und wahrhaft schönen Kirchen gibt es in Wien wahrhaft nicht. Ich denke hier beispielsweise an die Altlerchenfelder Pfarrkirche an der Lerchenfelderstrasse, deren Inneres mir stets als eine besonders ehrfurchtsgebietende Halle voller Magie, ein brauchbarer Ort für stilles Gebet oder Einkehr erschienen ist. Freilich: auch hier werfen die Wände, wie man leicht erkennt, wenn man den Blick schweifen lässt, unter dem Putz Blasen, es gibt Markierungen, wie hoch das Wasser im Gemäuer bereits gestiegen ist, es frisst der Schimmel am Fundament. Nichts ist für die Ewigkeit gebaut.