Remigrationsarchitektur: Mein Land ist das Haus

"Vorbild-Haus" bei Bartin. Bild: © Stefanie Bürkle/VG Bild-Kunst Bonn 2016

Die Rückkehrer in die Türkei bauen "biographische Häuser".

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Eine besondere Spezies Mensch tauchte in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts in New York auf: die "Bei Unskis". Innerhalb der Emigranten war dies das semantische Merkmal einer Gruppe Versprengter, die jede Erzählung begannen mit: "Bei uns... in Deutschland." Was trieb sie, kaum dass sie gerettet waren, das Land zu lobpreisen, das sie ins Verderben stürzen wollte? Welchen Anteil hat die Erinnerung daran, dass die Projektionsflächen der Wünsche bei abrupt geänderter Realität plötzlich umschlagen? Und können in solchen Projektionsflächen Häuser gebaut werden?

Die türkischen Migranten, die in der Gegenwart aus Deutschland in ihr Herkunftsland zurückkehren, bauen sich dort ihre "Traumhäuser". Aber ist es noch ihr Herkunftsland? Sind sie noch türkisch?

Aus Deutschland bringen sie, besonders die erste Generation, schwere Sitzgarnituren, Schrankwände und Kacheltische im Gelsenkirchener Barock mit. Dem Vorschlag ihrer Kinder, etwas von den Möbeln vor Abreise zu entsorgen, widersetzt sich eine Migrantin: Da steckt ihr Leben drin.

Zweiteile-Haus bei Tarsus. Bild: © Stefanie Bürkle/VG Bild-Kunst Bonn 2016

Die neuen Häuser haben Satteldach, Dachgauben, ausgebauten Dachboden, Balkon, Wintergarten, Keller und Garage. Da Garagen in der Türkei unbekannt waren, mussten zunächst auch die Tore importiert werden. Schon an der Übergröße und an der vom Ortskern abgerückten solitären Stellung erkennen die Einheimischen die Häuser der Almanci, der "Deutschländer".

Stefanie Bürkle, die an der TU Berlin Bildende Kunst für Architekten lehrt, hat mit ihrem Team die Remigrationsarchitektur dokumentiert und das Ambiente mitsamt Familien der Bauherren auch filmisch festgehalten. Sie hat drei Haustypen ausgemacht:

  1. Das "Vorbild-Haus", das als Bild im Kopf des Bauherren sich bereits in Deutschland ausgeprägt hat, durch aus dem Internet bezogene Vorlagen passförmig gemacht und 1:1 auf türkischen Boden übertragen wird.
  2. Das "Zweiteile-Haus", das je zur Hälfte aus der Adaption einer deutschen Baukultur und aus einer lokalen türkischen Tradition zusammengefaltet wird.
  3. Das Mehrschicht-Haus, das über viele Jahre in Eigenarbeit während der Urlaubszeit des Bauherren - je nach den Kapazitäten an Arbeitskraft und Material - in unterschiedlichen Baustilen hochgezogen wird. Der Prozess des Bauens und Werkelns geht nie zu Ende.

Bei einer regionalräumlichen Zuordnung kämen noch die "Sitesi" hinzu, Siedlungen in Urlaubsregionen, die als Ferienwohnungen genutzt. werden. Hier ist nicht das einzelne Grundstück durch eine Mauer geschützt - auch das ein Rückkehrer-Merkmal - sondern ein Wachdienst sorgt für die Gated community.

Architektur ohne Architekten

Birol Yildirim kam 1964 ins Ruhrgebiet und arbeitete sich vom Bergwerkslehrling zum Bergbauingenieur hoch. Zwanzig Jahre später kehrte er mit Familie zurück, im Gepäck ein Gemälde mit einem postromantischen Knusperhäuschen, das er secondhand in Duisburg gekauft hatte. Es diente als Vorlage für sein Haus, das nun mit Satteldach, Gauben und Tanne im umzäunten Garten isoliert von der Umgebung dasteht. Wer darüber spöttelt, sollte sich näher mit den Motiven eines historisierenden Wiederaufbaus von Altstädten und Schlössern in Deutschland befassen.

Mehrschicht-Haus bei Mersin. Bild: © Stefanie Bürkle/VG Bild-Kunst Bonn 2016

Zum Vorbildhaus-Typ zählt Bürkle auch "Natur-Häuser", welche die Sehnsucht nach Arkadien in der deutschen Öko-Variante für die Türkei übernehmen. Die Bauherren achten auf regionale Bezüge, natürliche Baumaterialien und Energieeffizienz.

Ebenfalls als Bergwerkslehrling startete Cemal Keskin in Oberhausen. Als er 2008 in der Türkei zu bauen begann, hatte er bereits Erfahrungen als Hausbesitzer, Vermieter und Bauherr in Deutschland gesammelt. Fassade und Dachgestalt sind gespalten. Unten verläuft eine breite Holzterrasse (türkisch) mit Betonsockel (deutsch). Die Brüche gehen weiter bis zum Dachgeschoss, das sich aufteilt in ein Walmdach mit Dachgauben und in eine große offene Terrasse mit türkischem Kreuzdach. Der Wunsch nach Wärmedämmung stellte die lokalen Handwerker vor Rätsel. Das Haus ist äußerlich ambivalent wie sein Besitzer innerlich. Er fühlt sich sozial doppelt ausgegrenzt.

Ruine einer Ferienhaussiedlung in Belek am Mittelmeer. Bild: © Stefanie Bürkle/VG Bild-Kunst Bonn 2016

Dieses hybride Haus ist ebenso gebaute Biographie wie das "Mehrschicht-Haus" des Ehepaars Yazar. Ihr Heim setzt im Prozess des "inkrementellen" Bauens Jahresringe an. Über 40 Jahre pendelte das Paar aus Hamburg und trug Raum um Raum, Schicht um Schicht auf. Es sind Sedimente gewandelter Vorstellungen und Möglichkeiten. Was Außenterrasse war, wird Teil der Innenräume. Drei Garagen berücksichtigen die Söhne ("Volkswagen immer").

Garagen oder Werkstätten sind die neue männliche Domäne im Rückkehrerhaus. Mit deren Einrichtung schlug zugleich die Stunde des Bastelns und Werkelns. Das kommt insbesondere dem Mehrschicht-Typ zugute. Aber: "Die Form folgt dem Werkzeug" - und dem Baumaterial. Was so gerade zur Hand ist. Einer der Rückkehrer spitzt es für den türkischen Eigenheimbau zu: Die Funktion des Bauleiters ist unbekannt.