Irak: As-Sadr-Anhänger stürmen Parlament

Vorschlag für ein Expertenkabinett abgelehnt

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Gestern stürmten tausende Anhänger des Iran-nahen Schiitenführers Muktada as-Sadr nicht nur die so genannte "Grüne Zone" in der irakischen Hauptstadt Bagdad, sondern auch das dort untergebrachte Parlament. Dort schwenkten sie Fahnen, schrien Drohparolen und machten Selfies. Anschließend schlugen sie vor dem Gebäude ein Lager auf.

In der eigentlich mit Betonbauten, Stacheldraht und Kontrollposten abgeriegelten grünen Zone befinden sich neben dem Parlament auch zahlreiche Regierungsgebäude und ausländische Botschaften. Dazu, ob und wie sehr diese verwüstet und geplündert wurden, steht noch nicht fest, gibt es widersprüchliche Meldungen. Gleiches gilt für den Einsatz von Schusswaffen, den das irakische Innenministerium dementierte. Einigkeit besteht darüber, dass mehrere Luxusautomobile, mit denen Abgeordnete versuchten, über einen von den as-Sadr-Anhängern besetzten Ausgang aus der Grünen Zone zu flüchten, stark beschädigt wurden.

Der irakische Ministerpräsident Haidar al-Abadi hat der BBC zufolge den Notstand ausgerufen. Andere Medien berichten, der Politiker habe die as-Sadr-Anhänger dazu aufgerufen, Zerstörungen zu unterlassen und das Gelände zu verlassen, wieder andere, dass er verlautbarte, Armee und Polizei hätten die Geschehnisse unter Kontrolle.

Muktada as-Sadr ist der Sohn des 1999 wahrscheinlich auf Befehl Sadam Husseins getöteten Schiitenführers Ajatollah Muhammad Sadiq as-Sadr, nach dem später ein riesiges schiitisches Elendsviertel in Bagdad benannt wurde. Die Milizen des heute 42-Jährigen Muktada - die so genannte "Mahdi-Armee" - kämpften nach dem Einmarsch der Amerikaner nicht nur gegen das US-Militär, sondern auch gegen Sunniten. Dabei sollen sie zahlreiche Menschen entführt und gefoltert haben.

Nachdem er des Mordes an einem Rivalen beschuldigt wurde, zog sich as-Sadr in den Iran zurück - angeblich, um dort theologischen Studien nachzugehen. 2011 kehrte er zurück und pflegt seitdem in seinen Reden einen deutlich gemäßigteren Tonfall. Als die sunnitische Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) große Teile des Irak eroberte, formierten sich seine Milizen neu. Eine Rede, in der er am Samstag in der "heiligen" Schiitenstadt Nadschaf politischen Stillstand beklagte, gilt als möglicher Auslöser des Sturms auf das Parlament.

Vorher hatten die Parteien im Parlament verhindert, dass Ministerpräsident al-Abadi sein nach ethnoreligiösen und politischen Quoten bestücktes Kabinett durch ein quotenunabhängiges Expertenteam ersetzt (was Muktada as-Sadr befürwortet). Abgeordnete hatten al-Abadi im Zusammenhang mit diesem Vorhaben Anfang der Woche mit Flaschen beworfen und am Samstag eine Abstimmung durch massenhaftes Fernbleiben verhindert. Ein Sprecher der Parlamentsbesetzer sagte der BBC, sie seien das Volk, das nun nicht mehr durch Abgeordnete, sondern selbst spräche - und sie wollten so lange bleiben, bis das neue Expertenkabinett vereidigt ist.

Autobombenanschlag auf schiitische Pilger

Ebenfalls am Samstag verübten mutmaßlich sunnitische Extremisten einen Autobombenanschlag auf schiitische Pilger, bei dem mindestens 23 Menschen ums Leben kamen und weitere 38 verletzt wurden. Die Schiiten waren zum Imam-Musa-Kadhim-Schrein im Bagdads unterwegs, um dessen Gedenkfest zu feiern. Bei dieser Großveranstaltung hatte es bereits im letzten Jahr Anschläge gegeben.

Die wichtigsten Volksgruppen im Irak. Karte: Telepolis.

Der Irak ist ein ethnisch und religiös geteiltes Land: 75 bis 80 Prozent seiner Einwohner sind Araber, darunter etwa zwei Drittel Schiiten und ein Drittel Sunniten. Der Rest sind neben einigen Turkmenen vor allem Kurden, die in einem weitgehend selbst verwalteten Gebiet im Norden leben, für das der Regionalpräsident Massoud Barzani in den letzten Jahren mehrmals eine Volksabstimmung über eine vollständige Unabhängigkeit ankündigte (vgl. Irak: Kurden planen Unabhängigkeitsreferendum). Unter den Kurden gibt es nicht nur Sunniten, sondern auch Schiiten (die an der Grenze zum Iran leben) und Jeziden, die einem nichtislamischen Glauben anhängen und Heiraten außerhalb ihrer eigenen Gruppe häufig mit dem Tod bestrafen (vgl. Rache, Referendum oder Religion?). Von den früher zahlreichen assyrischen und chaldäischen Christen hat inzwischen ein großer Teil den Irak verlassen.

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