Der Kampf um die Leserforen

Einige Leitmedien haben bei Berichten zum Konflikt zwischen der Nato und Russland jüngst kaum noch Leserforen freigeschaltet. Nun äußern sich gegenüber Telepolis erstmals die Chefredakteure von Spiegel Online, FAZ.net und Süddeutsche.de zu den Hintergründen aus ihrer Sicht

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Die zunehmenden Spannungen zwischen der Nato und Russland sind weiterhin eines der großen und viel diskutierten Themen in der Öffentlichkeit - letztlich geht es um kaum weniger als Krieg und Frieden in Europa. Viele Menschen haben dazu eine Meinung, oft auch persönliche Erfahrungen, wollen sich äußern und diskutieren.

Eine Stichprobe bei Spiegel Online (SPON), sowie bei der Online-Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ.net) ergab nun jedoch, dass für den Zeitraum vom 1. bis 19. Juni nur bei gut 10 Prozent der Artikel zu diesem Thema Leserforen freigeschaltet waren. Dieser Anteil lag bei SPON und FAZ.net etwa gleich hoch. Anders gesagt: Gut 90 Prozent aller Berichte und Analysen zum Konflikt zwischen der Nato und Russland konnten die Leser dort nicht diskutieren.

Aus den Erfahrungen mit Leserforen seit Ausbruch der Ukrainekrise ist bekannt, dass die Leser sehr oft konträr zum Tenor der Leitmedien argumentieren. Zweifellos geht es in diesem Zusammenhang auch um Deutungshoheit: Wer bestimmt das öffentliche Bild bei einem politischen Konflikt? Wenn ein maßgeblicher Anteil der Leser - eventuell sogar die Mehrheit - dauerhaft zu anderen Interpretationen gelangt, als Journalisten der führenden Medien, dann entsteht Erklärungsbedarf.

Sollen die Leser womöglich bei politisch brisanten Themen, bei denen ihre mehrheitlich abweichende Meinung bekannt ist, gar nicht mehr oder kaum noch zu Wort kommen? Oder ist eine solche These bloß eine unsinnige Unterstellung? Telepolis befragte dazu die zuständigen Chefredakteure. Erfreulicherweise ließen sich alle auf ein Gespräch ein.

Spiegel Online: 8 von 9 Artikeln lassen sich nicht kommentieren

Spiegel Online ist mit etwa 18 Millionen monatlichen Besuchern eine der meistfrequentierten News-Webseiten und ein Trendsetter in der Branche, auch was die Themensetzung und die Kommentierung angeht. Zwischen dem 1. und dem 19. Juni erschienen dort 9 Artikel zum Konflikt zwischen der Nato und Russland. Lediglich einer konnte von Lesern kommentiert werden. Bei allen anderen 8 Artikeln war kein Forum geschaltet. Hier die Überschriften der entsprechenden Texte in der Reihenfolge ihres Erscheinens:

  • Provokation über der Ostsee: Russische Maschine soll durch estnischen Luftraum geflogen sein (7. Juni)
  • Nato-Ministertreffen in Brüssel: Hart gegen Russland, Schleuser und den IS (14. Juni)
  • Ministertreffen in Brüssel: Nato erklärt Cyberraum zum Kriegsschauplatz (14. Juni)
  • Militärmanöver "Saber Strike": Nato-Staaten beginnen Operation Abschreckung (14. Juni)
  • Konflikt mit der Nato: Putin lässt Einsatzbereitschaft der Armee prüfen (14. Juni)
  • Nato: Stoltenberg warnt vor russischen Expansionsplänen (16. Juni)
  • Steinmeier kritisiert Nato-Manöver: "Säbelrasseln und Kriegsgeheul" (18. Juni)
  • Kritik an Nato-Militärmanöver: Steinmeier provoziert Koalitionskrach (19. Juni)

Am 20. Juni richtete ich eine Anfrage an Florian Harms, den Chefredakteur von Spiegel Online, in der ich um eine Erklärung für das Fehlen von Leserforen bei diesem Thema bat und mich erkundigte, nach welchen Kriterien bei SPON Leserforen geschaltet oder eben nicht geschaltet werden. Eine erste Anfrage einige Tage zuvor hatte Harms unbeantwortet gelassen. Eine Nachfrage über seine persönliche Assistentin führte schließlich zu einer Antwort, die zunächst aber eher unpräzise blieb:

Beiträge zum außenpolitischen Konflikt zwischen Russland und dem Westen erfordern oft eine intensivere Moderation. Aber die leisten wir selbstverständlich, immer im Rahmen unserer personellen Möglichkeiten.

Florian Harms

Auf konkrete Nachfrage erklärte Harms, dass man derzeit personell nicht überlastet sei. Warum dann aber das Fehlen der Leserforen im konkreten Fall? Die Frage blieb offen. Der SPON-Chefredakteur erläuterte lediglich allgemein, dass sich seiner Ansicht nach nicht jedes Thema für ein Leserforum eigne. Ein Text benötige "eine echte, starke These, wenn er eine fruchtbare Debatte auslösen soll." Sonst bekäme man "keine Debatte und meinungsstarke Argumente, sondern lediglich einen Wust an Äußerungen", so Harms.

Unmittelbar während dieser per Email geführten Korrespondenz mit dem Chefredakteur reagierte Spiegel Online und öffnete überraschend mehrere Leserforen zum Thema - bei Artikeln, die bereits einen bzw. vier Tage zuvor erschienen waren. Bei dem Text "Stoltenberg warnt vor russischen Expansionsplänen" sowie beim Beitrag "Kritik an Nato-Militärmanöver: Steinmeier provoziert Koalitionskrach" waren Leserdiskussionen nun plötzlich doch möglich. Diese spontane Öffnung der Leserforen hatte Harms mir gegenüber zunächst nicht erwähnt. Ich entdeckte sie zufällig. Darauf angesprochen erwiderte der SPON-Chef:

Unter den von Ihnen genannten Artikeln haben wir nachträglich - nach Ihrem Hinweis - Foren geschaltet, weil sie sich gut für eine Debatte eignen.

Florian Harms

Schön! Doch bedurfte es für diese "Erkenntnis" wirklich erst eines Hinweises von außen? Sollten die zuständigen Spiegel-Redakteure tatsächlich nicht selbst erkannt haben können, dass sich diese Texte "gut für eine Debatte eignen"? Das erschien wenig glaubhaft.

Nach einigem hin und her bot Harms ein persönliches Telefonat zur Klärung dieser Fragen an. Am Telefon machte der SPON-Chef noch einmal deutlich, dass es "keine Ansage, keine Anweisung" seitens der Chefredaktion geben würde, zum genannten Thema keine Leserforen zu schalten. Im Redaktionsalltag müsse schnell entschieden werden, manche Themen kämen dabei gelegentlich zu kurz, auch bei den Foren, gerade in einer nachrichtenintensiven Zeit. Auf keinen Fall wäre Absicht im Spiel.

Nur bei ganz wenigen Themen, wie etwa Gewalttaten oder Kindesmissbrauch, entscheide die Redaktion absichtlich, keine Foren zuzulassen. Beim Thema Flüchtlingskrise seien die Foren 2015 zeitweise aufgrund der großen und von den Moderatoren der Foren nicht mehr zu verarbeitenden Menge der Leserbeiträge geschlossen worden. Hierbei handle es sich um Ausnahmen. Dass nun bei 90 Prozent der Artikel zum Thema Nato/Russland kein Leserforum geschaltet worden war, sei "mehr oder weniger ein Zufall", so Harms.

Nachdenklich reagierte er gleichwohl auf den Hinweis, dass bei FAZ.net ein ähnlich hoher Anteil der Texte zum Thema nicht kommentiert werden könne.

Auf die Nachfrage, wer entscheide, ob es ein Leserforum zu einem Artikel gibt oder nicht, erklärte Harms, dies lege zunächst der Autor des Textes selbst fest. Dieser speise seinen Bericht direkt in das Computersystem von Spiegel Online ein, wo er per Klick auch über das Zulassen eines Forums entscheiden könne. Der Text gehe vor der Veröffentlichung allerdings noch durch zwei Instanzen, zum einen an das jeweilige Fachressort, zum anderen an den Newsdesk, wo jeweils, unabhängig von der Entscheidung des Autors, nachträglich noch ein Leserforum zum Text geschaltet werden könne, wenn man das dort für richtig halte.

Überraschender Kursschwenk bei Spiegel Online

Spiegel Online leitete in der Folge einen deutlichen Kursschwenk ein. In der Zeit vom 20. bis 30. Juni erschienen weitere 13 Artikel zum Konflikt zwischen der Nato und Russland. Die Überraschung: 12 davon ließen sich nun kommentieren. Die Quote der Nato/Russland-Artikel mit Leserforen war also nach dem kritischen Hinweis von 10 auf über 90 Prozent hochgeschnellt.

Interessant auch: Harms hatte erklärt, dass bei SPON in der Regel nur bei Meinungsbeiträgen ein Leserforum geschaltet würde, also bei Artikeln, die ein namentlich zeichnender Autor mehr oder weniger in persönlicher Auffassung schreibt. Kurze Texte auf Basis von Agenturmeldungen hingegen würden kein Leserforum bekommen. Denen fehle das für eine Debatte nötige "Narrativ", die "These". Die Logik dahinter lautet offenbar: Agenturmeldungen sind zu langweilig zum Diskutieren - eine Annahme, die fraglich erscheint. Doch wie auch immer man das bewerten mag, die Aussage von Harms wurde in jedem Fall durch die Realität widerlegt: Von den 12 kommentierbaren Artikeln, die zwischen dem 20. und 30. Juni zum Konflikt zwischen der Nato und Russland bei SPON erschienen, waren 6 keine Meinungsbeiträge, sondern eben kurze Meldungen ohne Autorennamen.

Es scheint so, als seien die von Harms genannten Kriterien eher eine Erklärung für die Öffentlichkeit. Man beschreibt Regeln, die einleuchtend klingen, an die man sich selbst aber gar nicht hält. Tatsächlich sieht es so aus, als ob die Entscheidung, ein Leserforum unter einem Artikel zu schalten oder nicht, in der Redaktion mehr oder weniger aus dem Bauch heraus getroffen wird, je nach politischer Lage und Stimmung des Autors. Wie gesehen, reicht sogar schon die kritische Nachfrage eines einzelnen Journalisten aus, um die beschriebenen "Kriterien" über den Haufen zu werfen.

Natürlich ist es erfreulich, wenn Spiegel Online nun den Hinweis aufnimmt und mehr Leserdebatten zum Thema ermöglicht. Doch ohne nachvollziehbare und auch konsistent befolgte Kriterien bleibt das Freischalten von Leserforen eine willkürliche Entscheidung, was das Misstrauen vieler Leser gegenüber "parteiischen Medien" kaum dämpfen dürfte.

Auf die abschließende Frage, warum man im SPON-Forum Leserkommentare nicht bewerten könne, wie das bei vielen Mitbewerbern möglich ist, räumte Harms ein, dass er selbst den technischen Zustand des von ihm verantworteten Forums als nicht mehr zeitgemäß ansieht. Für die Zukunft erwäge man auch die Möglichkeit der Bewertung von Leserkommentaren durch andere Leser. Das Forum solle insgesamt erheblich modernisiert werden. Einen konkreten Zeitrahmen dafür wollte der SPON-Chef allerdings nicht nennen. Wie es aussieht, hat das Vorhaben bislang keine hohe Priorität.

Teil 2: FAZ schaltet lieber ab: "Propaganda, Verachtung und Hass". Für die Süddeutsche sind Leserforen angeblich wegen der "x-mal durchgekauten" Debatten langweilig, die Zeit hat die Leser-Empfehlungen für Kommentare wieder ausgeschaltet.