100 Organisationen fordern Umkehr in EU-Flüchtlingspolitik

Grenzschließungen und Aufnahme in Transitstaaten in der Kritik. EU-Kommission und Berlin wollen sogenannten Valletta-Plan dennoch weiter vorantreiben

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Unmittelbar vor dem EU-Gipfel im Brüssel am Dienstag und Mittwoch haben mehr als 100 Fachorganisationen aktuelle Strategien der Europäischen Union zur Flüchtlingsabwehr kritisiert. Die Unterzeichner eines offenen Briefes – darunter Amnesty International, Ärzte der Welt, Oxfam, Save the Children und World Vision – sehen sogar die Glaubwürdigkeit Europas bei der Verteidigung der Menschenrechte gefährdet.

Grund dafür sind die Pläne der EU, Staaten Afrikas über Migrationsabkommen zur Rücknahme von Flüchtlingen zu bewegen. Dafür sollen die Handelspolitik, Entwicklungsgelder und humanitäre Mittel genutzt werden. Dieses Vorgehen war Ende 2015 erstmals auf dem Gipfel in der maltesischen Hauptstadt Valletta beschlossen worden. Kritiker sprachen schon damals von einer Erpressung der Transitstaaten (Kritik und Vorbehalte nach Flüchtlingsgipfel auf Malta). Diese würden vor die Wahl gestellt, Flüchtlinge massenhaft selbst aufzunehmen oder massive wirtschaftliche Nachteile in Kauf zu nehmen.

Die Unterzeichner des offenen Briefes fordern nun von den EU-Mitgliedsstaaten auf, den "Vorschlag der EU-Kommission zur Migrationsabwehr zu stoppen". Im Kern gehe es schließlich darum, Drittländer dazu zu bringen, Flüchtende am Erreichen Europas zu hindern. Dies widerspreche dem Verbot, Menschen zur Verbleib in Ländern zu zwingen, in denen ihnen Gefahr für Leib und Leben drohen. Auch würde damit das für die flüchtenden Menschen gefährliche Schleusergeschäft weiter aufrechterhalten.

Die Unterzeichnerorganisationen verweisen zudem auf den Flüchtlingsdeal zwischen der EU und der Türkei, der von zahlreichen Organisationen und politischen Akteuren kritisiert wird. In diesem Fall fließen bis zu sechs Milliarden Euro an die Erdogan-Führung, damit die Türkei die Fluchtroute nach Europa kappt und die Menschen im eigenen Land belässt.

Derzeit sieht es jedoch nicht so aus, dass die Warnungen beim EU-Gipfel in Brüssel Gehör finden. Der EU-Rat werde weiter daran arbeiten, eine umfassende Strategie zur Bewältigung der Migrationskrise zu entwickeln, heißt es aus EU-Quellen, die auf einen massiven Rückgang der Einreisezahlen verweisen: Während im Oktober 2015 täglich noch rund 7.000 Flüchtlinge die EU-Grenzen überquert hatten, seien es im Mai dieses Jahres nur noch 50 gewesen. Dementsprechend werde es bei den Beratungen in Brüssel auch um die schnellere Umsetzung des Valletta-Plans gehen. Dabei sollten "alle relevanten politischen Instrumente der EU" benutzt werden.

Das Migrationsthema stand auch bei vorbereitenden Sitzungen von Fachgremien im Fokus, berichtet ein beteiligter Diplomat. Deutschland habe dafür plädiert, neben der Rückführung von Flüchtlingen auch die Frage des Grenzschutzes und der Bekämpfung von Schleusern zum Thema der Debatten zu machen. Auch setzt sich die Regierung von Bundeskanzlerin Angela Merkel dafür ein, die sogenannten Migrationspartnerschaften mit afrikanischen Staaten zu stärken.