Arte stoppt Dokumentation zum Fall Sergej Magnitzki

Der Fernsehsender will erst in einem "langwierigen Prozess" Inhalt und Persönlichkeitsrechte klären

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Wie starb Sergej Magnitzki? Der russische Steueranwalt und Wirtschaftsprüfer, der angeblich dunklen Geschäften der Moskauer Polizei auf die Spur gekommen sein soll, kam im November 2009 in einem Gefängnis der russischen Hauptstadt ums Leben. Ursache: Herzinfarkt. Das sagen die russischen Behörden. Im Gefängnis festgehalten wurde er wegen des Verdachts auf Steuerhinterziehung. Die Familie aber, genauso wie sein ehemaliger Mandant, der Investmentbanker William Browder, widersprechen, gehen von einem Komplott gegen Magnitzki aus, weil dieser unlautere Machenschaften im "russischen Apparat" aufgedeckt habe. Gestorben sei Magnitzki vielmehr aufgrund der schlimmen Haftbedingungen.

Es ist ein verzwickter Fall, der seit Jahren die Öffentlichkeit beschäftigt und bei dem das Bild vom russischen Unrechtsstaat überall mitschwingt. William Browder versuchte, nach dem Tod des 37-Jährigen durch eine internationale Kampagne deutlich zu machen, dass der Fall Magnitzki als ein Symbol für den Umgang der russischen Justiz mit kritischen Zeitgenossen stehe. Auch der US-amerikanische Präsident wurde auf den Fall aufmerksam und unterschrieb 2012 ein Gesetz, das Sanktionen gegen Russland ermöglichte und das den Namen Magnitzki trägt.

Der Journalist Andrei Nekrasov hat den Fall für eine Dokumentation aufgearbeitet. Es sollte ein Film mit einer Länge von zwei Stunden werden. Bei seinen Recherchen kamen ihm allerdings Zweifel daran, ob die Version des Polizeiskandals, bei der ein Mensch im Gefängnis zu Tode gefoltert wurde, der Wahrheit entspricht. Wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) berichtet, hat ARTE die Dokumentation für unbestimmte Zeit aus dem Programm genommen - und das ausgerechnet am Tag der Pressefreiheit (stattdessen lief die Dokumentaion Boris Nemzow - Tod an der Kremelmauer).

Die Hinterbliebenen von Magnitzki, aber auch William Browders, der das Buch: "Wie ich Putins Staatsfeind Nr. 1 wurde" verfasst hat, beschuldigen den Filmemacher die Realität zum Fall Magnitzki in seiner Doku zu verzerren. Nekrassow stehe mit seinen Rechercheergebnissen auf der Seite des Kremls, wie die FAZ berichtet. Arte sagt, man stehe vor einem "langwierigen Prozess", bei dem der Inhalt der Doku, aber auch Persönlichkeitsrechte geprüft werden müssten. Arte gab gegenüber der FAZ an, es stehe nun "Aussage gegen Aussage."

Der vom russischen Staat finanzierte Auslandsfernsehsender RT.com merkt zu der Dokumentation an, es sei erstaunlich, dass ein Journalist wie Nekrasov, der für seine kritische Haltung gegenüber der russischen Regierung bekannt sei, eine so kritische Position zu Browder einnehme. RT zitiert den Journalisten mit den Worten:

Ich habe ganz aufrichtig an die Version der Ereignisse geglaubt, die Bill Browder präsentiert hat und die der Westen als gegeben annimmt. Und es fiel mir schwer, gegen meine eigenen Ansichten zu kämpfen. Ich musste meine Weltanschauung ändern und zugeben, dass die russischen Behörden Magnizki nicht ermordet und das Geld nicht gestohlen hatten.

Nekrasov

Ulrich Teusch, Publizist und Professor der Politikwissenschaften, kommentiert die Doku Nekrasovs mit den Worten: "Hat Nekrasov mit seiner neuen Sicht auf den Fall Recht? Das ist unmöglich zu beurteilen, weil wir seinen Film nicht kennen - und nach der ARTE-Entscheidung auf absehbare Zeit nicht kennenlernen werden."

Teusch bemerkt, dass unabhängig von der Frage, wo in dem Fall nun die Wahrheit liege, es interessant sei, mit welchem Selbstverständnis Nekrasov sich dem komplizierten Stoff genähert habe: nämlich mit einer vorgefassten Meinung. Ungewöhnlich sei das, so Teusch, im Journalismus sicherlich nicht, aber Nekrasov habe, als er bemerkte, dass die Realität seine Meinung erschüttere, seine Recherchen nicht etwa abgebrochen, sondern sie weitergeführt. Teusch hebt hervor: "Ein journalistisches Arbeitsethos dieser Art sollte eigentlich selbstverständlich sein - aber ist es das? Journalistenkollegen müssten jemanden wie Nekrasov eigentlich bewundern, ihm den Rücken stärken - aber tun sie das?"

Der Politikwissenschaftler verweist auf die bisherigen Arbeiten von Nekrasov. So habe dieser einen Film über den Giftmord an Alexander Litvinenko gedreht, außerdem gehe Nekrasov davon aus, dass die Terroranschläge von 1999 in einer russischen Siedlung auf eine tiefenpolitische Aktion des russischen Geheimdienstes FSB zurückzuführen seien, um Russland eine Intervention im Tschetschenien-Konflikt zu ermöglichen. Darüber hinaus merkt Teusch an, eine Veranstaltung in einem Saal des EU-Parlaments, bei der die Doku von Nekrasov gezeigt werden sollte, sei zu einem Zeitpunkt, als die Gäste bereits da waren, abgesagt worden.

Teusch verweist Informationen, die auf der Webseite von Gilbert Doctorow "European Coordinator" des American Committee for East West Accord zu finden sind, wonach es zwei Interventionen geben habe, um zu verhindern, dass der Film aufgeführt wird: Eine von der Grünen-Politikerin Marieluise Beck (Die Grünen: Parteiferne Anstiftung), die aber keinen großen Einfluss gehabt habe, die andere, die entscheidend gewesen sei, "came from the general director of the main sponsor of the film project, the German television channel ZDF. He told Nekrasov to stop the showing of the film because he had been threatened by Browder’s lawyers with law suits that would spell the financial ruin of the company."

Teusch fragt: "Und was heißt das? Dass ein mächtiger Mann seinen Einfluss geltend macht und eine große europäische Fernsehanstalt nötigt, klein bei zu geben?"