"Der Öffentlichkeit werden wichtige Erkenntnisquellen vorenthalten"

Dieter Deiseroth über die gängige Praxis, Akten zu "bereinigen", um brisante Dokumente zu verbergen

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Die Journalistin und Historikerin Gaby Weber (Eichmann wurde noch gebraucht) hat Verfassungsbeschwerde eingelegt, um Zugriff auf staatliche Akten zu erhalten, die von ehemaligen Amtsträgern mit in deren Privatarchiv genommen wurden. Im Interview mit Telepolis kritisiert Dieter Deiseroth, ehemaliger Richter am Bundesverwaltungsgericht, die "Privatisierung" von Akten scharf.

Bei den Akten aus Ministerien und dem Bundeskanzleramt gehe es nicht um Notizen einer privaten Familienfeier, sondern um das Handeln der Regierungsbürokratie. Deiseroth geht davon aus, dass die Entwendung von derart zentralen Akten eine historisch-kritische Aufarbeitung beeinträchtige und insbesondere auch die grundrechtlichen Schutzansprüche der Presse unterlaufe. Die entwendeten Akten gehörten nicht der Regierung, sondern der Gesellschaft. "Diese Akten und Dateien sind das Gedächtnis der Demokratie", so Deiseroth.

Herr Deiseroth, ist es richtig, dass seit geraumer Zeit Akten und Dokumente, die eigentlich in das Bundesarchiv oder andere staatliche Archive gehören, privatisiert werden?

Dieter Deiseroth: Der Ende Mai 2016 bekannt gewordene Streit um die Akten, die Helmut Schmidt während seiner Kanzlerschaft in sein Hamburger Privathaus mitgenommen und auch nach seinem Ausscheiden aus dem Amt dort weiter aufbewahrt hat, ist leider kein Einzelfall. Diese archivierungswürdigen staatlichen Dokumente sind nach seinem Tod an die private Loki-und-Helmut Schmidt-Stiftung übergeben worden.

Und das Bundesarchiv hat bisher darauf keinen Zugriff?

Dieter Deiseroth: Das stimmt. Und das würde so bleiben, sofern es dem Bundeskanzleramt nicht gelingt, seinen jetzt geltend gemachten Herausgabeanspruch gegen die Stiftung durchzusetzen. Ähnlich verhält es sich zum Beispiel bei brisanten Akten der Adenauer-Regierung, die der damalige Chef des Bundeskanzleramtes Dr. Hans Globke "nach Hause" mitgenommen und später einer privaten Stiftung ausgehändigt hatte.

Also haben wir es hier mit einer gängigen Praxis zu tun?

Dieter Deiseroth: Man kann generalisieren: Schon immer haben staatliche Entscheidungsträger nicht nur darauf geachtet, dass manches politisch oder rechtlich Heikle tunlichst nicht in die Akten gelangte, nach dem Motto: Was nicht in den Akten ist, ist nicht in der Welt. War dies doch der Fall, haben sie nicht selten dafür gesorgt, dass Aktenbestände rechtzeitig "bereinigt" wurden. Dies geschah - wie etwa im Fall Globke - durch "Privatisierung" brisanter Dokumente, durch physische Aktenvernichtung ("Schreddern") oder - wie 1998 bei Ende der Kanzlerschaft von Helmut Kohl in den berühmten "Löschtagen" - durch Löschung vor allem digitaler Dateien. Das hat fatale Folgen.

Die Journalistin Gaby Weber hat Verfassungsbeschwerde eingelegt, weil sie nicht an Akten des Bundeskanzleramtes herankommt, die sie für ihre Recherche benötigt, also Akten, die eigentlich zur Einsicht zur Verfügung stehen müssten, aber es nicht tun, weil diese im Privatbesitz sind. Was ist da los?

Dieter Deiseroth: Das Bundesarchiv klagt regelmäßig darüber, dass archivierungswürdige amtliche Dokumente nicht, wie es das geltende Recht vorsieht, an das Bundesarchiv abgegeben werden, sondern "in die privaten Papiere von Politikern und Spitzenbeamen gelangen und mit diesen zum Beispiel an die Archive der Parteien oder andere Stellen übergeben werden". Dort verbleiben sie dann oft dem Zugriff der Forschung und Wissenschaft und der Einsichtnahme durch Journalisten entzogen.

Aber verstößt diese Vorgehensweise nicht gegen das Archivrecht?

Dieter Deiseroth: Das geltende Archivrecht wird missachtet. Grundrechtliche Schutzansprüche der Wissenschaft und der Presse werden so unterlaufen. Der Forschung und der interessierten Öffentlichkeit werden wichtige Erkenntnisquellen vorenthalten. Das ist schlimm - nicht nur für die Wissenschaft und die Geschichtsschreibung, sondern auch für unsere Demokratie. Denn Archive sichern und erschließen die Vergangenheit für die Zukunft.

Wer amtliche Akten "privatisiert", macht sich strafbar

Also nochmal: Die Akten dürften eigentlich gar nicht mit in den Privatbesitz überführt werden?

Dieter Deiseroth: Wer amtliche Akten "privatisiert", also mit "nach Hause" nimmt und sie dort deponiert oder an Dritte weitergibt, macht sich strafbar. Denn diese Akten gehören ihm nicht. Das Strafgesetzbuch nennt das "Privatisieren" amtlicher Akten "Verwahrungsbruch".

Nach dem Bundesarchivgesetz sind alle Stellen des Bundes verpflichtet, alle Unterlagen, die sie zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben nicht mehr benötigen, dem Bundesarchiv zur Übernahme anzubieten. Wenn diesen Papierdokumenten und digitalen Dateien, wie es im Gesetz heißt, "bleibender Wert für die Erforschung oder das Verständnis der deutschen Geschichte, die Sicherung berechtigter Belange der Bürger oder die Bereitstellung von Informationen für Gesetzgebung, Verwaltung oder Rechtsprechung zukommt", sind sie dann zwingend als Archivgut des Bundes dem Bundesarchiv zu übergeben.

Damit soll sichergestellt werden, dass keinerlei amtliche Unterlagen des Bundes, die von bleibendem Wert für die deutsche Geschichte sind, "unkontrolliert vernichtet oder zersplittert werden". Daraus ergibt sich für alle von der normativen Regelung erfassten Akten, Unterlagen und digitalen Dateien eine rechtliche Anbietungs- und Übergabepflicht der zuständigen Stellen gegenüber dem Bundesarchiv.

Wurde mit deutschen Steuergeldern das Nuklearwaffen-Forschungszentrum Dimona mitfinanziert?

Nun mal konkret zu den Recherchen von Frau Weber. Die Journalistin und Historikerin recherchiert in einem Fall, der lange zurückliegt. Worum geht es?

Dieter Deiseroth: Sie begehrt vom Bundesarchiv den Zugang zu originär im Bundeskanzleramt entstandenen Akten aus den 1960er Jahren. Diese betreffen Vorgänge in dem von dem damaligen Staatssekretär Dr. Hans Globke geleiteten Bundeskanzleramt. Außerdem geht es um Unterlagen über die amtliche Tätigkeit des von Bundeskanzler Adenauer seinerzeit mit staatlichen Verhandlungen mit dem Staat Israel beauftragten Bankiers Hermann Josef Abs. Diese betrafen Wiedergutmachungsleistungen an Israel.

Im Rahmen der Aktion "Geschäftsfreund" soll im Zeitraum von 1961 bis 1965 aus Finanzmitteln der Bundesrepublik Deutschland in verschiedenen Raten ein Betrag von insgesamt 630 Millionen DM an Israel für Projekte in der Negev-Wüste, darunter das Nuklearwaffen-Forschungszentrum Dimona, ausgezahlt worden sein. Dabei soll es sich um deutsche Steuergelder gehandelt haben, die ohne hinreichende parlamentarische Genehmigung und ohne Kabinettsbeschluss verausgabt worden sein sollen. Die Akten und Unterlagen sind nach dem 1963 erfolgten Ausscheiden von Dr. Globke als Chef des Bundeskanzleramtes nicht dort verblieben und wurden später auch nicht an das Bundesarchiv übergeben.

Und diese Akten sollen dann in den Privatbesitz von Globke übergegangen sein?

Dieter Deiseroth: Ja, Dr. Globke hat die Akten in seinen Privatbesitz überführt.

Wo sind denn die Akten heute?

Dieter Deiseroth: Sie befinden sich bei einem privaten Verein, der Konrad-Adenauer-Stiftung (Archiv). Die von dem damaligen staatlichen Verhandlungsführer Hermann Josef Abs geführten Akten sind gleichfalls nicht dem Bundesarchiv übergeben worden, sondern liegen heute im Historischen Archiv der Deutschen Bank. Beide Institutionen, also die Konrad-Adenauer-Stiftung und das Historische Archiv der Deutschen Bank, verweigern der Journalistin die Akteinsicht. Nach erfolgloser Erschöpfung des Rechtswegs hat sie deshalb im Juli 2013 Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe erhoben.

Nun haben Sie für den gemeinnützigen Verein "Forum Justizgeschichte", der sich der Erforschung der juristischen Zeitgeschichte widmet, eine Stellungnahme als Amicus Curiae gegenüber dem Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit der Verfassungsbeschwerde von Frau Weber abgegeben. Was heißt "Amicus Curiae"?

Dieter Deiseroth: Der Begriff kommt aus dem Lateinischen und heißt übersetzt "Freund des Gerichts". Darunter versteht man eine Person oder Organisation, die etwas zu einem Gerichtsverfahren beiträgt, obwohl sie selbst gar nicht Partei des Verfahrens ist. Amicus Curiae ist im angelsächsischen Rechtskreis weit verbreitet, auch beim Obersten Gerichtshof der USA.

Im Kern geht es also darum, dass ein zum Verfahren Außenstehender durch seine Sachkenntnis das Gericht bei der Klärung von Tatsachen- oder Rechtsfragen und damit bei der Entscheidungsfindung unterstützen kann. So ist die Amicus-Curiae-Stellungnahme des "Forum Justizgeschichte" zu verstehen. Das Prozessrecht sieht ausdrücklich vor, dass das Bundesverfassungsgericht einem sachkundigen Dritten Gelegenheit zur Stellungnahme geben kann. Jedenfalls können die Verfahrensbeteiligten diese Stellungnahme aufgreifen und in das Verfahren förmlich einführen.

In der Stellungnahme heißt es, dass das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht über den konkreten Einzelfall Weber hinausgeht. Warum tun sich die Gerichte so schwer damit, zu einer brauchbaren rechtlichen Lösung zu kommen?

Dieter Deiseroth: Der Hauptgrund dafür sind die lückenhaften gesetzlichen Regelungen. Weder das Bundesarchivgesetz noch das Informationsfreiheitsgesetz des Bundes regeln unmittelbar und explizit die Einsichtnahme in archivierungswürdige und archivierungspflichtige Akten und Unterlagen des Bundes, wenn diese bisher deshalb nicht in die tatsächliche Verfügungsgewalt des Bundesarchivs gelangt sind, weil sie "privatisiert" wurden. Die gesetzlichen Regelungen müssen verfassungskonform, also unter Beachtung der Anforderungen des Grundgesetzes, ausgelegt und angewendet werden. Und das ist gar nicht so einfach. Dabei geht es vor allem um die Schutzgewährleistungen der Grundrechte der Presse- und Informationsfreiheit sowie der Forschungs- und Wissenschaftsfreiheit.