Wo beginnt für die deutsche Justiz der Antisemitismus?

Ein aktuelles Urteil zeigt, dass die Justiz die Antisemitismusforschung zur Kenntnis nehmen sollte

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Am 28. Juni hat das Amtsgericht Prenzlau den AfD-Kreisvorsitzenden der Uckermark Jan-Ulrich Weiß vom Vorwurf der Volksverhetzung freigesprochen. Weiß hatte 2014 auf Facebook eine Karikatur des Investmentbankers Rothschild verbreitet, der dort mit antisemitischen Attributen dargestellt wurde.

Die Collage zeigt Mr. Burns aus der Zeichentrick-Serie "Die Simpsons" und ist mit dem Text versehen. "Hallo, mein Name ist Jacob Rothschild". Im weiteren Text wird der Familie Rothschild unterstellt, weltweit Regierungen und Zentralbanken zu steuern und für Kriege verantwortlich zu sein. In der Antisemitismusforschung wird schon lange nachgewiesen, dass es sich dabei um antisemitische Topoi handelt. Doch das Prenzlauer Gericht sah in der Karikatur keinen antisemitischen Bezug und sprach Weiß vom Vorwurf der Volksverhetzung frei. Der Staatsanwalt hatte eine Geldstrafe von 5.000 Euro gefordert.

Der Freispruch dürfte noch zu Streit in der AfD führen. Die Brandenburger AfD hatte die Karikatur als antisemitisch bezeichnet und wollte Weiß im Eilverfahren aus der Partei ausschließen. Zu den Befürwortern eines schnellen Austritts hatte sich auch der Brandenburger AFD-Vorsitzende Alexander Gauland gemacht. Doch er scheiterte. Zuletzt auch an der AfD Uckermark, die Weiß unterstützt.

Das Szenario erinnert an den Fall des AfD-Landtagsabgeordneten von Baden Württemberg, Gedeon, der mit antisemitischen Schriften auffiel. Auch in seinem Fall scheiterte der AFD-Vorstand mit der Forderung nach einem schnellen Austritt. Während dort als Kompromiss die Einschaltung einer Untersuchungskommission beschlossen wurde, hatte man sich AfD-intern in der Causa Weiß darauf geeinigt, das Gerichtsverfahren abzuwarten.

Nicht nur in der AfD, sondern auch bei der rechtspopulistischen Webseite PI-News, die sich als israelfreundlich bezeichnet, ist der Streit entbrannt. Während einige eine klare Abgrenzung zu Politkern wie Gideon und Weiß fordern, meldeten sich auch entschiedene Verteidiger der beiden Politiker zu Wort.

Weiß sieht sich nach dem Freispruch gestärkt und fordert von Gauland eine Entschuldigung dafür, dass er ihn als Antisemiten bezeichnet hat. Während inzwischen mehrere AfD-Landespolitiker von der Austrittsforderung abrücken, will Gauland bisher noch daran festhalten. Kann er sich damit nicht durchsetzen, könne ihn Weiß im nächsten Jahr im Brandenburger Landtag beerben. Weiß steht auf Platz eins der Nachrücker auf der AfD-Liste. Wenn Gauland bei den nächsten Bundestagswahlen wie beabsichtigt für den Bundestag kandiert und sein Landtagsmandat aufgibt, würde Weiß für ihn nachrücken.

Wenn der Antisemitismus von der Justiz nicht erkannt wird

Das Urteil und die Reaktionen darauf werfen erneut die Fragen auf, ob die deutsche Justiz Antisemitismus erkennt, wenn er nicht in den klassisch neonazistischen Formen auftritt. Die neuere Antisemitismusforschung zeigt einen anderen Erkenntnisstand an als den, den das Gericht in Prenzlau seinem Urteil zugrunde legte.

"Während also der offen neonazistische Antisemitismus bisweilen aus politischen Diskursen ausgegrenzt wird, haben sich gewisse Artikulationsformen für antisemitische Ressentiments herausgebildet, welche zwar auf das starke Fortbestehen von antisemitischen Positionen in der Gesellschaft verweisen, aber nicht immer als solche (an)erkannt werden und daher bis weit in die selbst ernannte bürgerliche 'Mitte' hineinreichen", schreiben die Sozialwissenschaftler Kevin Culina und Jonas Fedders in ihrem aktuellen Buch Im Feindbild vereint.

Dort wird detailliert der codierte Antisemitismus einer Publikation untersucht, die in den letzten zwei Jahren einen erstaunlichem Aufschwung genommen hat. Der Herausgeber Jürgen Elsässer hätte die Forschungsergebnisse von Culina und Fedders vor 15 Jahren sicher noch mit einen Vorwort belobigt. Schließlich war er einer der schärfsten Kritiker des Antisemitismus auch in der Linken, bevor er Deutschland zur Zielgruppe erklärte. Das Buch nähert sich auf knapp 90 Seiten dem Magazin Compactn mit einer an der Frankfurter Schule geübten Analysemethode.

Rothschild oder das Gerücht über die Juden

So hätten die beiden Autoren auch für die Richter, die über die Karikatur eines Jan-Ulrich Weiß entscheiden mussten, eine gute Orientierungshilfe geboten: "Für den judenfeindlichen Gehalt einer Aussage über die 'Rockefellers'oder die 'Rothschilds' ist deren tatsächliche Religionszugehörigkeit von keinerlei Bedeutung, solange in einem breiteren Rezipient_innenkreis die Auffassung vorherrscht, es handele sich um einflussreiche Familien mit jüdischen Wurzeln. Adorno schrieb einst sehr treffend, der Antisemitismus sei 'das Gerücht über die Juden'."

Die Richter in Prenzlau konnten das Buch allerdings noch gar nicht kennen. Es könnte aber noch Einfluss auf die Rechtsprechung haben. Ein Grund für die Entstehung des Buches ist die erfolgreiche Klage von Compact-Herausgeber Jürgen Elsässer gegen die Publizistin Jutta Ditfurth, nachdem die ihn als glühenden Antisemiten bezeichnet hatte. Ditfurth legte Verfassungsbeschwerde ein. Der Fall liegt jetzt beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.

Die Richter werden wohl vor einer Entscheidung die sehr detaillierte Analyse der Compact-Artikel studieren, mit denen Fedders und Culina ihre vorher im Buch vorgestellte Analysemethode praktisch anwenden. Die beiden Autoren gehen besonders auf das Konstrukt einer Weltregierung ein, die nach Meinung vieler Compact-Autoren die Souveränität Deutschlands eingrenzt und zeigen daran den codierten Antisemitismus auf. Die von den Autoren angeführten Heuschrecken-Metaphern für die Beschreibung von ökonomischen Prozessen machen deutlich, warum es oft so schwer ist, codierten Antisemitismus zu erkennen.

Schließlich wurde die Heuschrecke als Symbol für das Finanzkapital bei Sozialdemokraten und Gewerkschaften benutzt. Der Erfolg von Zeitungen wie Compact könnte so gerade darin liegen, dass sie hier so gut an den Mainstream anknüpfen können. Das Buch könnte so nicht nur eine wichtige Information über Compact und dessen politisches Umfeld bieten. Es könnte auch sensibilisieren für antisemitische Strukturen in der berühmten Mitte der Gesellschaft. Dazu könnte beitragen, dass die Autoren die Schrift streng analytisch angelegt haben und auf moralischen Furor verzichten.