Nach Dallas, Nizza und Würzburg: Wer ist eigentlich ein Terrorist und wer nur psychisch gestört?

Der Jugendliche überhöht sich, der IS verbreitet Angst und Propaganda: eine Win-Win-Situation

Nach einem medialen Drehbuch scheinen immer wieder junge Männer mit einem blutigen Spektakel ihre Leben beenden zu wollen. Ist das politisch?

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Die französische Regierung betonte schnell, dass es sich bei dem Massaker in Nizza um einen Terroranschlag handelte. Etwas gewunden und zögerlich hatte sich der IS schließlich über seine "Nachrichtenagentur" Amaq die Tat des Tunesiers Mohamed Lahouaiej Bouhlel zugeschrieben, vermutlich hatte man Schwierigkeiten mit einem "IS-Soldaten", der nicht religiös war, Alkohol trank und auch ansonsten nicht der Dschihad-Moral der Islamisten folgte (IS bekennt sich zu Massaker in Nizza).

Zwar war sich Innenminister Cazeneuve erst einmal nicht sicher, ob es sich um einen Terroristen mit islamistischen Verbindungen handelte, aber Regierungschef Valls sah dies von vorneherein als gegeben an. Das Bekennerschreiben des IS und die These von der Schnellstradikalisierung sollen das Bild aufrechterhalten, dass es es sich hier um den Handlanger einer Gruppe handelt, mit der man im In- und Ausland im Krieg liegt.

Ähnliche Probleme der Einordnung gab es auch in den USA, etwa mit Omar Mateen, der 49 Menschen in einer Schwulenbar in Orlando getötet hatte. Er hatte sich ebenso wie Larossi Abballa, der bei Paris einen Polizisten und dessen Frau ermordete, vor der Tat noch schnell zum IS bzw. zu dessen Führer al-Bagdadi bekannt (Sicherheitsbehörden sind bei der Terrorismusabwehr überfordert). Fraglich ist auch bei den beiden jungen schwarzen Männern, die in Dallas und Baton Rouge gezielt Polizist erschossen, ob sie einen Rachefeldzug gestartet haben oder ob die jüngsten Vorfälle der Polizeigewalt gegen Schwarze nur Auslöser, aber nicht die Ursache ihrer Taten waren.

Suizidaler Ausstieg mit der Axt und dem IS

Und jetzt gibt es noch den Angriff eines 17-jährigen Afghanen (oder Pakistaners?), der im Juni 2015 als unbegleiteter Jugendlicher als Flüchtling nach Deutschland gekommen war. Er könnte sich als Afghane ausgegeben haben, so wird vermutet, um bessere Chancen zu haben, aufgenommen zu werden.

Er soll Allahu Akbar vor dem Angriff mit einer Axt und einem Messer auf eine Familie aus Hongkong gerufen haben und 4 der Chinesen in dem Zug teils schwer verletzt haben. Der Zug wurde mit der Notbremse zum Halten gebracht, der Jugendliche konnte fliehen und griff eine Spaziergängerin an und verletzte sie ebenfalls mit der Axt. Ein Sondereinsatzkommando tötete schließlich den jungen Mann, als er angeblich die Polizisten angreifen wollte. Das war wohl auch so bezweckt, schließlich wollte der junge Afghane Märtyrer werden und schließt sich damit den anderen Angreifern der letzten Zeit an, die allesamt eine Situation herstellten, in der sie mit der Tötung von anderen Menschen auch ihren Tod suchten. Man kann wohl dankbar sein, dass der Jugendliche keine Schusswaffen in die Hände bekommen hat.

Seit zwei Wochen war der Jugendliche in einer Pflegefamilie untergebracht worden, er soll eine selbstgemalte IS-Flagge in seinem Zimmer gehabt haben. Zunächst hatten zwei Dokumente Hinweise gezeigt, dass er sich nach französischem Vorbild angeblich "schnell" radikalisiert hat. Nachdem der IS sich dieses Mal sehr schnell zu dem Anschlag bekannt hat und auch eines der üblichen Märtyrer-Videos des Jugendlichen, der sich in seinem Zimmer vor der Tat gefilmt hatte, veröffentlichte, in dem er sich als IS-Soldat bezeichnete, einen Treueid leistete, andere zu weiteren Anschlägen oder zum Anschluss an den IS aufrief, spektakuläre Anschlägen ankündigte und drohte, alle Ungläubigen mit dem Messer zu töten, das er in der Hand hielt und mit er herumfuchtelte, wird nun auch hier die Ursache im islamistischen IS-Terrorismus gesucht und wahrscheinlich gefunden. So sagt jetzt auch die Staatsanwaltschaft, der 17-Jährige sei "politisch motiviert" oder auch "islamistisch-religiös" motiviert gewesen.

Damit hätte man auch diese Tat eines Jugendlichen, der gemäß der Dramaturgie seine Macht- und Gewaltphantasien auslebt, in gewohnten Kästen eingeordnet und einen im Prinzip identifizierbaren Feind gefunden, auch wenn es im Unterschied zu den ausgeklügelt geplanten Großanschlägen des IS wie in Paris oder Istanbul keine direkten Verbindungen der Täter mit IS-Mitgliedern gibt. Der IS könnte nicht nur wegen des ihm irgendwie zugegangenen Videos so schnell reagiert haben, auch wenn die Tat nicht erfolgreich war und zudem wahrscheinlich zufällig eine Familie aus Hongkong als wahlloses Ziel für den Jugendlichen zum Opfer wurde, weil es sich um den ersten vollzogenen Anschlag in Deutschland handelte. Vermutlich aber auch deswegen, weil der Täter so jung war und man hofft, Nachahmer aus dieser Altersschicht über die Verbreitung des Videos zu finden, vor allem wenn sie ohne Familie allein und mit vielleicht schlimmen Erfahrungen nach Europa geflüchtet waren. Der IS betreibt mit seinen "Märtyrern" einen Kult, der Vorbilder für "Fans" schaffen soll, die ebenfalls als "Soldaten des Kalifats" geadelt werden wollen.

Macht- und Gewaltphantasien eines Jugendlichen, der sie auszuleben sucht.

Es ist ein Terrorist - das stärkt die Ordnung der Dinge

Offenbar war auch dieser Jugendliche kein sonderlich gläubiger Muslim. Beschrieben wird er als ruhig und ausgeglichen, er sei "sympathisch, freundlich, entspannt" gewesen, sagte die Flüchtlingsbeauftragte der AWO Ochsenfurt, Simone Barrientos, im ARD-Brennpunkt. Er leistete gerade ein Praktikum, das ihm vielleicht die Möglichkeit einer Lehrstelle eröffnet hätte. Hat er vielleicht vor diesem Schritt in die Gesellschaft Panik bekommen, während andere in ihr keinen Fuß fassen konnten, Schwierigkeiten mit Beziehungen hatten oder immer wieder in Kriminalität abrutschten, um dann ihre schnell finale Karriere beim IS zu finden.

Am Freitag oder Samstag soll der Jugendliche erfahren haben, dass ein Freund in Afghanistan umgekommen ist. Erst danach sei er auffällig geworden, so die Polizei. Das wäre dann eine Blitz-Radikalisierung gewesen, die bereits angelegt sein muss, aber erst ein Auslöser setzt dann die Kettenreaktion in Gang. Aber wenn er kein Afghane war, könnte diese Geschichte auch nicht stimmen, trotzdem könnte ein Ereignis ihn aus der Bahngeworfen haben.

Über alle Täter hinweg gibt es Gemeinsamkeiten: Es sind junge Männer, die angeregt durch Propaganda und Gewalt um sie herum aus eigenen Motiven heraus und in der Regel alleine beschließen, in einem vorgefundenen Kontext, der ihren geplanten erweiterten Selbstmord überhöht und Bedeutung verleiht, Menschen zu ermorden. Das Drehbuch gleicht den sogenannten Amokläufen oder Massentötungen, die schon vor den Anstiftungen islamistischer Terrororganisationen für einen "open source jihad" ohne politischen Bezug, wohl aber aus existentieller Verzweiflung oder psychischen Problemen mit Blick auf die Erzeugung größtmöglicher Aufmerksamkeit stattgefunden haben. Auch hier versuchten die jungen Männer in Konkurrenz zu ihren Vorgängern deren Taten in einem Ranking zu überbieten.

Die Einordnung dieser nihilistischen Selbstmordexzesse in einen politischen oder religiösen Kontext, mit dem sie sich mitunter (aber nicht immer) maskieren, erscheint deswegen als eine Geste der Verdrängung, weil hier das Böse von außen zu kommen scheint. Da kann man Handlungsbereitschaft zeigen, indem hart zurückgeschlagen wird. Handelt eine Person aus politischen oder religiösen Gründen, so handelt er strategisch und rational, er bezweckt eine Veränderungen, will nicht nur den Tod um sich verbreiten, weil er keine Zukunft für sich sieht. Die jungen Männer werden verführt, die Gesellschaft, in der sie leben, hat eigentlich damit wenig zu tun. Dabei bietet der apokalyptische Islamismus nur das offenbar überzeugende Narrativ, mit einem Knall das Leben verlassen zu können - und gleichzeitig die Mitmenschen zu bestrafen, die alles erdulden, um weiter zu leben.

Viel beunruhigender wäre es, diese jungen Männer, oft mit Migrationshintergrund oder Minderheiten angehörig, also mit verunsicherter Identität, als implosives Produkt der Gesellschaft sehen zu müssen. Fragen müsste man sich, warum zunehmend mehr junge Männer - und nicht ältere Männer, Mädchen oder Frauen -, sich mit einem finalen Spektakel verabschieden wollen. Was zeigen sie mit der Missachtung des eigenen und fremden Lebens dem Rest der Gesellschaft damit, die davon ebenso geängstigt wie fasziniert ist? Dagegen kann man nicht mit Bomben und Kriegen, Geheimdiensten, Überwachung und Repression ankämpfen, was allerdings alles das BIP erhöht, aber selbst auch hinreichend Kollateralschäden im Versuch verursacht, die Ordnung der Dinge zu bewahren, die Selbsterhaltung über den erweiterten Selbstmord zu stellen. Der IS könnte für junge Männer aus dem Westen lediglich zu einem Script geworden sein, wie sie dies auch aus den westlichen Medienprodukten kennen, um ihr entgleistes und nicht zufriedenstellendes Leben zu beenden. Damit könnten sie auch zeigen, dass derzeit etwas fundamental falsch läuft, dass radikale Kulturkritik heute nur noch den Ausweg im nihilistischen Massenselbstmord findet.