Erdogan sucht neue Wahlbürger

Der türkische Präsident lädt sunnitische Flüchtlinge aus Syrien ein, sich einbürgern zu lassen. Auf den ersten Blick scheint dies eine humanitäre Geste

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Erdogan bietet syrischen Flüchtlingen die türkische Staatsbürgerschaft an. Sein Kalkül: neue Wähler für die AKP und seine autokratische Präsidialherrschaft. "Drei Millionen mal frisches Blut jubelte die regierungsnahe Tageszeitung Aksam."(Junge Welt).

Fast eine Million kurdische Binnenflüchtlinge aus den Städten gibt es im Südosten der Türkei. Viele fanden Zuflucht in den umliegenden Dörfern, welche jetzt, nachdem die Städte in Schutt und Asche gebombt wurden, ebenfalls zerstört werden. Die Berichte aus dem Umland von Lice sind erschreckend: Wälder wurden in Brand gesetzt, Felder der Bauern zerstört und niedergebrannt, Tiere niedergemetzelt. Das entzieht den Bewohnern die Existenzgrundlage. Die Folge: Noch mehr Menschen geben ihre Heimat auf und machen sich auf den Weg - nach Europa.

Die Mehrheit der Kurden und Kurdinnen hat Erdogan sowieso schon verloren. Dabei ist es nicht so, dass alle Kurden sich mit der Idee der demokratischen Selbstverwaltung, wie es sich die linke Partei HDP auf die Fahnen geschrieben hat, identifizieren. Die Kritik an der HDP wächst. Denn die Bevölkerung hat die Nase vom Terror gestrichen voll. Und dennoch hält sich der Widerstand der Kurden im Südosten.

Aber es rumort nun auch bei denjenigen im Südosten der Türkei, die noch lange der AKP die Stange gehalten haben. Die kemalistische CHP warnte denn auch vor radikalen Dschihadisten unter den Flüchtlingen: eine Einbürgerung der Syrer bedeute den Import des salafistischen Bürgerkrieges in die Türkei. Die nationalistische MHP warnt vor einem Wandel der demographischen Struktur in Südostanatolien. Sie befürchtet ein Anwachsen des arabischen Einflusses.

Erdogan ist dabei, mit der Einrichtung von großen Flüchtlingslagern für sunnitische syrische Flüchtlinge in der Region einen Bevölkerungsaustausch einzurichten. Es gibt heute schon - wie in Kilis - mehr syrische Zivilisten als Einheimische. Aus dieser Region wird auch immer wieder berichtet, dass Dschihadisten sich mit Unterstützung der Türkei auf den Weg in den Dschihad gegen die Kurden und Andersgläubige machen. In der Provinz Kahramanmaras protestieren seit Monaten die Dorfbewohner gegen den Bau eines Lagers für mehr als 25.000 syrische Flüchtlinge auf ihrem Weideland. Die Dorfbewohner gehören der diskriminierten Glaubensgemeinschaft der Aleviten an. Sie befürchten ihre Verdrängung und gewalttätige Übergriffe durch die zum Teil streng religiösen sunnitischen Syrer.

Erdogans Einladung zur Einbürgerung

Nun lädt Erdogan die sunnitischen Flüchtlinge aus Syrien ein, sich einbürgern zu lassen. Auf den ersten Blick scheint dies eine humanitäre Geste zu sein. Der zweite Blick darauf offenbart anderes: Die Zerstörung der kurdischen Städte und die Ansiedlung der syrischen Flüchtlinge in den kurdischen Gebieten dient der Vertreibung der kurdischen Bevölkerung und deren Zerstreuung.

Das Angebot der Einbürgerung der (vorwiegend sunnitischen Syrier) hat einerseits das Ziel, Erdogans Wählerstamm weiter zu steigern, um seine Macht abzusichern. Sein Kalkül ist, dass viele eingebürgerten Syrer aus Dankbarkeit und aus einer religiösen Nähe die AKP wählen könnten. Dabei sind besonders die Flüchtlinge, die in den Lagern leben und auf staatliche Hilfsgüter angewiesen sind, erpressbar.

In einigen kurdischen Provinzen hat die Einwanderungsbehörde bereits mit der Registrierung von Einbürgerungsanträgen begonnen. Andererseits geht es um die Zerstörung der kurdischen Kultur. Viele historische Gebäude, die kurdische Wurzeln haben, wurden zerstört. Mittlerweile gibt es auch zunehmend mehr Übergriffe auf Kurden, die auf der Straße kurdisch reden - obwohl dies offiziell nicht mehr verboten ist. Die HDP sieht die Einbürgerungspläne nicht nur im Zusammenhang mit der derzeitigen Vertreibung von Hunderttausenden Kurden im Südosten des Landes und dem Plan, mit dem Wiederaufbau der zerstörten Städte durch die staatliche Baubehörde TOKI, dort Syrer anstelle der vertriebenen Kurden anzusiedeln. Sie sieht auch einen Zusammenhang mit Erdogans Androhung, "Terroristen" die Staatsbürgerschaft entziehen zu wollen.

Was immer das auch heißen mag, denn auch Kurden und Oppositionelle, die als "Terroristen" bezeichnet werden, sind türkische Staatsbürger und müssten (wohlgemerkt: müssten) nach der Verfassung gleich behandelt werden. Es geht also um die komplette Ausschaltung der Opposition. Bei der HDP herrscht nun die Sorge, dass beim geplanten Wiederaufbau durch die staatliche Baubehörde TOKI Syrer anstelle der vertriebenen Kurden angesiedelt werden sollen: Damit auch in diesen Provinzen eine AKP-Mehrheit gesichert ist.

Neue Justizreform baut Erdogans Macht weiter aus

Anfang Juli konnte Erdogan durch die islamisch-konservative Regierungspartei AKP, die nun faktisch die Alleinherrschaft innehat, eine Reform durchsetzen, die einen Abbau von Richterstellen in den beiden höchsten Gerichten des Landes vorsieht. Ein Viertel der Richter darf Erdogan künftig persönlich ernennen. Der Chef der türkischen Richtergewerkschaft warf denn Erdogan auch vor, die Justiz damit unter seine Kontrolle bringen zu wollen. Damit werde die Justiz zum Erfüllungsgehilfen Erdogans.

In den vergangenen Monaten wurden schon viele Richter und Staatsanwälte, vor allem diejenigen, die wegen der Korruptionsvorwürfe gegen Erdogan ermittelt hatten, ihres Amtes enthoben. Darunter auch Metin Özcelik und Mustafa Baser, zwei inhaftierte türkische Richter, die für den Václav-Havel- Menschenrechtspreis 2016 im Europarat vorgeschlagen wurden. Seit dem 30. April 2015 befinden sich die beiden in Untersuchungshaft, weil sie angeordnet hatten, dass 63 Polizisten und ein Journalist nach anderthalb Jahren Inhaftierung aus dem Gefängnis zu entlassen seien.

Vor dem Hintergrund, dass im Fall des Besuchsrechts des Militärflughafens Incirlik für deutsche Politiker nun auch nach der Verteidigungsministerin die Bundeskanzlerin von Erdogan höchstpersönlich eine Abfuhr bekommen hat, sollte ein Verbleib der Bundeswehr in Incirlik doch eine Diskussion im Bundestag wert sein. Welche "Kröten" wollen die Bundesrepublik und die EU noch schlucken?

Erdogan verlangte von Merkel, dass sie sich von der Resolution des Bundestages, den Genozid an den Armeniern als diesen zu benennen, distanziere. Schaut man sich an, was gegenwärtig im Südosten der Türkei passiert, sind Parallelen im heutigen Umgang mit der kurdischen Bevölkerung sichtbar.