Berichterstattung: Die "Wahrheit über Aleppo"

Auch Dschihadisten aus Usbekistan zählen zu den "Islamisten in Aleppo". Hier die Gruppe Katibat al Tawhid wal Jihad (KTJ), die im Süden Aleppos kämpft. Rechts oben im Bild: Das Signet für Jaish al-Fateh/Dschaisch al-Fatah Foto: Propagandamaterial

Die hierzulande ansonsten gefürchtete IS- und al-Qaida-Propaganda darf sich, wenn es um Syrien geht, verbreiten: "Die Islamisten sind Aleppos letzte Hoffnung"

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"Die Islamisten sind Aleppos letzte Hoffnung", erklärte der Spiegel gestern. Das Argument dazu lautet: Die USA und Europa lassen die Bewohner im Stich, weil sie es "dabei belassen, die Abriegelung der von den Rebellen beherrschten Stadtviertel wortreich zu verurteilen". Die Islamisten würden es besser machen: Sie greifen zu den Waffen "und versuchen, die Lage der knapp 300.000 Eingeschlossenen mit militärischen Mitteln zu verbessern".

Man kann dies Kriegspropaganda nennen, weil der Artikel durch seine Darstellung der Geschehnisse eine militärische Intervention gegen syrische Regierungstruppen und ihre russischen Helfer als die bessere Option nahelegt. Ganz klar hatte sich gestern bei der Morgenlage schon ein anderer Spiegel-Autor, der stellvertretende Chefredakteur Dirk Kurbjuweit, für ein Eingreifen ausgesprochen:

Die Geschichte des syrischen Kriegs ist eine Geschichte westlicher Unterlassung. Es wird Zeit, etwas zu tun, schon eine Luftbrücke würde helfen.

Kurbjuweit vergleicht die Situation in Aleppo mit der von "Leningrad während des zweiten Weltkriegs, als die Deutschen die Stadt eingekesselt hatten". Der grundlegende Unterschied, dass die Deutschen damals Angreifer von außen waren, während die syrische Armee - mit Unterstützung der von der Regierung in Damaskus dazu gebetenen russische Luftwaffe - auf ihrem Territorium gegen feindliche Truppen vorgeht, die Stadtteile besetzt haben, wird außer Acht gelassen.

Hauptsache, die Emotionen werden angesprochen? Die nüchterne Schlussfolgerung der beiden Spiegelbeiträge liefe ja darauf hinaus, dass die Milizen, die die Viertel im Ostteil der Stadt kontrollieren, mehr Unterstützung durch die USA, Europa und andere Verbündete bekämen. Unterstützung für Dschihadisten (al-Nusra-Front) und Salafisten (Ahrar al-Sham), die den schiitischen Bewohnern der Stadt ein Blutvergießen versprechen ? Um deren Erfolg zu vergrößern?

Egal ob der Durchbruch des Kessels von Aleppo gelingt oder nicht: Schon jetzt ist die Offensive ein Erfolg für die Dschabha Fatah al-Scham.

Der Spiegel

Es ist schwer nachzuvollziehen, warum das Nachrichten-Magazin das Rebranding der al-Qaida-Miliz al Nusra mitmacht und tatsächlich den neuen Namen verwendet, der genau dafür vorgesehen ist, nämlich die Verbindung zur al-Qaida zu verstecken. Nicht nur die Ideologie, auch die Verbindungen zur al-Qaida-Führung ist davon nicht berührt. Die Absicht des Rebranding besteht darin, die Front zu vergrößern, weil sich noch auch andere Gruppen anschließen können. Die Umbenennung dient nebenbei auch dazu, solche Aufrufe zur Unterstützung, wie sie der Spiegel verbreitet, zu fördern.

Zweierlei Maßstäbe für al-Qaida?

Zumal wie im erst genannten Artikel alles Mögliche über einen Kamm geschoren wird: "Die Islamisten sind Aleppos letzte Hoffnung". Für den Teil der Stadt, der von der Regierung gehalten wird, trifft dies mit großer Wahrscheinlichkeit nicht so unbedingt zu. Nicht jeder Bürger Aleppos möchte die Herrschaft der Dschihadisten und Salafisten austesten, zumal wenn sie oder er einer anderen Konfession als der sunnitischen angehört. Dem ist hinzuzufügen, dass die Viertel, die nicht unter dem Diktat der Scharia, sondern unter dem Schutz der syrischen Regierung vor den Takfiris stehen, den weitaus größeren Teil der Bevölkerung Aleppos ausmachen.

Vieles stimmt an dem Satz "Die Islamisten sind Aleppos letzte Hoffnung" nicht; einzig stimmig ist, seine Verwendung als Reklame für die Sache der al-Qaida-Milizen und ihrer Verbündeten.

Katibat al Tawhid wal Jihad (KTJ), die al Nusra den Treueeid geschworen hat. Foto: Propaganda

Dass es zu solchen paradoxen Parteinahmen kommt, liegt an der Verwechslung von Ursache und Wirkung wie der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr und Vorsitzender des Nato-Militärausschusses, Harald Kujat, im Deutschlandfunk erklärt.

Kujat wurde dort auf Berichte über Fassbomben und Giftgaseinsatz der syrischen Armee angesprochen, mit dem Zusatz, dass die Berichte noch unbestätigt seien und der Folgerung - die viele Berichte nahelegen: Dass "Assad sein eigenes Volk schlachtet".

Seine Antwort ist zu diesem Punkt bemerkenswert, weshalb sie in voller Länge wiedergegeben werden soll:

Langsam, langsam! Wir dürfen hier nicht Ursache und Wirkung verwechseln. Aleppo ist tatsächlich eine humanitäre Katastrophe und wird sich wahrscheinlich noch zu einer größeren humanitären Katastrophe auswachsen.

Aber Aleppo wird deshalb eine humanitäre Katastrophe, weil dort Terroristengruppen diese Stadt besetzt haben, die Bevölkerung unterdrücken und das Regime, Assad-Regime, versucht, diese Stadt zu befreien. Aleppo ist strategisch wichtig - Sie haben das in Ihrem vorherigen Beitrag ja betont - aus der Sicht des Assad-Regimes, aber Aleppo hat eben auch eine Schlüsselfunktion für die Versorgung der terroristischen Gruppen: Al-Kaida, dort Al-Nusra, besetzen Aleppo und der IS.

Es ist eben nicht so, dass dort die gemäßigten Gruppen gegen das Assad-Regime kämpfen, sondern Al-Nusra kämpft gegen das Assad-Regime und IS.

Und ich finde es nicht logisch, dass wir auf der einen Seite hier uns mit den Angriffen in Europa, in Deutschland und in Frankreich mit den Terroristen auseinandersetzen müssen und gleichzeitig für sie Partei ergreifen, wenn sie in Syrien kämpfen. Das fügt sich nicht zusammen.

In diesem Zusammenhang ist schwer verständlich, warum Berichte deutscher Medien mit offenbar absoluter Gewissheit davon ausgehen, dass die 300.000 Eingeschlossenen (gemeint sind die Bewohner der Viertel unter Dschihadisten-Kontrolle, an der hohen Zahl gibt es erhebliche Zweifel, selbst bei der UN) zu Opfern von Lügen und Propaganda "von Assad - und wohl auch Russland" werden.

Von der Propaganda der "Islamisten", die die Bevölkerung der von ihnen besetzten Zonen von der Flucht abhalten und den Zugang zu Nahrungsmittel verwehren (vgl. Aleppo: Der syrische Dschihad und der Etikettenschwindel), ist im verlinkten Bericht der Welt keine Rede. Die Dschihadisten/Salafisten-Propaganda ist also nur Thema, wenn es um die Berichterstattung über Muslime in Deutschland geht?