Kann die komplexe Hirnforschung einen simplen Chip verstehen?

Ein reverse engineered MOS 6502. Bild: BreakNES.com/CC-BY-SA-4.0

Laut einer Studie kann man mit neurowissenschaftlichen Methoden noch nicht einmal die Verbindung zwischen einem einfachen Computerspiel und einem einfachen Mikroprozessor verstehen

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"Wenn das Hirn so einfach wäre, dass wir es verstehen könnten, dann wären wir so einfach, dass wir es nicht könnten", schrieb der Computer-Wissenschaftler Emerson Pugh. Wir wissen, wie der Magen, die Nieren und das Herz arbeiten, aber das Gehirn ist dermaßen komplex, dass der Forschung schon im Ansatz eine allumfassende Theorie fehlt. Einige meinen sogar, das Hirn des Menschen sei das komplexeste Objekt im Universum.

Unser Gehirn hat schätzungsweise 100 Milliarden Neuronen. Das entspricht in etwa der Anzahl der Bäume, die im Amazonas-Wald stehen. Berücksichtigt man die enorme Anzahl der Verbindungen zwischen den Neuronen, so gibt es in unserem Gehirn etwa so viele Synapsen wie Blätter im Amazonas-Dschungel: um die 100 Billionen. In nur einem Kubikmillimeter unseres Großhirns, also der Größe eines Stecknadelkopfs, befinden sich über eine Million Nervenzellen, die wiederum über rund eine Milliarde Synapsen miteinander verbunden sind.

Der Mikroprozessor "MOS 6502" ist da schon simpler aufgebaut: Er hat 3510 Transistoren und wurde unter anderem im Apple I, im Commodore 64 und in Atari-Spielkonsolen eingebaut. Der "MOS 6502" ist von Menschen geschaffen, und deshalb wissen wir ziemlich viel über seine Funktionsweise - ganz im Gegensatz zum Gehirn.

Der Elektroingenieur und Computerwissenschaftler Eric Jonas und der Physiker und Biomediziner Konrad Körding haben sich also gefragt: Was passiert, wenn wir den "MOS 6502" mit den Methoden der modernen Hirnforschung untersuchen? Können diese Methoden, mit denen die Forschung das komplexe Hirn erklären will, überhaupt die Funktionsweisen des simplen Mikroprozessors "wiederentdecken"? Scheitert die Hirnforschung nicht nur an der Erklärung des Bewusstseins, sondern schon an klassischen Computerspielen, die auf dem "MOS 6502" laufen? Jonas und Körding haben am 26. Mai 2016 die Studie "Could a neuroscientist understand a microprocessor?" ins Netz gestellt, in der sie genau diesen Fragen nachgehen. Im Vorwort der Studie schreiben sie:

In den Neurowissenschaften herrscht die weitverbreitete Annahme, dass wir vor allem zu wenig Daten haben - und dass wir fundamentale Einblicke darüber gewinnen, wie das Gehirn Informationen verarbeitet, wenn wir erst einmal große, multimodale und komplexe Datensätze durch Datenanalyse-Algorithmen haben werden. […] Gegenwärtige Versuche in den Neurowissenschaften greifen vermutlich zu kurz, aussagekräftige Modelle des Gehirns zu entwickeln.

Eric Jonas/Konrad Körding

Für ihre Studie nahmen Jonas und Körding also den "MOS 6502" und ließen darauf klassische Computerspiele wie "Donkey Kong", "Space Invader" und "Pitfall" laufen. Die Forscher haben die diversen Verbindungen zwischen den Transistoren untersucht und geschaut, welche lokalen Aktivitäten auf dem Chip zu welchen Resultaten beim Computerspielen führen. Bei all dem haben Jonas und Körding stets die Standardmethoden der Hirnforschung angewendet. Doch die Rückschlüsse zwischen Chip- und Computerspiel-Verhalten fielen dabei, wie sich herausgestellt hat, ziemlich beliebig und oft auch falsch aus.

Die Neurowissenschaften haben ein besonderes Augenmerk auf Verletzungen des Hirns, weil sich dadurch funktionale Unterschiede zu einem gesunden Hirn feststellen lassen. Im Kern beinhalten moderne Hirnstudien genau solche Aussagen: "Wenn die Neuronengruppe XY in ihrer Funktionsweise gestört ist, dann resultiert daraus eine Störung des Sprachvermögens etc."

Die Verfügbarkeit unbegrenzter Daten reicht nicht aus, um das Gehirn wirklich zu verstehen

Ähnlich der Verletzung bestimmter Neuronen haben Jonas und Körding nun einzelne Transistoren des "MOS 6502" zerstört und anschließend Rückschlüsse gezogen, welche dieser Zerstörungen das Spielen blockiert haben: Manche zerstörte Transistoren blockierten zum Beispiel das Booten von "Donkey Kong", während "Pitfall" problemlos lief.

Mit den Methoden eines Elektroingenieurs hätten sie allerhand über den Chip herausgefunden, doch die Methoden der Hirnforschung verwehrten ihnen selbst ein minimales Verständnis über die Verbindungen von Chip und Spiel - herausgefunden haben die Forscher vor allem offensichtliche Korrelationen, aber nichts, was die Informationsverarbeitung tiefergehend verständlich macht. Nach etlichen anderen Tests ziehen die Forscher ein ernüchterndes Fazit:

Wir haben herausgefunden, dass viele Messungen zwischen dem Hirn und dem Prozessor erstaunliche Ähnlichkeiten aufweisen, aber auch, dass unsere Ergebnisse nicht zu einem aussagekräftigen Verständnis des Prozessors führen. Die Analyse kann kein hierarchisches Verständnis der Informationsverarbeitung liefern, das schon die meisten Elektroingenieure erzielen. Wir behaupten, dass die Analyse dieses simplen Systems nahelegt, dass wir weit demütiger die Ergebnisse der neuronalen Datenanalyse interpretieren sollten. Und die reine Verfügbarkeit unbegrenzter Daten, wie wir sie für den Prozessor haben, reicht in keinster Weise dafür aus, um das Gehirn wirklich zu verstehen.

Eric Jonas/Konrad Körding

So simpel die Studie ist, hat sie in Hirnforscher-Kreisen doch für einiges Aufsehen gesorgt. Manche Forscher wie Abhijit Das sprechen sogar von einem "Meilenstein". Und der Kognitionswissenschaftler Steve Fleming schreibt auf seinem Blog: "Die Ergebnisse mögen für Chip-Entwickler nicht unbedingt überraschend sein, aber sie sind demütigend für Neurowissenschaftler. […] Selbst die besten Daten können uns in die Irre führen."

Jonas und Fleming weisen völlig zu Recht darauf hin, dass es sich beim Gehirn um ein plastisches Organ handelt, das verschiedene Informationen dynamisch und zeitlich parallel verarbeiten kann und als nichtlineares System arbeitet. Das Hirn arbeitet also nicht wie ein Prozessor. Aber das bedeutet vor allem eins: Bei der Untersuchung des komplexen Hirns ist es noch viel wahrscheinlicher, dass wir im Dunkeln tappen und falsche Schlüsse ziehen, denn schon beim simplen Chip sind die Forschungsmethoden auf dem Holzweg. Umgekehrt müsste es also viel einfacher sein, den Chip statt das Hirn zu untersuchen - war es aber nicht.

Im Gegensatz zu anderen wissenschaftlichen Untersuchungsgegenständen, wie beispielsweise der Planetenzirkulation oder der Plattentektonik, fehlt bislang selbst im Ansatz eine Theorie, die uns erklärt, wie das Gehirn funktioniert. Die britische Neurowissenschaftlerin Susan Greenfield ist eine der wenigen Forscher, die ihre Profession kritisch hinterfragt:

Ich werde bei solchen Sachen leicht ungeduldig, und es bedrückt mich mehr als viele andere, wie wenig wir über das Gehirn wissen. Ich habe das Gefühl, dass wir eigentlich nur Anekdoten austauschen; niemand hat bisher geschafft, was in den Naturwissenschaften Standard ist: das Erarbeiten eines geeigneten Rahmens, auf den sich jeder einigen kann, mit Gesetzen, Regeln, Prinzipien und so weiter, und der die verschiedenen Arbeitsstufen innerhalb der Gehirnforschung erfolgreich zusammenbringt.

Ich verspüre eine gewisse Frustration angesichts der Selbstzufriedenheit der Leute, die zu großen Treffen über das Gehirn gehen und sich für ihre tollen Leistungen gegenseitig auf die Schulter klopfen, obwohl wir meines Erachtens in Wirklichkeit erst ganz am Anfang stehen.

Susan Greenfield

Patrick Spät lebt als freier Journalist und Buchautor in Berlin.