Glaube als Fleischbrühe

Leipziger Allerlei: Katholikentag wird Atheistentag - Grüne Schals und keine Botschaft

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Kardinal Reinhard Marx, der nicht aussieht, als ob er schon mal einen Flüchtling aus der Nähe gesehen hätte, gibt sich ganz auf Linie mit dem päpstlichen Jahresmotto ("Barmherzigkeit"). Beim Open-Air-Abschlussgottesdienst in Leipzig verpasst er simple humanistische Streicheleinheiten. "Wenn jemand an unsere Grenze kommt, dann muss er menschlich behandelt werden." Alles klar, eine einfache Botschaft, Widerspruch von vornherein ausgeschlossen. 15.000 Besucher waren nach Schätzungen bei der "Nacht der Lichter" dabei. So kommt Wellfeeling auf. Ob den Lichtschwenkern aber auch ein Licht aufging?

"Seht, da ist der Mensch", lautete das Motto des 100. Deutschen Katholikentags, aber siehe da, viele Menschen blieben einfach fern. Hunderte Bänke und Sitzplätze in den Zelten und Foren - leer.

Eine Erklärung: In Leipzig, dem diesjährigen Austragungsort, sind nur 4,3 Prozent der Bevölkerung katholisch, 82 Prozent sind konfessionslos. Da hilft die Prayerbox mit Gebetstext, Kreuz und Weihwasser auch nicht viel. Diejenigen, die da waren, sahen das Event als Zeitvertreib - jedenfalls offenbar die Mehrzahl.

"Glauben? Hmm."

Die "Badische Zeitung" liefert ein signifikantes Beispiel: Ein Leipziger in Jeansjacke, so um die 50, nach seinem Glauben befragt, kratzt sich am Kinn, brummelt ins Mikro: "Glauben? Hmm." Die gestellte Frage war wohl nicht so einfach, sie lautete, ob und wenn ja, was er persönlich glaube. Nun weiß er es: "Der Glaube ist eine Sache für sich", sagt er. "Ich glaube, dass ein guter Knochen eine gute Fleischbrühe ergibt." Dann grinst er, angetan von seiner eigenen Witzigkeit, und stiefelt weiter.

"Glaube", so lässt sich Ute Elisabeth Gabelmann (35), Piratin im Leipziger Stadtrat, auf dem Festival ähnlich kritikfreudig vernehmen, "ja, das ist wie der VFL Bochum. Das geht völlig an mir vorbei."

Leipzig, es ist Wochenende, man sieht Leute mit dem 640-seitigen Programm in der Hand umherwandern. Ein Großteil des Programms widmet sich der Überschrift: "Leben mit und ohne Gott". Auch hier: Leere Stuhlreihen. Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke) stammt aus einer protestantischen Familie und bekennt sich öffentlich dazu zu beten - für ihn hat die totalitäre DDR den Leuten den Glauben ausgetrieben.

Aber ist das die einzig vernünftige Erklärung für das krasse Desinteresse? Die Historie enthält genügend Beispiele, die zeigen, dass gerade unter despotischen Systemen1 enorme Glaubensimpulse sich ihren Weg bahnten. Zum Beispiel im ersten Jahrhundert im Römischen Reich während der Zeit, als überall Christengemeinden gegründet wurden - trotz Widerstand und blutiger Verfolgung.

Glaube als Zeitvertreib? Der 100. Katholikentag bietet Anschauungsunterricht. Katholischer Glaube - wie Fleischbrühe oder wie der VFL Bochum? Jede Menge Zelte und Pavillons, rund tausend Veranstaltungen, 40.000 Gäste, ein Haufen Politprominenz. Baden-Württembergs Vorzeige-Ministerpräsident Kretschmann warnt professionell vor Populismus und völkischem Gedankengut. Besucher und Gläubige diskutieren über Nationalismus und TTIP. Immer wieder auch hier: Leere Reihen, freie Plätze. Was war noch gleich die Botschaft in Leipzig? Wie das Signal?

"Reines Desinteresse"

"Sie kommen offensichtlich gut zurecht ohne Gott", sagt Gregor Giele, Pfarrer der Leipziger Propsteikirche, "sie vermissen gar nichts, halten sich für die Normalen." Er meint die Atheisten. Mit klassischen Atheisten, so Giele resigniert, könne man debattieren und streiten. Aber was er und seine geistlichen Mitstreiter in und um Leipzig erfahren, sei etwas anderes: reines Desinteresse. Auch Innenminister Thomas de Maizière und Sozialministerin Andrea Nahles waren nicht imstande, zu begeistern. Politik - okay, aber Politik hilft dem Glauben offenbar auch nicht auf die Beine, zumal in Zeiten, in denen "Kirche" sich preiswert humanistisch gibt, jedoch ohne anzuecken. Das Ergebnis? Ganze Stuhlreihen - einfach leer.

"Halte von uns fern, was uns schadet", säuselt Reinhard Marx, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, vor der Menschenmenge, die er sich gern wohl üppiger gewünscht hätte. Ferngehalten vom Katholikentag hat das Zentralkomitee der Deutschen Katholiken (ZdK) als Veranstalter vor allem die Alternative für Deutschland, bemerkt süffisant das Deutschlandradio; Vertreter der AfD hätten der Debattenkultur nur geschadet, meint ZdK-Präsident Thomas Sternberg.

Die Kirche müsse "mit peinlicher Sorgfalt alles entfernen und ausmerzen, was gegen den Glauben ist oder dem Seelenheil irgendwie schaden könnte", so einer der überlieferten und bis heute wohl gültigen katholischen Glaubenssätze2. Freilich, Doktrinäres verträgt sich nicht mit dem Wellfeeling von Leipzig.

Kurioserweise scheint die katholische Institution jedoch gerade dabei zu sein, ihren eigenen Glauben auszumerzen. Eine angeschlagene Kirche: 217.716 Schäfchen kehrten ihr 2014 den Rücken. Das schwankende Kirchenschiff wandelt sich - das lehrt Leipzig auch - in eine Kirche ohne Glauben. Was bleibt, ist Leipziger Allerlei: Ein bisschen Seelenmassage, eine Portion Politik, problemfreie Unterhaltung (diesmal in Form der "Wise Guys"), ansonsten unverbindlicher Symbolismus - grüne Schals und willkürliche Bibelsprüche, die ohne Spirit einfach nicht zünden wollen.