Wäre die Ausmerzung des IS-Kalifats in Syrien und im Irak ein Erfolg?

Al-Nusra-Verbände in Nord-Aleppo.

Ebenso wie al-Qaida hat sich der Islamische Staat in vielen Ländern verbreitet, militärische "Lösungen" machen alles nur schlimmer

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Der Islamische Staat, entstanden nach dem Einmarsch der Amerikaner in den Irak, kommt zunehmend unter Druck in den Kerngebieten in Syrien und im Irak, wo er sich 2014 schlagartig ausgebreitet hatte, um nach der Eroberung der Millionenstadt Mossul das Kalifat auszurufen. Tatsächlich schrumpft das vom IS kontrollierte Territorium, es sieht so aus, als würden Raqqa und Mossul nicht mehr lange vom IS gehalten werden können, obgleich deren Einnahme ganz andere Probleme und Folgen hätte, als die Eroberung von Falludscha und der wohl demnächst anstehende Fall von Manbij.

Doch selbst wenn der IS sein Territorium in Syrien und im Irak ganz verlieren würde, wäre er nach seiner Ausbreitung im Nahen Osten und in Afrika und Asien keineswegs besiegt, schon gar nicht, was die Möglichkeit angeht, mit weltweiten Anschlägen zu agieren. Zudem richtet sich der Blick einseitig auf den IS, seine Leerstelle könnten andere islamistische Organisationen, allen voran al-Qaida-Formationen, füllen. Obgleich wiederholt etwa von den amerikanischen Präsidenten Bush und Obama als Erfolg verkündet wurde, dass al-Qaida weitgehend ausgemerzt worden sei, ist sie mächtiger geworden und mittlerweile mindestens in 15 Ländern präsent.

Der Hauptfeind bleibt für die westliche Politik und militärische Intervention der Islamische Staat. Dessen Bekämpfung schafft eine minimale Gemeinsamkeit unterschiedlicher Interessen. Man wird nicht müde, hoffnungsvoll zu verkünden, dass er nun angesichts der territorialen Verluste und militärischen Niederlagen angeblich verzweifelt reagiert und sich mehr und mehr auf Anschläge verlegt. Zuletzt hat IHS Jane's Intelligence Review berichtet, dass bereits 2015 das vom IS kontrollierte Territorium um 12.000 Quadratkilometer auf 78.000 Quadratkilometer oder 14 Prozent geschrumpft sei. Bis Juli 2016 sei das Territorium um weitere 12 Prozent kleiner geworden und würde nun im Irak und in Syrien nur noch 68.000 Quadratkilometer umfassen, was in etwa so viel wie Irland oder Bayern wäre.

Prognostiziert wird, dass nach Ramadi und Falludscha weitere Städte vom Kalifat eingenommen und Gebiete vom zentralen Kalifat isoliert werden, so dass "der IS als konventionelle Streitkraft fragmentiert und schrittweise besiegt" werden kann. Die Einnahme der belagerten Stadt Manbij im Norden Syriens werde, sobald sie eingenommen ist, die Versorgung der "Modellstadt" für die IS-Regierung mit Nachschub und neuen Rekruten - aus der Türkei, müsste man hinzufügen - schwerwiegend beeinträchtigen und die Möglichkeit, eine Regierungstätigkeit auszuführen, untergraben. Die These ist, dass der IS seine Aktivitäten mit schrumpfender Größe und schwindenden Möglichkeiten, Regierungs- und Verwaltungskompetenzen zeigen zu können, zunehmend auf Anschläge und Sabotageakte verlegen werde, um so seine Macht trotz der Rückschläge demonstrieren zu können. Mag sein, dass der IS vielleicht gar nicht entstanden wäre, wenn die islamistischen bewaffneten Gruppen von al-Qaida und Co. frühzeitig nach der Radikalisierung des Arabischen Frühlings 2011 und nach dem Abzug der US-Truppen aus dem Irak bekämpft worden wären. Jetzt aber ist die sich auf Syrien und den Irak beschränkende Bekämpfung durch die US-Koalition und die syrisch-iranisch-russische Koalition eher als Verstärkung der Ausbreitung des islamistischen Terrorismus und der dahinter stehenden Ideologie zu sehen, zumal die noch bestehenden staatlichen Strukturen durch den Krieg weiter zerfallen und weitere durch hochgerüstete Milizen gestützte Machtstrukturen schaffen.

Der IS listet die Anschläge weltweit ebenso als Geschäftsbericht auf, wie dies das Pentagon macht.

Dass die Anschläge während des Ramadan schon eine Folge der zunehmenden Schwäche gewesen seien, was sich an Manbij und Falludscha zeige, wie das gerne und jetzt in einem Washington-Post-Artikel mit dem Titel ISIS bereitet Anhänger still auf den Sturz des 'Kalifats' vor" interpretiert wird, dürfte allerdings nicht stimmig sein. Dort heißt es, der IS richte sich bereits auf den Zerfall des Kalifats ein und gestehe die nachlassenden militärischen Erfolge ein. So hat ein Sprecher Sympathisanten aufgefordert, lieber in ihren Ländern zu bleiben und dort etwas zu machen, als ins Kalifat zu kommen. Das dezentralisiere gerade seine Kommando- und Medienstrukturen auf mehr Staaten. Im wöchentlichen al-Naba-Bericht über die Kämpfe und Erfolge des IS wurde bereits betont, dass der IS weiter existieren werde, selbst wenn die "Kreuzzügler" alle Städte erobern sollten, was aber sowieso nicht geschehen würde.

Propaganda des IS

Der IS ruft schon länger Sympathisanten zu Anschlägen im Westen auf und hat auch zuvor Anschläge selbst durchgeführt. Wenn die Informationen stimmen, wurde in Syrien eine Abteilung zur Planung und Ausführung von Anschlägen im Westen aufgebaut, deren erste Anschläge möglicherweise die im November in Paris waren. Solche Anschläge wie in Paris, Brüssel oder Istanbul müssen langfristig geplant und geübt werden.

Selbst Leutnant Christopher Garver, der Sprecher von Operation Inherent Resolve, will aus den Anschlägen nicht die Schwäche des IS ablesen, auch wenn er durchaus optimistisch über die Entwicklung der Bekämpfung des IS ist. Garver meinte kürzlich, die Ausführung von Anschlägen seien immer schon Ziel des IS gewesen. Der auf dem IS lastende Druck sei vielmehr für ihre Aktionen in Syrien und im Irak zu bemerken. Offenbar ist mit der Einnahme des Militärflughafens bei Qayyarah in der Nähe von Mossul ein weiterer Erfolg gelungen. Die Amerikaner wollen diesen angeblich ausbauen und als Stützpunkt benutzen. Es sollen bereits erste Drohnen stationiert worden sein.

In dem Artikel der Washington Post wird vermutet, dass der IS, der seinen Status als "Quasistaat" allmähliche verliere, in den Untergrund wandere und zu einem "verborgenen und losen Netzwerke mit Zweigen und Zellen auf mindestens drei Kontinenten" werde. Nach der Zerschlagung der Taliban-Herrschaft und von al-Qaida in Afghanistan hat sich al-Qaida auf diese Weise erst wirklich verbreitet. Aus dem irakischen Ableger unter al-Sarkawi wurden schließlich in Syrien al-Nusra und der IS, der sich von al-Qaida abgespalten hat und seitdem auch mit dieser Organisation weltweit konkurriert.

IS und al-Qaida haben eine regionale Bindung schon lange hinter sich gelassen

Der IS verfolgte allerdings von Beginn an eine Doppelstrategie, nämlich den Ausbau des Kalifats im syrischen und irakischen Kernland und die Bildung weiterer Provinzen im Ausland, u.a. auch dort, wo sich bereits al-Qaida-Organisationen wie in Afghanistan, im Jemen, in Somalia, Libyen, Algerien, Tunesien, Mali etc. etabliert haben. Möglicherweise ist die IS-Führung bereits in einem anderen Land abgetaucht. Die Organisation hat Ende Juni vorgestellt, wo sie bereits Fuß gefasst hat. Das Kernland besteht noch aus Syrien und dem Irak, aber man habe bereits in Nigeria, Libyen, Tschetschenien, Ägypten, Somalia, den Philippinen, Afghanistan und Dagestan wichtige Partner und Stützpunkte gefunden. Gesprochen wird von "medium control". Zellen ("covert units") gebe es in Bangladesch, Frankreich, Saudi-Arabien, Tunesien, Algerien und dem Libanon. Das ist nicht nur Propaganda, ihre Anwesenheit hat der IS in vielen dieser Länder zumindest schon durch Anschläge demonstriert.

Auch wenn das kontrollierte Territorium in Syrien und im Irak verloren ginge, wäre der IS auch als Verwaltungsinstanz von wilden bzw. gescheiterten Städten und Regionen nur geschwächt, nicht geschlagen. Vermutlich wäre er noch weniger zu bekämpfen als bislang, wo er sich auf das Kerngebiet des Kalifats gestützt hat, während er nach dessen Zerschlagung in vielen Ländern mit sunnitischen Bevölkerungsanteilen auf- und untertauchen würde. Das ist auch bei al-Qaida geschehen. Erst kürzlich hat Hamza, ein Sohn von Osma bin Laden, darauf hingewiesen. Die Mudschaheddin seien zwar in Afghanistan besiegt worden, sagte er, der wohl zu einem neuen Führer aufgebaut werden soll. Jetzt aber sei al-Qaida nicht nur wieder in Afghanistan präsent, sondern auch in Syrien, Palästina, Jemen, Ägypten, Irak, Somalia, Indien, Libyen, Algerien, Tunesen, Mali und Zentralafrika. Das Small War Journal merkt an, dass al-Qaida nur im Irak keine "offiziellen Zweige oder verbundene Gruppen" hat.

Allerdings erfolgte die Ausbreitung, von US-Militärs gerne als Metastasen-Bildung des IS als Tumor verstanden, bereits zu der Zeit, als der IS in Syrien und vor allem im Irak seine größten Erfolge zeigte und in einem Blitzkrieg sein Territorium vergrößern konnte. Wie al-Qaida ist der IS nach der Ideologie keine nationalistische Bewegung, wie das beispielsweise die Taliban sind, es bindet nur islamistische "Befreiungsbewegungen" mit internationalen Kampfgruppen in einen internationalen Kampf zur Errichtung einer globalen, transnationalen Ummah ein. Das ist gewissermaßen das Moderne dieses Islamismus, der sich von ethnischen und völkischen Strukturen löst, während im Westen gegen die Globalisierung wieder nostalgische nationalistische und völkische Extremisten entstehen, die sich politisch, ideologisch und wirtschaftlich einigeln wollen.

Der IS knüpft bereits an der eigenen Legendenbildung, da seine Vorgängerorganisation im Irak bereits weitgehend zerrieben worden war und an Unterstützung verloren hatte, weil die USA begonnen hatten, sunnitische Männer als Selbstverteidigungskräfte zu bezahlen. Nachdem die schiitische Regierung des Iraks das Programm beendete und die Sunniten diskriminierte und verfolgte, vor allem aber mit dem arabischen Frühling in Syrien lebte die Organisation wieder auf und fand Rückhalt in Teilen der sunnitischen Bevölkerung. Das werde auch wieder geschehen, wird verbreitet.

Gleichzeitig weist die Legende auf eine Lösung hin. Nicht militärisch ist der islamistische Extremismus zu besiegen. Es wäre bei weitem sinnvoller, die dem Militär und den Rüstungskonzernen zukommenden Gelder für Wirtschaftsprogramme einzusetzen, die den Menschen Arbeit und Einkommen verschaffen und die Länder modernisieren.