Deutsche Abgeordnete leiten Klage gegen türkische Regierung und Militär ein

Sie stellen eine Strafanzeige bei der Generalbundesanwaltschaft wegen "Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit" in den kurdischen Gebieten der Türkei

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Auf einer Pressekonferenz am gestrigen Montag, den 27.Juni, wurde eine Strafanzeige gegen Funktionäre der türkischen Regierung, des Militärs und der Verwaltung wegen Beteiligung an Kriegsverbrechen (§ 8 VSTGB - Völkerstrafgesetzbuch), Verbrechen gegen die Menschlichkeit (§ 7 VStGB) sowie Kriegsverbrechen wegen des Einsatzes verbotener Methoden der Kriegsführung (§ 8 VStGB) eingeleitet.

Die klageführenden Anwältinnen Britta Eder, Petra Dervishaj u.a. erklärten dazu:

Im Namen von Bundestags- und Landtagsabgeordneten, Rechtsanwält_innen, Wissenschaftler_innen und weiteren Einzelpersonen, darunter auch die Angehörigen von Opfern, und verschiedenen zivilgesellschaftlichen Organisationen haben wir den Staatspräsidenten der Republik Türkei, Recep Tayyip Erdoğan, sowie weitere verantwortliche Minister, Verantwortliche aus Militär und Polizei sowie die zuständigen Gouverneure wegen den begangenen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in den kurdischen Gebieten der Türkei, insbesondere in Cizre, gemäß dem deutschen Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) bei der Generalbundesanwaltschaft angezeigt.

Angezeigt wurden Massaker und Angriffe auf die Zivilbevölkerung in der 150.000 Einwohnerstadt Cizre. Dabei geht es um die Ausgangssperre vom 4.September bis 11. September letzten Jahres, bei der angeblich 21 Zivilpersonen von staatlichen Kräften getötet worden waren, und um die Ausgangssperre vom 14. Dezember 2015 bis 2. März 2016 bei der angeblich 178 Zivilpersonen in Massakern durch Sicherheitskräfte getötet worden waren.

"Gut dokumentierte Fälle"

Der für die Provinz Shirnak gewählte Abgeordnete der linken, oppositionellen Demokratischen Partei der Völker, HDP, Faysal Sariyildiz, der ebenfalls an der Pressekonferenz teilnahm, betonte, dass es sich bei den benannten Fällen um gut dokumentierte Fälle handele, welche exemplarisch für die Kriegsverbrechen stehen, die im Kontext der 68 Ausgangssperren zwischen August 2015 und April 2016 begangen worden sind.

Nach Angaben der Menschenrechtsstiftung der Türkei (TIHV) waren mindestens 1.642.000 Menschen nach dem Melderegister von den Ausgangssperren betroffen. Die wirkliche Zahl dürfte viel höher liegen. Die Dunkelziffer der Angriffe und Kriegsverbrechen dürfte hoch sein, da immer noch etliche Regionen unter Ausnahmerecht stehen und weitere Angriffe wie in der Region um Lice bei Diyarbakir stattfinden.

Einer der angezeigten Fälle ist derjenige von Eshref Erdin (65), dessen Angehöriger Serdar Erdin in Deutschland lebt und als Geschädigter an der Klage teilnimmt. Die Tochter des Getöteten, Rahmet Erdin Agar beschrieb den Hergang gegenüber einer Anwaltsdelegation folgendermaßen:

…Am 09.09.15, als die Ausgangssperre noch andauerte, begab sich mein Vater Eshref auf das Dach des Hauses, trotz all unserer Bedenken, da das Gewehrfeuer und der Artilleriebeschuss sehr stark waren. … Meine Mutter schrie, dass mein Vater erschossen worden sei… wegen des starken Gewehrfeuers und Artilleriebeschusses konnten wir meinen Vater zwei Stunden lang nicht holen. … Mein Vater war durch einen Schuss in die Niere getroffen worden aber er war noch nicht tot. … sie riefen 112 [die Ambulanz an], da sie sahen, dass er noch lebte… Sie sagten uns, dass die Polizei ihnen nicht erlaube zu kommen…

Wir riefen die Polizei an und berichteten … Sie fragten nach dem Nummernschild und sagten sie würden den Vorfall an alle Polizeiteams weitergeben. Als wir meinen Vater zum Auto brachten und wegfuhren, begann die Polizei massiv auf uns zu schießen. … unser Auto war gefangen unter der Kontrolle der Polizei…. Wir mussten nach Hause zurückkehren… Mein Vater hatte noch regelmäßigen Puls und atmete bis zum nächsten Morgen… Der Krankenwagen durfte am Abend nicht vor das Haus kommen um die Leiche abzuholen. Wir wickelten den toten Körper meines Vaters in ein Betttuch und trugen ihn mit meinem Ehemann und meinem Nachbarn zum Krankenwagen.

Dieses Vorgehen gegenüber Verletzten, Verstorbenen und ihren Angehörigen reiht sich in eine Kette von Vorfällen ein, die auf eine breite gesellschaftliche Traumatisierung und Zerrüttung abzielen. Die Anwältin Britta Eder bewertete diesen Fall als einen klaren Angriff nicht nur auf das getötete Individuum, sondern auf die gesamte Familie, der darauf abziele, eine langfristige Traumatisierung und Zerrüttung zu erzeugen.

Zu diesen Praktiken der psychologischen Kriegsführung gehört ebenfalls die systematische Schändung von Leichnamen und deren öffentliche Zurschaustellung, wie es im Fall Haci Lokman Birlik Anfang September in Shirnak geschehen ist. Der junge Kameramann wurde mit 19 Kugeln von Spezialeinheiten der Polizei getötet und anschließend an einem Panzerfahrzeug durch die Stadt geschleift.

Dieses Vorgehen wird auch an einem weiteren exemplarischen Fall deutlich, den 178 in den Kellern von Cizre getöteten Zivilpersonen. Bei den Zivilpersonen handelte es sich zumeist um Personen aus der Zivilgesellschaft, die nach Cizre gekommen waren um den Ausnahmezustand zu dokumentieren und sich mit der eingeschlossenen Bevölkerung zu solidarisieren. Faysal Sariyildiz berichtete, dass sich diese, als der Artilleriebeschuss begann, in Keller flüchteten. Von dort aus machten sie Anrufe und schickten sogar Bilder. Einige von ihnen waren schwer verletzt. Sariyildiz erklärte:

Nach einigen Tagen begannen die Verletzten einer nach dem anderen zu sterben. Obwohl es sogar eine Entscheidung des EUMGH gab, drei von ihnen sofort aus den Kellern zu lassen und in medizinische Versorgung zu übergeben. Wir haben die Namen von Allen, keiner von ihnen war an Kampfhandlungen beteiligt.

In den ersten Keller wurde nach Aufnahmen mit einem Panzer geschossen, die Leichen waren vollkommen zerstört, in einen zweiten Keller wurde von den Sicherheitskräften Benzin geleitet und sie wurden verbrannt. Telefongespräche mit dem ebenfalls in diesem Keller getöteten ehemaligen HDP Kreisvorstandsmitglied Derya Koc belegen dies. In einem dritten Keller sein die Personen herausgeführt, erschossen und dann verbrannt worden. Faysal Sariyildiz berichtet weiter:

Nach 60 Tagen Ausgangssperre wurde erklärt, dass die Operation nun beendet sei. Die Ausgangssperre wurde aber erst 19 Tage später aufgehoben. Man nutzte die Zeit, um die Spuren des Verbrechens zu beseitigen. Die Trümmer, in denen noch unsere getöteten Kinder lagen, wurden mit Baumaschinen in den Tigris geschoben. Aber das Verbrechen war zu schwer, um verschleiert zu werden. Als wir den Ort begingen, fanden wir in den Aufschüttungen am Tigris Leichenteile. Unter anderem dieses Foto eines menschlichen Arms, den wir aufgrund der Bekleidung als Frauenarm identifizieren [eindeutiges Foto liegt dem Autor vor], dieses Foto wurde der Staatsanwaltschaft vorgelegt, die jedoch, mit der Begründung, es handele sich offensichtlich um den Arm eines Tieres, keine Ermittlungen einleitete.

Bundesanwaltschaft in der Pflicht

Hier wird nochmals deutlich, dass in der Türkei keine Verfolgung dieser Verbrechen möglich zu sein scheint. Dies dürfte grundsätzlich umso schwieriger werden, da seit kurzem Soldaten und Polizisten bei sogenannten Antiterroroperationen in der Türkei weitgehende Immunität genießen, während Journalisten, Anwälte, Politiker und Forensiker, welche diese Verbrechen thematisierten, inhaftiert worden sind.

So wurde die renommierte Pathologin Shebnem Korur Fincanci vier Tage, nachdem er den Kieferknochen eines 12 jährigen in einem der Keller von Cizre identifizierte, inhaftiert. (Ergänzung: Sie ist Vorsitzende der Stiftung THIV) Die Bundesanwaltschaft soll nach Aussagen von Herrn Sariyildiz eine Klage zu erheben, da sie verpflichtet sei, "die Straflosigkeit der Täter völkerrechtlicher Verbrechen… zu verhindern" und diese nicht nur für Taten, "die einen Anknüpfungspunkt zu Deutschland haben" existiere.

Bei den angezeigten Fällen besteht dieser Bezug allerdings, da sich zwei Familien der Geschädigten, ein Zeuge und Geschädigter in Deutschland aufhalten. Sariyildiz bezeichnet die Klage als eine Prüfung für die deutsche Justiz, an der sich herausstellen werde, wie ernst es Europa mit den Menschenrechten, die Europa im Munde führt, meint.

Europa müsse sich dessen bewusst sein, dass, wenn man sich nicht mit den Verbrechen in Cizre konfrontiert, die Wut in der Bevölkerung weiter wachsen wird. Diese aufgestaute Wut darüber, dass diese Massaker vor den Augen der untätigen Weltöffentlichkeit geschehen, habe das Potential, den Mittleren Osten in ein Blutbad zu verwandeln. Der Handel der Bundesrepublik mit dem "AKP-Regime, das selbst durch seine Unterstützung des IS für Millionen von Flüchtlingen aus Syrien verantwortlich" sei, werde dann zu Millionen mehr Flüchtlingen auch aus der Türkei führen.

Dass dies keine Prophezeiung ohne Realitätsbezug ist, zeigen die über 300.000 innerhalb der Türkei in den letzten Monaten Vertriebenen.