Türkei: Eine Geheimarmee für Erdogan?

Ein Sicherheitsunternehmen soll dem Präsidenten dabei helfen, die Entwicklung einer islamischen Supermacht voranzutreiben. Mit Samthandschuhen wird nicht agiert

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Der altgediente türkische Militärexperte Dündar bezweifelt in Al-Monitor, dass es überhaupt so viele Anhänger der Gülen-Bewegung im Militär geben könne, wie in den Tagen seit dem gescheiterten Putsch verhaftet wurden. Unter den 3.000 verhafteten Militärs sind über 40 Generäle. Darunter ein 4-Sterne-General, der für die Region entlang der syrischen und irakischen Grenze verantwortlich war. Im Südosten wurden weitere Dutzende der Hauptbefehlshaber der Bodentruppen, die im Kampf gegen die PKK eingesetzt wurden, verhaftet.

In einem Youtube-Video werden hohe Offiziere, darunter Generäle im Polizeihauptquartier in Ankara gezeigt. Ab Minute 3 ist zu sehen, dass die Offiziere, darunter auch der Luftwaffenchef, anscheinend gefoltert wurden.

Auch die im Dienst verbliebene Truppe wird sich diese Filme und Bilder ansehen und Schlüsse daraus ziehen. Auf diese Weise könnte sich im Militär mittelfristig gefährlicher Widerstand aufbauen. Erdogan ahnt das nicht erst seit dem Putschversuch. Er baut bereits seit geraumer Zeit Truppen auf, derer er sich sicher sein kann. Es handelt sich um eine absolut verlässliche Garde, wie sie Diktatoren traditionell schätzen. Eine von Erdogans Privattruppen wird angeblich von der Sicherheitsfirma Sadat instruiert.

Eine "irreguläre" Truppe

Über die Nachrichtenagentur ANF und die Tageszeitung Cumhuriyet wurde in der vergangenen Woche, also noch vor dem Putsch, Hinweise bekannt, wonach in der Region Lice neben den regulären türkischen Einheiten und den Sondereinheiten von Polizei und Militär auch eine "irreguläre Truppe" zum Einsatz gekommen sei. Auch bei diesem Einsatz ist von außergewöhnlichen Härten die Rede. So sollen laut o.g. Quellen Soldaten der irregulären Truppe versucht haben, während der Zeit der Ausgangssperre (vom 22. Juni bis 3. Juli) 34 Bauern bei lebendigem Leibe zu verbrennen.

Die Nachrichtenlage ist, wie wir bereits mehrmals hingewiesen haben, schwierig und voller Tücken. Die Mehrheit der türkischen Medien berichtet aus bekannten Gründen nicht über solche Meldungen; die kurdischen Medien berichten aus ihrer Perspektive, die sich sehr von den Verlautbarungen mit Ankaras Segen unterscheidet. Distanzierte und verlässliche Berichterstattung findet nicht statt. So ist das Mosaik aus mehreren Teilen zusammenzuzusetzen.

Für die Authentizität des eben genannten brutalen Überfalls lieferte die Co-Vorsitzende der Partei der Demokratischen Regionen (DBP), Sebahat Tuncel, auf einer Versammlung der Parteispitze in Diyarbakir (kurd.: Amed) Hinweise. Sie sprach über die Bombardierung von Lice und die Zerstörung des Lebensraumes der Bauern durch das Niederbrennen der Wälder und Felder. Bei dieser Militäroperation sollen 34 Bauern verhaftet worden sein.

Zur Verhaftung kam Berichten zufolge eine Gruppe Paramilitärs hinzu, alle bärtig und mit tätowierten arabischen Schriftzeichen auf den Armen. Sie sollen Benzin mit sich geführt und einem Armeeoffizier mitgeteilt haben, dass sie die Verhafteten verbrennen wollten. Nur durch das Veto des Offiziers konnte das Massaker verhindert werden. Mitglieder der inoffiziellen Truppe sollen den Soldaten entgegengehalten haben, dass sie niemandem Rechenschaft schuldig seien, dass die Festgenommenen allesamt Terroristen seien, die verbrannt gehörten. Der Offizier entgegnete dem Bericht zufolge, dass er die Verhaftung bereits gemeldet habe und von daher nichts weiter zu tun sei.

Ein Sicherheitsunternehmen und seine Ideologie

Sebahat Tuncel berichtete der Zeitung Cumhuriyet, dass der Name "SADAT" gefallen sein soll. Es handelt sich dabei um ein Sicherheitsunternehmen. Manche bezeichnen es als das türkische Pendant zum US-Sicherheits- und Militärunternehmen Academi, vormals Blackwater, das unter anderem im Irakkrieg aktiv war.

In diesem Zusammenhang wurden - bis in die Tage vor der Machtergreifung Erdogangs über die Ausrufung des Notstands, womit die Berichterstattung noch weiter eingeschnürt und abgewürgt wird - immer wieder Vermutungen laut, wonach es sich hier um Spezialeinheiten handelt, die Erdogan oder dem Innenminister Efkan Ala direkt unterstellt sind. Auch aus Nusaybin, Sirnak, Sur und Cizre kamen ähnliche Vorwürfe, wonach bärtige, untereinander arabisch sprechende Soldaten gesonderter Militäreinheiten besonders brutal gegen die Zivilbevölkerung vorgegangen seien.

Schon 2012 stellte die kemalistische CHP mehrere parlamentarische Anfragen zu den Aktivitäten der Sicherheitsfirma, ob sie etwa staatliche Gelder bekämen oder staatliche Aufträge erhalten hätten. Eine Antwort erhielten sie nie. Das Sicherheitsunternehmen SADAT wurde 2012 von dem pensionierten General Adnan Tanrıverdi gegründet. Adnan Tanrıverdi wurde von Putschgeneral Kenan Evren schon in den 1980er Jahren in der Organisation Özel Harp Dairesi (Einheit für spezielle Kriegsführung) gegen die Kurden eingesetzt. Diese Organisation, in der auch die CIA mitmischte, diente der Aufstandsbekämpfung.

Tanrıverdi war als Offizier auch im Bosnienkrieg eingesetzt. Höchst interessant ist es, sich mit seiner Ideologie auseinanderzusetzen. Die Sicherheitsfirma SADAT hat sich offenbar zum Ziel gesetzt, die Entwicklung einer islamischen Supermacht mit Rat und Tat zu unterstützen.

Fanatische Anhänger Erdogans

Als westliche Geheimdienste davon erfuhren, dass das Unternehmen IS-Mitglieder ausbildet, stoppte SADAT das "Programm mit dem IS". Jetzt bildet das Unternehmen Jugendliche aus der Jugendorganisation der AKP und des Vereins Osmanlı Ocakları aus. Dabei handelt es sich um eine Bewegung, deren Mitglieder fanatische Anhänger von Erdogan sind. Auf ihrer Webseite ist zu lesen, dass "Recep Tayyip Erdogan unsere Ehre ist" und es ihr Ziel sei, die osmanische Kultur zu leben und lebendig zu machen.

Es sei Aufgabe der Türken, eine islamische Supermacht zu schaffen und zu den osmanischen Werten zurückzukehren. Dabei beziehen sie Türken, Kurden, Aleviten als Osmanen mit ein. Sie sind gegen Separatismus und umgeben sich mit einem pluralistischen Mäntelchen. Sie schaffen damit auch ein Gegengewicht zu den Kemalisten und den Werten Atatürks, nach denen es keine Minderheiten und kulturellen Unterschiede gibt, sondern alle sind Türken - Punkt.

Der Verein Osmanlı Ocakları unterhält enge Kontakte zu führenden staatlichen Funktionären, wie z.B. zum Vorsitzenden des Obersten Hochschulrates Yekta Saraç oder zum Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofes Ismail Cirit. Es soll auch in Deutschland eine Untergruppe geben.

Dass SADAT im Auftrag der türkischen Regierung unterwegs ist, ist nicht unwahrscheinlich. Auch der - berüchtigte - türkische Whistleblower Fuat Avni berichtete vor zwei Wochen via Twitter, dass die Firma damit beauftragt sei, eine geheime bewaffnete Organisation als Alternative zu den offiziellen türkischen Sicherheitskräften (TSK) aufzubauen. Nach seinen Informationen soll sie direkt Erdogan unterstehen und auf Befehl blutige Angriffe durchführen.

"Verschwörungstheorie" oder Realität?

Nun ist Fuat Avni umstritten; sicher ist nur, seine Leaks streuen Pulver in politische Debatten. Wie viel sie jeweils mit Verschwörungstheorie oder Realität zu tun haben, ist immer aufs Neue ungewiss.

Avni, der mittlerweile fast 3 Millionen Anhänger auf Twitter hat, bezieht seine Glaubwürdigkeit daher, dass er in der Vergangenheit Voraussagen über diverse Entwicklungen und Ereignisse im Umfeld von Erdogan machte, die dann tatsächlich auch eintrafen. So deckte er Korruption und Unregelmäßigkeiten unter Regierungsbeamten und Politikern auf. Er behauptet von sich, er gehöre zum inneren Kreis der Erdogan-Vertrauten. Ob das jetzt unter verschärften Verhältnissen noch zutrifft, wird man sehen.

Der Whistleblower warnte eindringlich vor blutigen Attacken im In- und Ausland durch die von SADAT ausgebildeten Söldner. "Gegen Menschen und Organisationen, die gegen den Narzissten [Erdoğan] sprechen, wird man nicht nur versuchen vorzugehen, sondern sie werden auch gezielt durch diese geheime bewaffnete Organisation angegriffen werden", war bei turkishminute.com zu lesen.

Attentat am Flughafen Atatürk: Die Untersuchungskommission bleibt draußen

Interessant ist die Meldung vor dem Hintergrund, dass die türkische Regierung sich nach Aussagen der Oppositionsparteien CHP, HDP und MHP weigert, den Anschlag auf den Istanbuler Flughafen mittels einer parlamentarischen Untersuchungskommission untersuchen zu lassen. In der Vergangenheit wurden von der Opposition mehrfach Anträge auf eine Untersuchungskommission zu den verschiedenen Anschlägen gestellt, auch wegen der Zuschreibungen, wer nun verantwortlich sei, wenn es keine Bekennerschreiben gab.

Türkischen Medienberichten zufolge soll der aus Tschetschenien stammende Achmed Schatajew Drahtzieher des Anschlags gewesen sein. Die Zeitung Hürriyet berichtete, er sei der Anführer einer Istanbuler IS-Zelle. Laut Hürriyet hatten die Attentäter eine Wohnung im Stadtviertel Fatih gemietet und die Jahresmiete von 24.000 Lira (7500 Euro) im Voraus gezahlt. Kurz nach dem Anschlag wurde die Wohnung durchsucht, so ein Nachbar.

Der Nachbar berichtete der Zeitung, er habe sich kurz vor dem Anschlag bei den örtlichen Behörden über einen "sehr komischen, chemischen Geruch" aus der Wohnung beschwert. Die Zeitung Cumhuriyet, die ebenfalls Interviews mit den Nachbarn führte, berichte obendrein, dass die örtlichen Behörden keine Veranlassung sahen, den Beschwerden der Nachbarn nachzugehen. Sie beruhigten die Anwohner offenbar mit der Aussage, sie würden die Leute kennen...