"Eine Welt am Rande des Nervenzusammenbruchs"

Petra Gehring über die begrenzte Vermittlungsfunktion der Philosophie

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Petra Gehring ist seit 2002 Professorin der Philosophie an der Technischen Universität in Darmstadt und Mitglied des Beirats der Allgemeinen Zeitschrift für Philosophie. Sie hat mehrere Bücher über Michel Foucault und die Theoreme der neueren französischen Philosophie veröffentlicht und sich mehrfach mit dem Sterben philosophisch auseinandergesetzt. 2010 hat sie ihr jüngstes Buch "Theorien des Todes" publiziert.

In der Entwicklung von der anorganischen Materie über den belebten Organismus bis zum Menschen existiert eine Reihenfolge spezifischer Seinsstufen, die aus den früheren Formen hervorgegangen sind, aber Emergenzen entwickeln, die sich nicht auf die vorangegangenen reduzieren lassen. Dies gilt besonders vom Bereich des Menschen:

Der Mensch hat sich aus der Natur entwickelt, vermittelt sich über die Arbeit mit der Natur und schafft sich eine zweite Natur, die Gesellschaft, auf deren Ebene der Mensch nicht mehr nur Objekt, sondern auch Subjekt des Geschehens ist, weil er nicht nur das Resultat historischer und sozialer Verhältnisse ist, sondern diese auch selbst produziert. Frau Gehring, ist dieser Zusammenhang Ihrer Meinung nach wissenschaftlich verifizierbar oder ist das alles nur im Wolkenkuckucksheim der Philosophie zu finden?

Petra Gehring: In der Frage steckt eine ganze - und auch eine ganz bestimmte - Theorie. Dergleichen Entwicklungstheorien haben in Hegel einen prominenten und anspruchsvollen Vordenker, es gibt sie aber auch in allerlei populären Versionen. Von biologisch geprägten "evolutionären" Anthropologien über verschiedene "Geist"-Philosophien bis hin zu Spielarten einer evolutionären Erkenntnistheorie. Solche Ansätze würde ich nicht einmal als besonders philosophisch bezeichnen.

Es sind heute eher die Biowissenschaften und eben Anthropologien, die von einer solchen Art von Entwicklungs- und Fortschrittskosmos ausgehen. Insbesondere die ungebrochene Rede von "der" Natur gehört dabei aber ins 19. Jahrhundert. Schon Hegel freilich ging mit der Frage nach Natur deutlich vorsichtiger um, als es aus der Frage herausklingt. In welchem Sinne gibt es überhaupt quasi dort draußen eine "erste" Natur als von uns (von Kultur und geschichtlicher Formung) abtrennbare Sache?

Kurz gesagt: Im Wolkenkuckucksheim der Philosophie würde man das geschilderte Szenario wohl als "nicht verifizierbar" und eher naturwissenschaftlich-naiv klassifizieren.

Da haben Sie mich missverstanden: Ich wollte gar nicht so sehr auf "die" Natur abheben, deswegen schlage ich vor, auf diesen Aspekt um Ende unseres Gesprächs noch einmal einzugehen und formuliere meine Frage neu und allgemeiner: Wie würden Sie generell das Verhältnis zwischen Philosophie und Wissenschaft bestimmen?

Petra Gehring: Einmal angenommen, es gäbe eine Wissenschaft im Singular. Dann ist Philosophie eine Wissenschaft - oder jedenfalls unzweifelhaft Teil des Wissenschaftssystems, also fester Bestandteil des Gefüges der forschenden Disziplinen. Allerdings weist sie auch einige Besonderheiten auf. Sie ist eine Disziplin, die erstens Theorie der Wissenschaft betreibt (einzelner Disziplinen sowie der Wissenschaft und von "Wissenschaftlichkeit" im Ganzen), zweitens die Grenzen von Wissenschaft befragt, hinterfragt und reflektiert und drittens Wissenschaft dabei auch kritisiert. Viertens leistet sie sich einen gewissen Anarchismus, das heißt Ausflüge ins Außerwissenschaftliche. Und sie hat fünftens auch gute Begründungen dafür: Begründungen theoretischer wie auch politischer Art.

Die Einzelwissenschaften entwickeln sich mit großer Geschwindigkeit auseinander. Auf welche Weise könnte die Philosophie hier einen Beitrag leisten, diese Differenzen zu überbrücken?

Petra Gehring: Entwickeln sich die Einzelwissenschaften wirklich auseinander? Es gibt auch die These einer geradezu schockierenden Konvergenz der Disziplinen: Was früher getrennte Fächer waren, verschmilzt zunehmend zu einer einzigen, durch Forschungspolitik quasi ganzheitlich gesteuerten Innovationsmaschine Social-Engineering, also dauernden Umbau der Gesellschaft einschließlich.

Ich denke, die Diagnosen kann man zusammendenken. Es gibt tatsächlich einen Trend zur Spezialisierung: Wissenschafter werden immer früher und biografisch immer endgültiger zu Experten für sehr spezielle Dinge. Zugleich werden die Disziplinengrenzen aber auch von innen her und von außen in Bewegung versetzt und vielfach aufgelöst. Es gibt eine Fülle von Bindestrich- und Brückengebieten. Im Extremfall scheint da fast eine Art Markenbildungsprozess im Gange zu sein.

Man denke nur an die sogenannte »Neurowissenschaft«, die von der Zellforschung bis zu Kognitionstheorie und Psychologie aus kaum verbundenen Teilbereichen besteht. Oder, um auch Beispiele aus den Sozial- und Geisteswissenschaften zu nennen, die "Bildwissenschaft", die englischen surveillance-studies (Überwachungsforschung) oder so etwas Kleinteiliges wie die sich in Deutschland gerade etablierende Public-Health-Ethik. Oft halten solche neuen "Marken" sich freilich nicht lange, sondern existieren nur genau so lange, wie es gewisse Wettbewerbsvorteile hat, sich ihnen zuzurechnen. Neuheit hat einen PR-Wert.

Wäre es möglich dass die Philosophie auf andere Wissenschaftsgebiete wie die Sozialwissenschaften oder die Ethik umsiedelt und vielleicht sogar die Religion ablöst?

Petra Gehring: Möglich ist alles. Die Philosophie ist zwar ein sehr altes Fach - eines der ältesten überhaupt. Aber das garantiert ihr in keiner Weise den Fortbestand. Man muss ihren hohen Anspruch an sich selbst, die Fülle des Wissens, für dessen Pflege, Erinnerbarkeit und Aktualisierung sie zuständig ist, und auch ihre Sprechfähigkeit permanent verteidigen und pflegen. Eine meiner Lieblingsdefinitionen der Philosophie lautet: Die Philosophie kümmert sich um die vielen Antworten, zu welchen die dazugehörigen Fragen bereits in Vergessenheit geraten sind - und die Philosophie stellt diese Fragen immer wieder scharf.

Die "Ethik" oder gar die Religion sind kein attraktives Terrain für Philosophen, und sie werden die Philosophie auch umgekehrt nicht ablösen können. Da bin ich mir recht sicher. Angewandte Ethik ist zu opportunistisch, Religion, zumindest in allen monotheistischen Varianten zu dogmatisch, um "auf Philosophisch" noch zu funktionieren. Tausend Jahre Mittelalter haben die Differenz zwischen Theologie und Philosophie nicht einebnen können. Warum sollte die Philosophie sich da nun plötzlich in die Rolle von etwas Religiösem drängen lassen?

Das Verhältnis zu den Sozialwissenschaften ist komplizierter. Sofern diese aber - als datenorientiert-empirische Disziplinen an ihren eigenen methodologischen Problemen derart lustlos und auch theorielos herumlaborieren, wie sie es seit Jahrzehnten tun, ist das Gelände für freundliche Übernahmen durch Philosophen nicht attraktiv.

Dieses Interview ist ein Auszug aus dem Telepolis-eBook von Reinhard Jellen:
Wissen ohne Relevanz - Philosophen über Leben und Technik

Wie sehen Sie die Stärken und Schwächen der heutigen Sozialwissenschaften und die Rolle der Philosophie darin?

Petra Gehring: Die Sozialwissenschaften - genauer: die Soziologen - haben das vergangene Jahrhundert entscheidend mitgeprägt - in einem wirklichkeitsorientierten Klima, das auch die Philosophie bewegte. Um 1900, als die Soziologie sich formierte, entstanden in der Philosophie die Phänomenologie und verschiedene neue Sozialphilosophien. Das 20. Jahrhundert, mit Vertreibung, Exil, extremen Brüchen in der Entwicklung der Fächer hat die Kontakte zwischen Philosophie und Sozialwissenschaften zerrissen. Die Philosophen haben sich teils abgekapselt, teils waren sie auch nicht auf der Höhe aktueller Debatten.

Umgekehrt tut sich die Soziologie - Luhmann ausgenommen - schwer mit Theoriegeschichte und Theorie. Und eine Wissenschaftstheorie der Sozialwissenschaften gibt es nicht. Heute sind die methodologischen Fragen wie auch andere Anlässe zum fachübergreifenden Gespräch nach wie vor selten. Es gibt Zitationskartelle und man duckt sich weg, sobald es anstrengend wird. Die Philosophie geht mit dieser Situation nicht aktiv genug um.

Wie hoch ist der Anteil des Ideologischen bei Philosophie und Wissenschaft?

Petra Gehring: Mit dem Attribut "ideologisch" ist schwer umzugehen, denn es ist unscharf. Keine Wissenschaft ist neutral oder wertfrei. Jede Art von Wahrheitserwartung ist Teil ihrer Zeit. Daraus wird kein Freibrief, alles Mögliche als Wissenschaft zu verkaufen. Aber: Wo beginnt vor diesem Hintergrund "Ideologie"?

Mir machen vor allem solche Formen von Wissenschaftlichkeit Sorgen, die gar nicht mehr am bereits vorhandenen, historisch oder auch in Nachbardisziplinen längst erarbeiteten Kenntnisstand Maß nehmen, bevor sie ihre eigenen Produkte als "neu" und "relevant" verkaufen. Disziplinen, die nur noch aktuellen Trends folgen oder in denen gar keiner mehr liest, was schon da ist, erfinden das Rad neu. Verkaufen heiße Luft. Produzieren für die Massenmedien. Und politisch sind sie Fähnchen im Wind.

Was können Wissenschaft und Philosophie in unserer Zeit voneinander lernen und welche Fehler der anderen Fakultät sollten sie vermeiden?

Petra Gehring: Was die Philosophie anbieten kann: Scharfsinn, Respektlosigkeit, Geduld, Vielsprachigkeit und überhaupt Hingabe an die Möglichkeiten von Sprache, Liebe zum (fast) Unmöglichen, dazu Unbestechlichkeit sowie ein sehr langes Gedächtnis.

Was Philosophie von "der" Wissenschaft lernen kann? Von bestimmten Wissenschaften, etwa der Mathematik, ganz sicher die innere Ruhe und auch eine gewisse Friedfertigkeit, die Philosophen oft fehlt. Auch Selbstvertrauen und Freude an Kooperation. Auf der anderen Seite mag ich auch die Rastlosigkeit der Philosophie, ihre Leidenschaft, auf die Barrikaden zu gehen, und ihre Apokalyptik. Es müssen ja nicht alle so sein und so leben. Eine Welt aus Philosophen bewegte sich sicher unentwegt am Rande des Nervenzusammenbruchs.

Könnte zwischen den Wissenschaften die Philosophie eine Vermittlerrolle einnehmen und welche Voraussetzung müssen dazu Philosophie und Wissenschaften mitbringen?

Petra Gehring: Als Vermittlerin sehe ich die Philosophie nur begrenzt. Sie ist keine Schlichterin und keine alte Tante, die für Harmonie zu sorgen hat. Was die Philosophie zu bieten hat, ist der Zugang zu alternativen Denkformen und, was den akademischen Streit angeht statt Boxkampf eher ein Repertoire wie Jiu Jitsu (so sagte es ein Freund aus der Informatik unlängst). Ich persönlich glaube auch, dass die Philosophie auf eine gute Weise zur Distanz erzieht.

Um am Ende des Gesprächs noch einmal auf den Ausgangspunkt unseres Gesprächs zurückzukommen: Wie würden Sie denn das Verhältnis zwischen Mensch und Natur beschreiben?

Petra Gehring: Auf die Gefahr hin, mich unbeliebt zu machen: Ich halte nicht viel vom kompakten Großbegriff "Natur". Was soll er bezeichnen? Jedenfalls nichts, das sich von uns abtrennen lässt. Wenn mit der Verwendung des Wortes gemeint ist, dass es wichtige Dimensionen und Sachen in der Welt gibt, die unbeherrschbarer und älter sind, als wir es uns vorstellen können, und die unseren Respekt erfordern (nicht zuletzt, weil die Welt ohne sie gar keine Welt mehr wäre, in der man leben könnte), dann sollten wir uns um diese Dimensionen (und Sachen) sorgen und kümmern. Sie zu zerstören oder zu verbrauchen, ist ein bedenklicher Weg.

Einen begrifflichen Gegensatz zwischen "Mensch" und "Natur" benötigen wir, um dies festzustellen, aber nicht den Gegensatz zwischen "Natur" und "Kultur". "Natur" und "Kultur" sind Vereinfachungswerte, Dramatisierungsgrößen wie "gut" und "böse" oder "Menschenseele" und "Gott". Mir scheint die Sorge um das Weltklima oder der Tierschutz - Ist das bloß Natur oder nicht auch unser Produkt? - genauso wichtig wie die Sorge um die Spuren vergangener kultureller Epochen: alte Gräber, die Kunstschätze, die Archive: Ist das jetzt bloß Kultur? Oder nicht auch ein Stück archaischer Materialität der Erde insgesamt?