Arbeitet die türkische Regierung an der Schaffung eines neuen DAISH?

Gelb: Kurden, Rot: Syrisches Regime, Grau: IS, Grün: "Rebellen". Bild: Spesh531/GFDL

Erdogan soll an der Gründung einer neuen syrischen oppositionellen "Armee" namens "Jaisch al-Shamal" in Nord-Aleppo arbeiten, in die auch Mitglieder der radikalislamistischen Gruppen aufgenommen werden sollen

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Politisch und diplomatisch macht die türkische Regierung alles, um eine Beteiligung der (kurdischen) Selbstverwaltung in "Rojava-Nordsyrien" an den Genfer Syrien-Verhandlungen zu verhindern. Gleichzeitig scheint der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan mit der Schaffung eines neuen DAISH in Syrien beschäftigt zu sein. "DAISH" ist die arabische Bezeichnung für den "Islamischen Staat im Irak und Syrien" (ISIS).

Ankaras Ziel, das Assad-Regime in ganz Syrien zu stürzen, scheint nicht aufzugehen. Auch das Abtreten einer der wichtigsten Autoren von Erdogans "islamistisch-sunnitischem" Projekt für Syrien, Ahmet Davutoglu, ist ein weiterer Hinweis für das Scheitern der bisherigen türkischen Syrien-Politik.

Nun häufen sich viele Hinweise auf eine "neue alte" Strategie von Erdogan: Zumindest in der "Shahaba-Region" (Nord-Aleppo), zwischen den beiden (kurdischen) Enklaven Afrin im Westen und Kobani im Osten, soll nach Assads Diktatur ein sunnitisch-islamistisches Gebilde unter türkischer Herrschaft entstehen. Bisher war es die Aufgabe des IS, dort die Kurden unter Kontrolle zu haben.

Hinter den Kulissen arbeitet Erdogan an der Gründung einer neuen syrischen oppositionellen "Armee" namens "Jaisch al-Shamal" (dt.: Armee des Nordens) mit 20.000 Kämpfern. In dieser Armee sollen alle in Nordsyrien kämpfenden Gruppen aufgenommen werden. Auch IS-Kämpfer, die sich vom IS absetzen, dürfen aktiv in dieser neuen Gruppe kämpfen. Der türkische Geheimdienst soll am 13. Mai 2016 den IS, Al-Nusra, Ahrar al-Sham und Jaish al-Islam in einer Mitteilung darüber in Kenntnis gesetzt haben, dass ihre Kämpfer sich ab sofort dem Kommando der neuen "Jaish al-Schamal" zu unterstellen haben. "Sollte sich eine Gruppe dem widersetzen, wird sie von der Türkei nicht mehr unterstützt und stattdessen bekämpft." Dieses Vorhaben der Türkei soll auch von den USA unterstützt werden, sagen Beobachter in Nordsyrien. Diese Informationen wurden weder bestätigt noch dementiert.

Die Beobachter vor Ort in Syrien sind sehr gespannt auf eine Reaktion aus Ankara, aber auch aus Damaskus und Teheran. Interessant wären auch vor allem die Reaktionen aus Moskau. Wird Moskau ein Eindringen protürkischen Gruppen in diesem Ausmaß hinnehmen oder ist es zwischen Moskau und Ankara zu einer geheimen Einigung darüber gekommen? Diese Fragen stellen sich einige Beobachter. Wer aber mit dem Verhalten der türkischen Regierung und ihrer Vorgangsweise in der syrischen Krise vertraut ist, kann diese Informationen nicht von der Hand weisen.

Während meines Aufenthalts in Nordsyrien Ende März 2016 sprach ich mit vielen Politikern, Journalisten und einfachen Bürgern aus allen Teilen Syriens. Seit mindestens 2012 duldet das türkische Militär den IS und andere Radikalislamisten, die Kurden und ihre christlichen und yezidischen Nachbarn ermorden, vertreiben und vergewaltigen.

Viele Menschen, Kurden und Christen, in Nordsyrien glauben fest daran, dass die türkische Regierung die Radikalislamisten finanziell, politisch und diplomatisch unterstützt. Ankara ergreife für die islamistischen bewaffneten Gruppen wie z.B. die Al-Tawhid-Brigaden, Ahrar al-Sham, Syrische Islamische Front (SIF) offen Partei. Über die Türkei, NATO-Mitglied, kämen die meisten Dschihadisten nach Syrien. "Es wurde zu spät zur Kenntnis genommen, dass diese Islamisten auch für Europa eine Gefahr werden. Wer einen tollwütigen Hund versorgt, wird von ihm irgendwann selbst gebissen", sagte mir ein Christ aus Al Hasakeh am 25.03.16.

Die Türkei behindert den "Anti-IS-Krieg"

Immer wenn meine Gesprächspartner in Qamischli, Amuda, Kobani oder Al Hasakeh erfahren haben, dass ich aus Afrin stamme und meine Mutter und einige Geschwister von mir noch dort leben, wurde ich gefragt, ob ich bereits in Afrin wäre oder noch hinfahren würde. Gesprächspartner, die diese Frage stellten, dachten gar nicht viel nach: Eine Fahrt von Kobani nach Afrin käme überhaupt nicht in Frage.

Das Gebiet westlich von Euphrat von Dscharabulu über Azaz bis nach Afrin, also zwischen Kobani und Afrin, befindet sich seit Jahren fest in der Hand des IS bzw. unter der Kontrolle der mit Ankara befreundeten islamistischen Gruppen. Die Entfernung zwischen dem letzten YPG-Posten (bzw. der SDF) im Osten bis zum ersten YPG-Posten im Westen, also in der Nähe von Afrin, sind per Luftlinie nur etwa 75 km. Kein Kurde, ausgenommen die mit der türkischen Regierung kooperieren, würde diese auf den ersten Blick kurze Strecke fahren. Das würde einen sicheren Tod bedeuten. Das Gebiet zwischen Dscharabulu und Afrin wird neuerlich als "Shahaba" bezeichnet.

Seit Jahren versuchen YPG und ihre arabisch-sunnitischen Verbündete den IS aus "Shahaba" zu verdrängen. "Es wäre sehr einfach, den IS und andere Radikalislamisten aus Shahba zu vertreiben und einen Korridor zwischen Kobani und Afrin zu eröffnen. Die USA lehnen jedoch jeden militärischen Vorstoß der YPG in dieser Region ab", sagt eine Befehlshaberin der YPG/YGJ am 21. März in Kobani. Der türkische Präsident Erdogan reagierte auf das Kappen der Verbindung Türkei - ar-Raqqa, wo sich die Hauptstadt des IS befindet, und die Beendigung der Einkesselung von Kobani, sehr heftig. Erdogan bekam es durch diese Entwicklungen im Norden Syriens mit der Angst zu tun. Missgünstig verfolgte er, wie die Volksverteidigungseinheiten (YPG) entlang der türkischen Grenze immer weitere Landstriche unter ihre Kontrolle brachten (Tall Abyad/Girê Sipî: Angelpunkt im Kampf gegen den IS). Das Gebiet "Shahaba" umfasst die Ebene im Norden und Osten von Aleppo, also Azaz, Al-Bab, einen großen Teil von Manbidsch, einen Teil von Sfireh. Shahaba ist eine historische Bezeichnung für diese Region. In dieser Region leben traditionell Kurden, Araber und Turkmenen. Im Gebiet soll es noch 450 bewohnte Dörfer geben. Dort leben schätzungsweise 1,8 Millionen Menschen. 217 Dörfer sind nur von Kurden bewohnt (Google Maps).

Die Kurden in dieser Region sind seit der Unabhängigkeit des syrischen Staates 1946 einer systematischen Zwangsassimilation und Arabisierung ausgesetzt worden. Da die kurdische Sprache in Syrien oft verfolgt wurde und es auch keine kurdischen Schulen gab, haben viele Kurden ihre Sprache verlernt. In den Familiennamen und den Bezeichnungen der Dörfer kommen aber immer noch kurdische Begriffe vor.

Die Mehrheit der Bevölkerung, allen voran die kurdische, fordert, dass der IS aus diesem Gebiet vertrieben wird und die Region unter die Kontrolle der "Syrian Democratic Forces" bzw. der YPG kommt. So könnte ein Korridor zwischen Afrin und Kobani geöffnet werden. Zurzeit ist die Verbindung zwischen Kobani und Afrin, wenn überhaupt, nur über den Luftweg von Qamischli nach Damaskus und dann über den Landweg in den Norden möglich. Auch aus diesem Grunde fordert die Bevölkerung die sofortige Vertreibung des IS und anderer Radikalislamisten aus dieser Region, um Shahaba über den Landweg direkt erreichen zu können. Dann können die Regionen Cazîra, Kobani und Shahaba mit Afrin gemeinsam eine föderale Region innerhalb Syriens bilden. In dieser Region müssen dann alle Ethnien und Religionsgemeinschaften gleichberechtigt leben.

Die Mehrheit der Bevölkerung lehnt die Anwesenheit der Radikalislamisten in diesem Gebiet ab. Und auch der beabsichtigten Errichtung eines Scharia-Staates in der Region wird eine Absage erteilt. Dieses Ziel wird von islamistischen Gruppen verfolgt, die von der Türkei unterstützt werden. Unter der Herrschaft dieser Gruppen wird es weder ethnische noch religiöse Gleichberechtigung wie für Kurden, Araber, Armenier, Turkmenen, Muslime, Yeziden, Christen und Alawiten, auch nicht für Frauen geben.

Erdogans "Schutzzone" ist gefährlich

Ausgerechnet in der Shahba-Region will die türkische Regierung eine "Schutzzone" errichten, um dort angeblich syrische Flüchtlinge anzusiedeln. Die von Ankara geplante "Schutzzone", wird nach Überzeugung vieler Menschen in Nordsyrien, allen voran den Christen, zu einer Basis für radikalislamistische Gruppen, die die Kurden, Christen und andere Minderheiten terrorisieren werden.

Die von der Türkei geplante "Schutzzone" wird von den Menschen in Nordsyrien mit dem pakistanischen Peshawar verglichen. In Peshawar, wo sich viele afghanische Flüchtlinge aufhielten, entstanden in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts mit Unterstützung oder Duldung des pakistanischen Geheimdienstes die afghanischen Taliban und Al-Qaida. "Wenn die türkische Regierung wirklich eine 'Schutzzone' für syrische Flüchtlinge will, soll sie bitteschön aufhören, die bereits existierende Schutzzone, Rojava-Nordsyrien, zu bedrohen. Ankara muss aufhören, diese relativ stabile und friedliche Region angreifen…", sagte ein Flüchtling aus dem Dorf Ihras, Nord-Aleppo, den ich in Kobani am 21. März gesprochen habe.

Kamal Sido ist Nahostreferent der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV).