Wie Sarrazin "Unwissenheit und Täuschungen" verbreitet

Ein Faktencheck zu Thilo Sarrazins neuesten Thesen zur Flüchtlingspolitik

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In seinem neuen Buch "Wunschdenken" will Thilo Sarrazin "Unwissen und Täuschungen" der deutschen Flüchtlingspolitik entlarven. Doch die meisten Täuschungen stammen von ihm selbst.

Wenn ein Buch die Bestsellerlisten stürmt, von dem keiner so genauso sagen kann, worüber es eigentlich handelt, dann hat der Autor einiges richtig gemacht. Nach Thilo Sarrazins Abrechnung mit Ausländern (Deutschland schafft sich ab), dem Euro (Europa braucht den Euro nicht) und Linken (Der neue Tugendterror) ist am Montag das vierte Werk des Bestsellerautors erschienen.

In "Wunschdenken: Europa, Währung, Bildung, Einwanderung - warum Politik so häufig scheitert", schreibt Sarrazin nun über so ziemlich alles, was ihm noch so einfällt: Bismarck und Klimawandel. Warum es 1957 besser keine Rentenreform gegeben hätten und 2018 in Berlin keine Flughafen-Eröffnung geben wird. Auf 600 Seiten erklärt er den Zusammenbruch Jugoslawiens genauso wie die Misswirtschaft am Nürburgring und garniert das Ganze mit Lebensweisheiten ("Die Pläne, die man hat, können gar nicht umfassend genug sein, solange man sie für sich behält und ständig an ihnen arbeitet") und praktischen Alltagstipps ("Gegen Kälte kann man sich durch entsprechende Kleidung und geeignete Unterkünfte schützen").

Sarrazin wäre aber natürlich nicht Sarrazin wenn er sich nicht auch etwas zum umstrittensten Thema dieser Tage zu sagen hätte: der Flüchtlingspolitik der deutschen Bundesregierung. Oder wie Sarrazin sie nennt: "der größte Fehler der deutschen Nachkriegspolitik". "Unwissenheit und Täuschungen über die Wirklichkeit" hätten zum Scheitern der deutscher Migrations- und Integrationspolitik geführt, schreibt er. Doch Unwissenheit und Täuschungen verbreitet Sarrazin vor allem selbst.

Das deutsche Asylrecht galt noch nie nur für politische Aktivsten

Sarrazins sehr flexibler Umgang mit den Fakten beginnt schon bei der Bestimmung, für wen das Asylrecht in Deutschland eigentlich gelte. Ihm zufolge würde es in Deutschland keine "größeren Einwanderungszahlen" geben, "wenn es [das Asylrecht] entsprechend seinem ursprünglichen Sinn nur auf Verfolgte angewandt wird, die wegen ihrer aktiven politischen Tätigkeit in Bedrängnis sind". Asyl nur für politische Aktivisten - das klingt nach einer Einschränkung, die die Flüchtlingszahlen tatsächlich spürbar reduzieren würde. Nur hat es diesen "ursprünglichen Sinn" in Deutschland nie gegeben.

Das Grundrecht auf Asyl in der Bundesrepublik war - wie so viele Grundrechte - eine Antwort auf den Nationalsozialismus. Millionen Menschen, unter ihnen hunderttausende Deutsche, hatten in Ermangelung eines solchen Rechts keinen Schutz vor der Verfolgung der Nazis finden können. Das sollte sich nicht wiederholen dürfen. Bevor das Recht auf Asyl 1948 seinen Eingang ins Grundgesetz fand, diskutierte der Parlamentarische Rat tatsächlich mehrere Varianten, wie man dieses von vornherein einschränken könnte.

Eine Variante sah zum Beispiel vor, Asyl nur Oppositionellen aus der Sowjetischen Besatzungszone zu gewähren. Ein anderer Vorschlag nahm politische Aktivisten explizit aus, um die Bundesrepublik nicht zum Exil für flüchtige italienische Faschisten zu machen. Letztlich entschied sich der Parlamentarische Rat allerdings für die weitgehende und uneingeschränkte Variante, die bis heute im Grundgesetz zu finden es: "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht."

Noch nie waren die rechtlichen Chancen auf Asyl in Deutschland so schlecht wie heute

Sarrazin erwähnt die Einschränkung, die es nie gab, um den Eindruck zu erwecken, erst eine allmähliche Liberalisierung und Ausweitung des Asylrechts, habe zu den heutigen Flüchtlingszahlen führen können. Doch auch das stimmt nicht. Im Gegenteil: Nie galt das Asylrecht so uneingeschränkt und allumfassend wie in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik. Erst seit den 90ern wurde der Kreis der Menschen, die in Deutschland Asyl in Anspruch nehmen können, über die Drittstaatenregelung von 1993 und die drei Dublin-Abkommen (1997, 2003, 2014) immer weiter eingeschränkt.

Dass die Flüchtlingszahlen seit den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik und vor allem im vergangenen Jahr deutlich angestiegen sind, ist nicht zu bestreiten. Auch wenn weniger Veränderungen beim deutschen Asylrecht als der Umstand, dass weltweit mehr Menschen vor Krieg, Armut und Gewalt fliehen, dazu geführt haben dürften. Der Frage, wie viele es genau sind, widmet sich Sarrazin in seinem Buch immer wieder - und täuscht seine Leser dabei.

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