Die Kriegsverbrechen der "gemäßigten" Opposition

Geht es um Kriegsverbrechen im syrischen Aleppo, ist meist von den Fassbomben des Regimes oder russischen Luftangriffen die Rede. Ein Bericht von Amnesty International erhebt nun Anklage gegen Oppositionsgruppen

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Eigentlich waren Ahmad und sein Sohn dem Krieg schon entkommen. Anfang 2014 verließen die beiden das umkämpfte Idlib und landeten in einem der Flüchtlingslager an der türkischen Grenze. In Begleitung zweier Freunde erlaubte Ahmad seinem 14-jährigen Sohn im Dezember 2015 noch einmal über die Grenze zurückzureisen, um seine Großeltern zu besuchen. Doch statt in Idlib landete Ahmads Sohn im Gefängnis. Ein Mitgefangener sollte später noch einmal berichten, wie er den Jungen in einer Zelle gesehen habe: schreiend, weinend und von Halluzinationen geplagt. Seitdem fehlt von ihm jede Spur.

Das Schicksal von Ahmad und seinem Sohn eines von Dutzenden, das ein neuer Bericht von Amnesty International auflistet. Entführungen, Folter, Hinrichtungen wirft die Menschenrechtsorganisation bewaffneten Gruppen in Aleppo vor. Das Besondere an dem Bericht: Die Anklage richtet sich nicht gegen Regierungstruppen oder die Terroristen des IS. Stattdessen berichtet Amnesty von Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen durch Oppositionsgruppen, die zum Teil auch vom Westen unterstützt werden.

Entführungen von Kindern und Medienvertretern

In dem am Dienstag veröffentlichten Bericht "Torture Was My Punishment" heißt es, syrische Zivilisten seien unter der Herrschaft der Rebellen einer "erschreckenden Welle" von Gewalttaten ausgesetzt. Im Norden von Syrien, wo oppositionelle Milizen unter anderem Teile von Aleppo und Idlib kontrollieren, würden Milizen Kriegsverbrechen begehen, ohne Angst vor Verfolgung haben zu müssen. "Viele Zivilisten leben in anhaltender Furcht vor Entführung, wenn sie das Verhalten der herrschenden bewaffneten Gruppen kritisieren oder gegen die strengen Regeln verstoßen, die manche Gruppen verhängt haben", sagte Philip Luther, Direktor des Nahost- und Nordafrika-Programms von Amnesty.

Die Studie umfasst Interviews mit rund 70 Betroffenen. Dokumentiert werden Fälle von außergerichtlichen Erschießungen, Verschleppung von Kindern und Vertretern ethnischer und religiöser Minderheiten, Fälle willkürlicher Folter und Entführungen gegenüber Mitarbeitern von Hilfsorganisationen und Medienvertretern. Einer von ihnen ist der Journalist Hazem:

… Sie brachten mich zu einem Gefangenenlager von Jabhat al-Nusra. … Sie beschuldigten mich, für einen Sender gearbeitet zu haben, der sich gegen Al-Qaida richtet. Sie folterten mich nach jedem Verhör dreimal. Sie schlugen mich mit einer Eisenstange auf meinen Rücken, meine Knie und Fußsohlen. Sie benutzten auch eine Zange um jeden meiner zehn Finger zu zerquetschen. ...

Hazem
Panzer von Ahrar Al-Sham in Kinsabba, Latakia

Rebellengruppen werden auch vom Westen unterstützt

Amnesty berichtet außerdem, islamistische Gruppierungen wie Jabhat Al-Nusra und Ahrar Al-Sham hätten in ihrem Herrschaftsbereich Religionsgerichte errichtet, die etwa bei Ehebruch oder Apostasie die Todesstrafe verhängten. Kritisiert werden aber auch Oppositionsgruppen wie Division 16, die im Westen in der Vergangenheit als "gemäßigt" galten und von den USA und europäischen Staaten finanziert und ausgerüstet wurden. Wie die islamistische Ahrar Al-Sham nahm Division 16 im April dieses Jahres auch an den Genfer Friedensverhandlungen teil. Gegenüber Amnesty berichtet die Kurdin Lamia Sleiman vom Verschwinden ihrer Mutter:

Meine Mutter verließ [den Stadtteil] Sheikh Maqsoud am Morgen für einen Zahnarzttermin. … Sie ging und kam nie wieder zurück. … Mein Nachbar bat an, sie zu dem Termin zu fahren und wurde mit ihr am Kontrollpunkt einführt. Zehn Tage später wurde er freigelassen und berichtete uns, dass sie von Division 16 festgehalten wird. … Drei Tage nach der Freilassung meines Nachbarn ging mein Bruder lost, um nach meiner Mutter zu fragen. Er rief mich an und sagte, dass er das Gefangenenlager von Division 16 gefunden habe. Es war das letzte, was ich von ihm hörte.

Lamia Sleiman

Mindestens 7 der 31 in Aleppo aktiven Milizen seien in den vergangenen Monaten durch die USA, Großbritannien, Frankreich, die Türkei, Katar, Saudi Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate unterstützt worden, berichtet Amnesty. "Insbesondere jene Regierungen, die sie militärisch und finanziell unterstützen müssen die Misshandlungen unverzüglich ansprechen", fordert die Menschenrechtsorganisation in ihrem Bericht.

"Torture Was My Punishment" ist nicht der erste Bericht, in dem Amnesty über Menschenrechtsverletzungen in Aleppo berichtet. In ihrem Bericht "Death everywhere: War crimes and human rights abuses in Aleppo" berichtete die Menschenrechtsorganisation im Mai 2015 unter anderem über willkürliche Verhaftungen und Kriegsverbrechen durch Regierungstruppen. In "We had nowhere to go: Forced displacement and demolition in northern Syria" warf Amnesty kurdischen Milizen Vertreibungen und Verschwindenlassen von Angehörigen anderer Ethnien vor. Und im Januar 2016 veröffentlichte die Menschenrechtsorganisation einen Bericht zu den Folgen russischer Luftangriffe.