Der deutsche Erdoğan

Wie Konrad Adenauer gegen Äußerungen vorging

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Denkt der Durchschnittsmedienkonsument im Juni 2016 in Deutschland an Zensur, dann wird ihm wahrscheinlich als erstes der türkische Staatspräsident Reccep Tayyip Erdoğan einfallen, der nicht nur in seiner Heimat Soziale Medien blockieren und unbequeme Journalisten einsperren ließ, sondern auch die straf- und zivilrechtliche Verfolgung von Fernsehblödelei in Deutschland versucht. Es ist aber noch gar nicht so lange her, da unterdrückten deutsche Politiker mit der "Anwaltskeule" Spekulationen über ihre Haare und die Herkunft ihres Vermögens (vgl. Was Osama bin Laden und Gerhard Schröder nicht gemeinsam haben und Über Joseph Fischer darf spekuliert werden).

Geht man noch etwas weiter in die Geschichte zurück, dann stellt man fest, dass auch ein heute weniger umstrittener Kanzler als Gerhard Schröder große Geschütze auffuhr, wenn es um Äußerungen über seine Person ging. Die Rede ist vom ersten Nachkriegskanzler Konrad Adenauer, dessen Reaktionen auf Reaktionen von Bürgern der aktuelle Print-Spiegel zusammengestellt hat:

In den Akten des Koblenzer Bundesarchivs haben Felix Bohr und Klaus Wiegrefe Hunderte von Adenauer und seinen Ministern gestellte Strafanzeigen wegen "politischer Beleidigung" ausgegraben. Der Kanzler hatte das Strafrecht gleich nach seinem Amtsantritt sogar durch einen speziellen "Ehrenschutz für Personen im öffentlichen Leben" verschärft - mit der Begründung, dass die Politik sonst Teilnehmer abschrecken würde.

Konrad Adenauer (rechts) mit dem Vorstand der K.St.V. Arminia Bonn im Wintersemester 1896/97.

Viele der verhängten Strafen trafen einfache Bürger: Zum Beispiel den Arbeitslosen Willy I., der 1951 auf einer Veranstaltung in Wilhelmshaven gemeint hatte, die westdeutsche Regierung bestehe aus "Feiglingen und Lumpen" und traue sich nicht, mit der Führung der Ostzone zu verhandeln. Zwei Polizisten im Publikum gaben diese Worte nach Bonn weiter und I. wurde dafür zu drei Monaten Gefängnis verurteilt - die durchschnittliche Haftdauer für solche Meinungen bis 1952. Andere Äußerungen wurden von einfachen CDU-Anhängern nach Oben getragen, die sich bemüßigt fühlten, "Hetze" gegen ihre Regierung zu melden.

Wer ohne Gefängnisstrafe davon kam, musste neben seinem Anwalt und einer meist beträchtlichen Geldstrafe manchmal auch Anzeigen in Tageszeitungen bezahlen, in denen die Urteile bekannt gemacht wurden. Das hatte eine abschreckende Wirkung auf Personen, die glaubten, nach dem Ende der NS-Herrschaft könnten sie sich kritischer über die Politik äußern als das tatsächlich der Fall war. Weil Adenauer und seine Regierung auch zahlreiche Journalisten bekannter Blätter anzeigten, kommen Bohr und Wiegrefe darüber hinaus zum Ergebnis: "Die Vermutung liegt nahe, dass der Regierungschef die Medien einschüchtern wollte."

Den Spiegel selbst hatte Adenauer angezeigt, weil das Nachrichtenmagazin einen französischen Agenten mit einem angeblichen Geheimplan zitierte, dem zufolge der Kanzler im Falle eines Angriffs der Sowjetunion auf Westdeutschland eine Flucht ins Franco-Spanien vorbereitet. Ob Adenauers Dementi "Wenn der Russe kommt, dann fliehe ich nicht, dann vergifte ich mich" bei seinen katholischen Wählern wirklich besser ankam als die Spiegel-Geschichte, ist unklar. Ein Gericht kam nach jahrelangem Prozessieren in jedem Fall zum Ergebnis, das bizarre Verfahren einzustellen.

Selbstverständlich blieb auch der politische Gegner nicht von einer Strafverfolgung verschont: Als die SPD 1952 plakatierte: "Adenauer hätte erfunden werden müssen, wenn er nicht schon da gewesen wäre, um die Politik der Westmächte durchzusetzen!", wies der Kanzler seine Untergebenen sogar an, mit "möglichster Intensität (Beschlagnahme usw.) vorzugehen".

Adenauers Minister standen der leichten Beleidigtheit ihres Chefs oft wenig nach: Justizminister Thomas Dehler von der FDP reagierte beispielsweise mit einem (wahrscheinlich unfreiwilligen) quod erat demonstrandum, als er eine Zeitung anzeigte, die geschrieben hatte, der Politiker wolle auf Gewerkschafter "mit Zuchthausdrohungen losgehen". Eine Ausnahme scheint Theodor Heuss gewesen zu sein, der Adenauer als Bundespräsident nicht unterstellt war. Er fragte das Justizministerium - möglicherweise nicht ganz ohne Süffisanz - "unter welchen Umständen es denn 'staatspolitisch' notwendig" sei, dass er sich 'beleidigt fühle'".

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