Masochismus und Verzichtsideologie

Über Jean-Jacques Rousseau, den Pol Pot der Philosophie

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Der 1712 geborene und 1778 gestorbene Genfer Jean-Jacques Rousseau gilt heute als Philosoph, ist aber eher ein Religionsstifter. Die Religion, die er begründete, ist die Anbetung einer imaginierten Vergangenheit, in welcher der Mensch angeblich glücklich im Einklang mit einer idealisierten Natur lebte - eine "Naturreligion" im wahrsten Sinne des Wortes.

Allerdings war sich Rousseau dieser Religionsstiftung nicht bewusst und gab sich (anders als viele seiner gelehrten Zeitgenossen) zeitlebens als eifriger Christ, der sogar für die Bestrafung von Gottesleugnung eintrat. Nur über die richtige Theologie und den richtigen Ritus war er sich nicht ganz sicher: 1728 konvertierte er vom Kalvinismus zum Katholizismus und 1754 zurück.

Jean-Jacques Rousseau.

Im Alter von 11 goutierte Rousseau eine Tracht Prügel seiner Lehrerin Madame Lambercier so sehr, dass diese bei ihm mehr Sehnsucht nach als Angst vor einer Wiederholung hinterließen. Die Strafen für weitere Verfehlungen genoss er angeblich derart offensichtlich, dass die Lehrerin danach von Züchtigungen absah. Und auch als er erwachsen wurde, gesellten sich seinen eigenen Angaben nach lediglich neue "Leidenschaftsbelohnungen" zu seinem Masochismus, den er unter anderem dadurch auszuleben versuchte, dass er fremden Frauen seinen nackten Hintern zeigte und sich damit - wie er selbst schreibt - einer Vorstufe zu dem Vergnügen näherte, das ihm Schläge auf dieses Körperteil bereiteten.

Man hat keine besonders große Mühe, diesen Masochismus auch in der Verzichtsideologie zu erkennen, die sich wie ein roter Faden durch sein Werk zieht, in dem er unter anderem die Theorie aufstellt, dass Fleischkonsum zu charakterlicher Grausamkeit führt. Jedoch muss man Rousseau (anders als heutigen Vertretern dieser Idee) zugutehalten, dass Hitler und Himmler erst lange nach ihm lebten.

Schon seinen Zeitgenossen fiel auf, dass Rousseaus Grundthese weitgehend ein Plagiat der Genesis ist: Durch ihren Drang nach Wissen verschuldet die Menschheit selbst ihre Vertreibung aus einem glücklichen Naturzustand. Wie der "natürlich gute" Mensch die böse Zivilisation entwickelt, bleibt bei Rousseau weitgehend ein Rätsel, eine Art Anthropodizee. Dafür hatte er weniger Erklärungsprobleme mit der Theodizee: Zum großen Erdbeben in Lissabon, das am 1. November 1755 zur besten Kirchgangszeit am Sonntag um 9 Uhr 40 massenhaft fromme Katholiken tötete und in ganz Europa theologische Fragen belebte, meinte Rousseau in seinem Brief an Voltaire über die Vorsehung, die Opfer hätten besser auf dem Lande und in niedrigen Häusern gelebt.

Eine Zeit lang verkleidete sich der exzentrische Philosoph als Armenier.

Ein weiterer grundlegender Widerspruch in Rousseaus Thesen ist derjenige, dass die Natur sich entwickelt - weil das ihre "Natur" ist: Vom Unbekannten zum Universum, vom Anorganischen zum Organischen, vom Tier zum Menschen und darüber hinaus. Die Anbetung des Stillstandes, die Rousseau eigentlich propagiert, findet heute nicht nur in einem übertriebenen Naturschutz, der den Umstieg auf erneuerbare Energien massiv behindert ihren Niederschlag, sondern auch in einem völlig aus dem Ruder gelaufenen Denkmalschutz, der Menschen zu Museumskomparsen degradiert.

Auch in anderen Bereichen kümmerte Rousseau so etwas wie Kohärenz kaum: Obwohl er selbst Opern schrieb, behauptete er in seinem Lettre sur la musique francaise 1753, dass die französische Sprache für die Musik ungeeignet sei. Selten wurde jemand von der Zukunft gründlicher widerlegt. Und die fünf Kinder die ihm seine zurückgebliebene Geliebte Thérèse Levasseur (die kaum lesen und Geld zählen konnte) gebar, gab der Philosoph, der jede Form der Geburtenkontrolle (zu der er auch die Masturbation rechnete) als schreckliche Sünde ansah, gegen den Willen der Mutter sofort ins Waisenhaus.

Thérèse Levasseur.

Solche Widersprüche sind nicht überraschend, wenn man bedenkt, dass Reflexion für Rousseau ein "Zustand wider die Natur" und ein denkender Mensch ein "entartetes Tier" war. Er selbst sah sich deshalb auch weniger als Philosoph, sondern als Kritiker der Philosophie: Die Philosophen untergruben seiner Ansicht nach die "Fundamente des Glaubens" und zerstörten die Tugend.

In seiner Ablehnung von Bildung und Wissenschaft wertete er die Erfindung der Druckerpresse als eine der großen Katastrophen der Menschheitsgeschichte und pries den Kalifen Omar, der der Legende nach auf die Frage, was man nach der Eroberung mit der Bibliothek von Alexandria machen soll, sagte, dass man sie in jedem Falle anstecken müsse, denn wenn die Bücher darin etwas enthalten, was nicht im Koran steht, wären sie schädlich, und wenn sie das enthalten, was im Koran steht, wären sie überflüssig.

Im Rahmen dieser Zivilisationsfeindlichkeit lobte Rousseau "edle Wilde", ohne sich auch nur im geringsten darüber zu informieren, ob diese tatsächlich als Beispiele für seine Thesen taugen. So meinte er etwa, der Zivilisation eines Volkes folge zwangsläufig die Eroberung durch ein naturverbundeneres: Das zeigte sich seiner Ansicht nach am antiken Ägypten, an den griechischen Städten und an Rom, das als "Bauernnation" den Mittelmeerraum eroberte und wegen "Ovid, Catull, and Martial" ein Opfer der Barbaren wurde. Gleichzeitig verherrlichte er die Indianer Nordamerikas, die schon Mitte des 18. Jahrhunderts aufgrund ihrer technisch-wirtschaftlichen Unterlegenheit erkennbar dem militärischen Untergang geweiht waren.

Der einzig natürliche Verbund war für Rousseau die Familie. Allerdings sah er im Gegensatz zu amerikanischen Libertären, die diese Ansicht heute zum Teil vertreten, auch im Eigentum anfangs ein Übel und erst später, in seiner Verteidigung des Erbrechts, etwas Legitimes.

Am französischen Königshof in Versailles begrüßte man Rousseaus Thesen als willkommene Erwiderung auf den schädlichen Einfluss der Philosophie. In Paris dagegen wusste man anfangs nicht recht, ob die Schriften des Genfers ernst gemeint waren oder ob sie Satiren sein sollten. Und Voltaire wunderte sich, dass ein erwachsener Mann von 37 Jahren solch pubertäre Predigten wie die Discours sur les Sciences et les Arts schreiben konnte. Später kommunizierte der Aufklärer kaum noch mit Rousseau, weil er ihn für zu verrückt hielt, wie er seinen Freunden brieflich mitteilte.

Rousseaus Breiten- und Langzeitwirkung schadete dies nicht: Seine Ideologie findet sich heute sowohl bei Teilen der Grünen als auch bei Thilo Sarrazin. Sie fordert den Verzicht nicht als persönliche Option für ein ungewöhnliches Genussempfinden, sondern als Wir-Imperativ für die gesamte Menschheit: "Wir müssen" - weniger heizen, kalt (oder gar nicht) duschen, weniger Fleisch essen, weniger Technologie einsetzen et cetera.

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