"Air Rage" wegen sozialer Ungleichheit

First-class Lounge in einer Swissair Convair CV-990. Bild: Alexander Datsenko/CC-BY-SA-4.0

Warum rasten Menschen aus, wenn sie im Flugzeug sitzen?

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In einem Flugzeug eingepfercht zu sein und von A nach B zu fliegen, ist heutzutage kein Spaß mehr - zumal in Billigfliegern. Die Sitze sind ungefähr so bequem wie die Stühle in der Grundschule. Obendrein sind die Sitze so dicht angeordnet, dass man sich wie ein Huhn in der Legebatterie fühlt.

Eine 0,5-Liter-Wasserflasche kostet 3 Euro (Ryan Air), Tritte vom hinter uns sitzenden Fluggast gibt es aber gratis. Die Brötchen sind so hart, dass man damit Baseball spielen könnte. Der Sitznachbar stinkt oder betrinkt sich mit steuerfreiem Alkohol und beleidigt das Flugpersonal. Und Raucher gucken sehnsüchtig auf die Aschenbecher, die noch vereinzelt in den Armlehnen der Flugzeugsitze angebracht sind. Und zu allem Überfluss: Man kann nicht mal eben den Haltewunschknopf drücken und aussteigen.

Grund genug also, im Flugzeug auszurasten. Dafür gibt es sogar einen Begriff: "Air Rage". Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 haben Ausraster in Flugzeugen weltweit stark zugenommen. Die Internationale Luftverkehrs-Vereinigung IATA berichtet von 38.230 Zwischenfällen ("unruly passenger incidents") zwischen den Jahren 2007 und 2014. Das entspricht etwa 65 Zwischenfällen pro 100.000 Flüge. Im Jahr 2015 erhöhte sich die Anzahl auf 78 Ausrastern pro 100.000 Flüge.

Die gängige These lautet: Schuld an einem "Air Rage" seien vor allem enge Sitzreihen und überfüllte Kabinen. Mag sein. Vielleicht sind die massiven Sicherheitskontrollen verantwortlich, gerade bei Reisen in die USA. Mag auch sein. Doch eine im Mai 2016 veröffentlichte Studie der Psychologen Katherine DeCelles und Michael Norton bringt einen ganz anderen Faktor ins Spiel: soziale Ungleichheit.

Für ihre Studie haben DeCelles und Norton über eine Million Flüge analysiert und dabei diverse Daten über Beinfreiheit, Sitzgröße und sogar Verspätungen einberechnet. Zunächst verblüfft es nicht, dass sich die Ausraster auf längeren Flügen häufen, und wenn ein Flieger verspätet ist, erst recht. Überraschend ist aber das folgende Ergebnis:

Die Wahrscheinlichkeit für einen Ausraster in der Economy Class erhöht sich um den Faktor 3,84, wenn das Flugzeug auch eine Business Class hat - diesem Faktor für einen möglichen Ausraster entspreche eine 9,5-stündigen Flugverspätung. Entscheidend kann auch sein, an welcher Stelle die Fluggäste einsteigen: Wenn sie beim Einsteigen durch die Business Class laufen müssen, um zur Economy Class zu gelangen (statt direkt über die Fluggastbrücke zur Economy Class zu gelangen), ist die Wahrscheinlichkeit für einen Ausraster um 2,18 mal höher - dieser Faktor für einen möglichen Ausraster komme einer 6-stündigen Flugverspätung gleich.

Moderne Flugzeuge sind ein sozialer Mikrokosmos einer klassenbasierten Gesellschaft. Die vermehrten Vorfälle von "Air Rage" lassen sich vom Blickpunkt der Ungleichheit her erklären. Werden Menschen an ihren sozialen Status erinnert, so werden sie durchschnittlich ungeduldiger, anspruchsvoller und weniger mitfühlend.

Katherine DeCelles und Michael Norton, Autoren der Studie

Dabei ist es keineswegs so, dass nur die Passagiere der Economy Class randalieren. Während die Ausraster in der Economy Class auf die genannten Punkte zurückzuführen seien, wären die wohlhabenderen Passagiere der Business Class auffällig streitlustig, oft wegen Nichtigkeiten, so die Autoren. Aus Sicht eines Economy Class-Reisenden mag man da nur mutmaßen: Champagner zu warm, Hummer zu klein, ausklappbare Massageliege zu kurz, so was eben.

Interessant ist auch: Laufen die Passagiere der Economy Class beim Boarding durch die Business Class, sind Ausraster in der Business Class fast 12-mal häufiger verzeichnet worden. Aus einer anderen aktuellen Studie weiß man: Sobald wohlhabende US-Amerikaner in ihrem Wohnviertel mehr soziale Ungleichheit wahrnehmen, werden sie weniger großzügig. Die Forscher vermuten, dass sich die Reichen in ihrer Rolle bestätigt und berechtigt fühlen und dass sie den Armen die Schuld für deren Armut in die Schuhe schieben wollen - die klassische Opferschelte also.

Kurzum: Erst wenn sich die soziale Schere zwischen Arm und Reich schließt, dann haben wir sie wohl, die "World Class, Worldwide" (Slogan von Air Canada).

Patrick Spät lebt als freier Journalist und Buchautor in Berlin.