"Wir wollen unser Land zurück"

Bild (verändert): Armin Linnartz/CC-BY-3.0

Willy Wimmer sieht die CDU "abgemeiert" und beklagt die Arroganz von oben - Ex-Verfassungsrichter Bertrams kritisiert Merkels "Viererrunde": War die Ermächtigung zur Strafverfolgung Jan Böhmermanns rechtswidrig?

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Für diejenigen Bürger, die noch die alte Bundesrepublik erlebt haben, ist seit Jahren erkennbar, wie wenig unser Land noch mit dem zu tun hat, was Willy Brandt in dem Satz zum Ausdruck gebracht hat, nachdem "unser Land und wir alle mehr Demokratie wagen" sollten. Das war unser Leben und heute laufen wir mit Volldampf in einen neuen Obrigkeitsstaat, zu dem die Migrationskrise auch missbraucht wird.

Willy Wimmer (CDU) im RT-Deutsch-Interview

Er ist gestandener Parlamentarier und gerne Störenfried: Willy Wimmer (73), ehemaliger Staatssekretär im deutschen Verteidigungsministerium und von 1976 bis 2009 ununterbrochen direkt gewählter Abgeordneter der CDU, hat in einem Interview mit RT-Deutsch Dampf abgelassen. Deutschland habe seine Verantwortlichkeit in Kernbereichen längst "nach Brüssel abgegeben", Interessengruppen hätten die Kontrolle am Staatsbürger vorbei an sich gerissen und bestimmten, ohne uns zu fragen, unser Leben. Seine Bestandsaufnahme gipfelt in der Erkenntis: "In Berlin ist doch Wüste."

Demokratischer Zentralismus, sozialpolitisches "Nirwana"

Seine Partei, die CDU, so Wimmer, halte sich im sozialpolitischen "Nirwana" auf. Seit Jahren habe man den Eindruck, dass die CDU nach den Gesetzmäßigkeiten des "demokratischen Zentralismus" von der Parteivorsitzenden von oben nach unten durchregiert wird. Damit zielt Wimmer auf die Kanzlerin und stellt ihr Handeln in den geschichtlichen Kontext: "Demokratischer Sozialismus war das Prinzip im Aufbau der einstigen SED: Von oben nach unten hat die gewählte Parteiführung die Direktiven durchgegeben, denen alle Parteimitglieder Folge zu leisten hatten."

Die Menschen wollten eine Bundeskanzlerin und keine "Zarin". Bei genauerer Betrachtung von Wahlergebnissen hierzulande sei festzustellen, "dass von der Partei Die Linke über die SPD bis hin zur CDU die Menschen fluchtartig ihre bisherigen 'Parteien des Vertrauens' verlassen". Die Kompetenzen mündiger Staatsbürgers seien nicht gefragt, stattdessen regierten blutleere Bürokraten und Lobby-Vertreter von Brüssel aus. Wimmer: "Wir wollen unser Land zurück und zwar von denjenigen, die es sich unter den Nagel gerissen haben."

Große Koalition im Freistil

Ins gleiche Horn bläst unterdes Michael Bertrams (68), von 1994 bis 2013 Präsident des Verfassungsgerichtshofs NRW. Unter dem Titel "Große Koalition im Freistil" bemängelt er die Ermächtigung zur Strafverfolgung des Satirikers Jan Böhmermann - die erfülle nämlich nicht die Vorgaben des Gesetzes. Die Justiz müsste das Verfahren deshalb einstellen, fordert der Ex-Verfassungsrichter im Interview mit dem Kölner Stadt-Anzeiger.1 Auch hier lautet der Vorwurf: Angela Merkel regiere unerträglich autokratisch, sie setze sich über Verfassung und über die Geschäftsordnung der Bundesregierung hinweg.

Zur Erinnerung: Am 15. April hatte die Kanzlerin nach einigem Zögern bekannt gegeben, die Bundesregierung werde dem Gesuch der Türkei entsprechen und die Ermächtigung zur Strafverfolgung wegen Beleidigung eines ausländischen Staatsoberhauptes (Paragraf 103 des Strafgesetzbuchs, StGB) erteilen. Am 26. April ist diese Ermächtigung bei der zuständigen Staatsanwaltschaft in Mainz, dem Sitz des ZDF, eingegangen.

"Ermächtigung" nach Gutsherrenart

Merkel erklärte öffentlich, die im Paragrafen 104a StGB geforderte Ermächtigung sei von "der Bundesregierung" erteilt worden. Davon, so Bertrams, könne jedoch keine Rede sein: Was unter "Bundesregierung" zu verstehen sei, ergebe sich aus Artikel 62 des Grundgesetzes, wonach die Bundesregierung "aus den Bundesministern und dem Bundeskanzler" besteht. Bertrams: "’Bundesregierung’" meint also grundsätzlich das Kollegium, das Bundeskabinett als Ganzes. Davon geht auch das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung aus."

Konkret bedeute dies, wenn das Gesetz die Strafverfolgung ausdrücklich von einer Ermächtigung der "Bundesregierung" abhängig mache, so sei damit ebenfalls das Bundeskabinett als Ganzes gemeint. Bertrams Resümee: "Die Ermächtigung zur Strafverfolgung Jan Böhmermanns hätte demnach dem Bundeskabinett in Berlin als Ganzes zur Beratung und Beschlussfassung unterbreitet werden müssen." Merkels Vierergremium dagegen - das Auswärtige Amt, die Ministerien für Justiz und Inneres sowie das Kanzleramt - sei weder von der Verfassung noch in der Geschäftsordnung der Regierung mit einer eigenen Entscheidungsbefugnis ausgestattet. Zudem hatten der Außen- und der Justizminister dagegen gestimmt.

Ergo: Demokratie geht anders. Während unsere Oberen mit dem politischen Eiertanz beschäftigt sind, den Deal mit dem schwierigen Mann am Bosporus irgendwie auch moralisch passend zu machen, plant der biedere Deutsche - jedenfalls der, der es sich leisten kann - seinen Urlaub. Willy Wimmer nennt das Bevorstehende einen "Sommer des Missvergnügens". Will heißen: Auch in Freizeitklamotten entkommen wir nicht der "Berliner Wüste" samt ihrem autokratischen Gebaren. Die "Zarin" indes bekommt es gerade mit drastisch sinkenden Zustimmungswerten zu tun.