NSU-Ausschüsse: Kämpfe an der V-Leute-Front

Verfassungsschutzpräsident Maaßen muss sich wegen der Spitzel Richter und Marschner verantworten - Neue Zweifel an Todesumständen von "Corelli"

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Eigentlich wollte sich der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages in seiner letzten Sitzung am Donnerstag, den 2. Juni, ganz auf den Fall des Verfassungsschutz-V-Mannes Ralf Marschner alias "Primus" konzentrieren. Marschner soll den mutmaßlichen NSU-Mörder Uwe Mundlos in seiner Firma beschäftigt haben. Doch dann kam erneut die Personalie des toten V-Mannes Thomas Richter alias "Corelli" mit auf die Tagesordnung. Weil vor wenigen Wochen bekannt wurde, dass im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) ein weiteres Handy "Corellis" gefunden worden war, musste nun der BfV-Präsident, Hans-Georg Maaßen, dem Ausschuss in nicht-öffentlicher Sitzung Rede und Antwort stehen.

Zur gleichen Zeit war "Corelli" aber auch im NSU-Untersuchungsausschuss von Nordrhein-Westfalen Thema. Dort machte der Mediziner Werner A. Scherbaum eine elektrisierende Aussage. Er korrigierte sein Urteil von 2014, nach dem Richter an einer nicht erkannten Diabetes gestorben sein müsse. Richter war Anfang April 2014 zuhause tot aufgefunden worden. Die Obduktion ergab als Todesursache einen komatösen Zuckerschock. Der Diabetologe Scherbaum kam zu dem Schluss, Auslöser müsse eine nicht erkannte Diabetes gewesen sein.

Diese Eindeutigkeit nahm er nun zurück. Ihm sei damals die Tragweite des Falles nicht bewusst gewesen. Er habe sich in der Zwischenzeit weiter kundig gemacht und sei auf zwei Stoffe gestoßen, die dieselben Symptome eines Zuckerschockes erzeugen können. Und einer dieser Stoffe finde sich in Rattengift. Der Untersuchungsausschuss gab daraufhin eine erneute toxikologische Untersuchung der asservierten Körperteile Richters in Auftrag.

Die Aussage des Gutachters Scherbaum wurde in Düsseldorf erst gemacht, als der BfV-Präsident die Abgeordneten in Berlin bereits wieder verlassen hatte. Sie konnten ihn damit nicht konfrontieren.

Schließlich traten am Donnerstag im NSU-Prozess in München mehrere Opferanwälte der Nebenklage dem Beschluss des Gerichtes entgegen, Ralf Marschner nicht als Zeugen zu hören. Einen solchen strafprozessualen Schritt hatte es bisher in dem Verfahren nicht gegeben.

Berlin, Düsseldorf, München. Der unterdrückte NSU-Komplex, so scheint es, drückt mit aller Macht an die Oberfläche. Die Auseinandersetzungen um Aufdeckung oder Verschleierung werden entschiedener.

Drei Wochen zuvor, am 11. Mai, war es noch der Vize des BfV, der den Abgeordneten des NSU-Ausschusses beichtete, in seinem Amt sei vor fast einem Jahr ein Mobiltelefon gefunden worden, das man erst jetzt dem Ex-V-Mann "Corelli" zuordnen konnte (siehe NSU: Bundesamt für Verfassungsschutz findet Handy von totem V-Mann "Corelli"). Jetzt musste der BfV-Chef persönlich erscheinen. Über die fast zweistündige Sitzung wurde die Öffentlichkeit hinterher aus dem Mund der Obleute informiert.

Das Handy war im Sommer 2015 im Panzerschrank des V-Mann-Führers von "Corelli" gefunden worden. Maaßen will 2014 schriftlich angewiesen haben, in den Tresoren nur das Nötigste zu lagern. Dagegen sei im Amt verstoßen worden. Maaßen selber habe von "Schlamperei" gesprochen. Erst im April 2016 sei das Handy ausgelesen worden und konnte dann "Corelli" zugeordnet werden. Diese Auslesung soll nur "wenige Minuten" in Anspruch genommen haben. Danach habe es noch fünf Tage gedauert, bis die Amtsspitze informiert worden sei.

Am 11. Mai hieß es, die SIM-Karte des Handys fehle. Inzwischen sei sie gefunden worden und vier weitere SIM-Karten dazu, zwei von niederländischen Providern, zwei von deutschen. Sie seien an Aktenseiten angeheftet gewesen. Das Handy sei von Frühjahr bis Sommer 2012 benutzt worden. Darauf seien Namen von Personen aus der rechten Szene, außerdem Fotos, die Richter zeigen. Mehr wisse man im Augenblick nicht. Das Bundeskriminalamt sei noch dabei, die Daten auszuwerten.

Wie der Berichterstatter der Bundestagspressestelle dazu kommt, auf der offiziellen Webseite des Parlamentes zu behaupten, "laut Binninger [Anmerkung: der Ausschussvorsitzende] befinden sich nach dem aktuellen Erkenntnisstand auf dem Handy keine brisanten Daten mit Bezug zum Nationalsozialistischen Untergrund", bleibt indessen sein Geheimnis.

Im BfV herrscht "offensichtlich das absolute Chaos"

In ihren Bewertungen gingen die Obleute auseinander. Der Ausschussvorsitzende Clemens Binninger (CDU) sprach von "Fehlern, Pannen, schweren Versäumnissen, wie auch immer", billigte Maaßen aber zu, "selbstkritisch" aufgetreten zu sein. Armin Schuster (CDU) nahm das BfV gegen "Pauschalkritik" in Schutz. Es "leiste in diesen Tagen für Deutschland insgesamt eine hervorragende Arbeit". Schuster meinte wohl den Einsatz gegen internationalen Terrorismus.

Petra Pau (Linke) erklärte, das Wort "Panne" könne und wolle sie im Zusammenhang mit dem NSU-Komplex nicht mehr hören. Sie erwartet von den Verfassungsschutzämtern, die für sie "im Zentrum des NSU-Desasters" standen, umfassend darüber informiert zu werden, was sie über die "Vorhaben, die Taten und den Verbleib des NSU-Kerntrios" wussten. Das gelte auch für den V-Mann Ralf Marschner, der "ganz eng am Trio" gewesen sein müsse. Irene Mihalic (Bündnisgrüne) gewann aus dem Maaßen-Auftritt den Eindruck, dass im BfV "offensichtlich das absolute Chaos" herrsche. Mitarbeiter der Geheimdienstbehörde könnten "tun und lassen, was sie wollen". Der Ausschuss wüsste immer noch nicht, was sich alles in dem Panzerschrank befunden habe und ob es doch noch weitere Beweismittel gebe. Auch Uli Grötsch (SPD) meinte, "wesentliche Fragen" seien trotz der Erläuterungen von Maaßen offen geblieben. Zum Beispiel der Umgang in der Behörde mit den Funden von Handy und SIM-Karten.

Eine der unbestätigten Fragen ist, ob der V-Mann-Führer von "Corelli" auch "Primus" führte. Der Untersuchungsausschuss in NRW wollte den "Corelli"-Führer als Zeugen vernehmen. Das jedoch verweigerte das Maaßen-Amt. "Selbstkritik" sieht anders aus.

Das Parlamentarische Kontrollgremium (PKGr) des Bundestages, das die Geheimdienste kontrollieren soll und 2014 den Sonderermittler Jerzy Montag eingesetzt hatte, um den Tod Richters zu untersuchen, beauftragte Montag nun, der Panzerschrank-Handy-Geschichte explizit nachzugehen, sprich seinen "Corelli"-Bericht zu ergänzen. Immer fraglicher wird, auch nach der Zeugenaussage des Gutachters Scherbaum, ob der Bericht an sich haltbar bleibt.