Die Natur ist aus dem Gleichgewicht geraten

Im Umweltgutachten des Sachverständigenrats für Umweltfragen (SRU) werden viele von der Agrarindustrie verursachten Probleme ausgeklammert

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Alle vier Jahre legen die Experten vom Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) ein Umweltgutachten vor, in dem sie Missstände aufzeigen und Vorschläge für mehr Umweltschutz unterbreiten. Auch in dem aktuellen SRU-Umweltgutachten: Impulse für eine integrative Umweltpolitik (Mai 2016) gehören Klimaschutz, Energieeffizienzmaßnahmen, Reduzierung der Treibhausgase und Carbon-Leakage-Risiko zu den häufigsten Schlagworten. Die Rede ist von einer Vorreiterrolle Deutschlands, von einem nachhaltigen Umbau der Industriegesellschaft. Ressourcennutzung, Emissionen und Abfälle müssten deutlich gesenkt werden, um das Klima zu schützen. Das sind keine besonders neuen Erkenntnisse. Vor allem kommt es jetzt auf die Umsetzung an.

So ist die deutsche Industrie für mehr als 20 Prozent der Treibhausgasemissionen direkt verantwortlich, darüber hinaus für rund 30 Prozent des Endenergieverbrauchs. Bestimmte Industriezweige wie Verarbeitung von Papier und Glas sowie Steine und Erden, Metallerzeugung und Gießereien arbeiten besonders energieintensiv. Sie verbrauchen 64 Prozent der industriellen Endenergie und emittieren die meisten industriellen Treibhausgase. Nötig seien starke Anreize zur Energieeffizienzsteigerung und Kohlendioxid-Minderung.

Die Autoren fordern nicht weniger als eine "ökologisch motivierte Transformation der Industriegesellschaft". Doch wie soll die konkret aussehen, wenn gleichzeitig der Industriestandort Deutschland, in dem Kohle und Erdöl die wichtigsten Energieträger sind, als solcher erhalten bleiben soll?

Der Flächenverbrauch in Deutschland wird mit dem demographischen Wandel in Zusammenhang gebracht. Dieser könne dabei helfen, den Verbrauch - wie angestrebt - von 69 Hektar pro Tag bis 2030 gegen Null zu senken. So würde in Ballungsräumen auf Grund hoher Mietpreise weniger Fläche verbraucht als in ländlichen Regionen. Vorhandene Gewerbeflächen müssten effizienter genutzt werden.

Wenn weniger Fläche versiegelt wird, mögen sich die Wissenschaftler gedacht haben, sollte mehr Raum für "Wildnis" übrig bleiben. Aktuell nimmt die deutsche Wildnis 117.000 Hektar in insgesamt 16 Nationalparks ein. Das sind 0,6 Prozent der Gesamtfläche, die bis 2020 auf zwei Prozent erhöht werden soll. Insgesamt hätten 3,5 Prozent der Landesfläche das Potential für weitere Wildnisgebiete.

Kein Zweifel, Natur hat ihren Eigenwert, ist wichtig für Erholung und Bildung und muss für kommende Generationen erhalten bleiben. Zu den konkreten Problemen, die sich aus dem Spannungsfeld zwischen Natur und Landnutzung ergeben, wird allerdings kaum bis gar nicht Stellung bezogen.

So klagen Landwirte seit Jahren über die wachsende Zahl an Wildschweinen, welche gravierende Schäden auf ihren Äckern anrichten. Waschbären, die hierzulande keine natürlichen Feinde haben, machen sich im Frühjahr über einheimische Bodenbrüter her, ähnlich der eingewanderte Marderhund, der sich außerdem von Amphibien, Eiern und Jungtieren der Bodenbrüter ernährt.

Auf der anderen Seite werden sich wieder ansiedelnde Wölfe einfach abgeschossen. Die Natur ist aus dem Gleichgewicht geraten. Dafür gibt es Ursachen, die u. a. der Mensch zu verantworten hat. Das hätte hier erwähnt werden müssen.

Giftige Pestizide sollen weiter erlaubt sein

Zwar werden die Gefahren, welche Insekten und Bewohner natürlicher Gewässer sowie bestäubende Insekten und Vogelarten schädigen, ausführlich beschrieben. Kein Wort zur Abdrift von Pestiziden. In der Konsequenz daraus werden eine bessere Umweltrisikobewertung und effizienteres Management empfohlen. Nach seitenlangen Erklärungen über die Gefährlichkeit von Pestiziden können sich die Öko-Weisen trotz allem nicht dazu durchringen, wenigstens Glyphosat oder Neonikotinoide verbieten zu lassen.

Immerhin raten sie zum Anlegen von Blüh- und Gewässerrandstreifen, wo der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln untersagt ist. Die Lösung aller Probleme erhofft man sich von einer Abgabe auf Pflanzenschutzmittel. Das vereinnahmte Geld soll dazu dienen, entstandene Schäden durch Pestizide zu reparieren. Nebenbei werde der Verbrauch von Chemikalien dann automatisch sinken.

Die Probleme, welche die Agrarindustrie weltweit verursacht, werden noch nicht mal angedeutet: Soja, der wichtigste Eiweißträger für europäische Nutztiere, wächst auf den Äckern Südamerikas, wo ohne Rücksicht auf Mensch und Umwelt massenhaft Glyphosat mit Flugzeugen verteilt wird - auf Kosten der Gesundheit der Anwohner. Nachweislich erkranken in den betreffenden Regionen mehr Menschen als anderswo.

Um immer mehr Ackerflächen für den Soja-Anbau zu schaffen, werden tausende Hektar wertvoller Regenwald gerodet. Dies alles geschieht, um die Regale unserer Supermärkte mit billigem Fleisch zu überschwemmen. Infolge der Dumpingpreise verdienen einheimische konventionelle Schweinemäster kaum mehr genug, um ihre laufenden Kosten zu decken.

Sicher ist das Zusammenspiel zwischen vom Menschen verursachten Klimawandel, Rückgang der Artenvielfalt und anderen negativen Umweltauswirkungen sehr komplex. Vor allem macht es vor Ländergrenzen nicht Halt. Doch wer von Klimaschutz und Flächenverbrauch spricht, darf diese Zusammenhänge nicht ausklammern. In ein wissenschaftliches Papier mit diesem Anspruch hätte das mit hinein gehört. So bleibt das Gutachten, wie die taz kritisiert, auch nur eine "vorsichtige Handlungsanleitung". Für einen wirksamen Umweltschutz braucht es aber verbindliche Regelungen.