Nizza: Streit über die "offizielle Story des Attentats"

Promenade des Anglais am Tag nach dem Anschlag. Foto: Michel Abada/CC BY-SA 4.0

Die Kommune sollte angeblich auf Drängen des Innenministeriums die Videoaufzeichnungen über den Abend des Attentats zerstören

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In Frankreich bringen sich die Politiker und ihre Lager in Position für die im April nächsten Jahres anstehenden Wahlen zum Staatspräsidenten. Das hat zwar durchaus seinen Reiz, da mit Marine Le Pen laut Umfragen eine Kandidatin für die Stichwahl bereits als "gesetzt" gilt und dadurch die Konkurrenz der anderen, links wie rechts, von einem Arithmetik-Taktik-Ratlosigkeits-Mix ziemlich aufgewirbelt wird.

Üblicherweise stoßen die damit verbundenen Erregungen hierzulande auf begrenztes Interesse. Eine Ausnahme ist der innenpolitische Streit im Nachbarland über das Amok-Attentat in Nizza mit IS-Hintergrund am Nationalfeiertag. Zwei Elemente einer größeren Diskussion stießen auch hierzulande auf Hellhörigkeit.

Einmal ist es die Forderung von übergeordneten Stellen in Paris an eine Behörde in Nizza, die Überwachungsvideos über das Geschehen an der Promenande des Anglais zu löschen und den Polizeibericht zu ändern, wie auch hierzulande berichtet wurde, zum Beispiel von der Publikation Der Westen.

Zum anderen sorgten die Zeitangaben der Leiterin des Zentrums für die städtische Überwachung (Centre de supervision urbain - CSU) in Nizza für Irritation.

4 Minuten für die Todesfahrt?

Sandra Bertins Interview in der Zeitung Journal du Dimanche war der Auslöser für einen Eklat, der bis nach Deutschland reichte und die innenpolitische Angelegenheit in Forumsdiskussionen zur spannenden Sache werden ließ (vgl. "Die offizielle Story zum Nizza-Attentat fällt auseinander"). Bertins erklärte, dass sie sich bis an ihr Lebensende daran erinnern wird, dass sie den Lastwagen um 22Uhr30 erstmals auf einem Video-Überwachungsbildschirm gesehen hatte und die Nationalpolizei den Fahrer um 22Uhr34 getötet habe.

Setzt man die Zeitangabe Bertins gleich mit der Gesamtdauer der tödlichen Fahrt, so ist das irritierend. Vier Minuten, um 84 Menschen zu töten? (Ergänzung: Folgt man ihrem "Sekunden-Protokoll" von 22Uhr32 bis 22Uhr35 und 45 Sekunden, wie ihn Marianne.net veröffentlichte, so erscheint plausibel, dass in dieser Zeit sehr viele Menschen getötet wurden).

Zu dieser Irritation kommen unterschiedliche Zeitangaben, die zuvor von Medien berichtet wurden (Präzisierung: So weicht zum Beispiel der Todeszeitpunkt des Fahrers in Bertins Darstellung deutlich von anderen Berichten ab, die von einem Tod des Fahrers gegen 22Uhr50 oder noch später ausgehen).

In der Interview-Äußerung Bertins ist auch enthalten, dass das, was sie auf dem Bildschirm oder den Bildschirmen sah, nur ein Ausschnitt der Todesfahrt war. Sie spricht davon, dass sie von der städtischen Polizei auf einen "verrückten Lastwagen" aufmerksam gemacht wurde, dann erst habe man die Bilder herangeholt. Zu diesem Zeitpunkt habe der Lastwagen nach ihrer Einschätzung ein Tempo von 90 km/h erreicht. Er fuhr ohne Licht und sei Absperrungen ausgewichen. Die Polizeiteams hätten ihn nicht aufhalten können: "Man killt Reifen eines 19Tonners nicht mit einem Revolver."

Im übernächsten Satz weiter kommt dann das Entscheidende für die Diskussion in Frankreich: "Wenn die städtische Polizei die Waffen gehabt hätte wie die Nationalpolizei, was eine unserer Forderungen ist, dann hätten sie ihn stoppen können."

Es geht bei der Diskussion in Frankreich um Fehler bei den Sicherheitsvorkehrungen, um die Konkurrenz zwischen Paris und der nachrangigen Provinzstädte (das Thema ist eine Domäne von Marine Le Pen) und um Profilierung von Kandidaten.

Die Rolle der Nationalpolizei

Dabei spielen Einzelheiten, wie der genaue Ablauf der Todesfahrt eine große Rolle, aber vor allem hinsichtlich der Positionierung der Nationalpolizei und ihrer Sicherheitsvorkehrungen. Im Detail ist das im Bericht der Zeitung Libération nachzulesen, der den vielsagenden Titel hat: Sicherheit in Nizza: 370 Meter Fragen. Dort wird dann auch die oben genannte "4-Minuten-Irritation" beantwortet.

Als die städtische Polizei um 22Uhr 33 Alarm schlug wegen eines "verrückten Lastwagens" auf der Promenade des Anglais in der Nähe des Centre universitaire méditerranéen hatte Lahouaiej Bouhlel sein Gemetzel bereits einige hundert Meter weiter westlich begonnen, in der Nähe der Rue Lenval. Der Lastwagen bewegte sich mit etwa 90 km/h und hatte bereits zahllose Opfer hinter sich gelassen.

In dem Artikel der Libération geht es hauptsächlich aber darum, wie gut die Fußgängerzone der Strandpromenade abgesichert war. Dort zerstreute sich nach dem Ende des Feuerwerkes ein größerer Pulk der Menschenmenge. Der Nerv der Diskussion entzündet sich an der Frage, wie viel Paris für die Sicherheit Nizzas getan hat: Wie gut die Absperrungen durch die Nationalpolizei am Übergang zur Fußgängerzone, den 370 folgenden Metern der Todesfahrt, waren. Und an der Frage, wie stark die die Präsenz der Nationalpolizei tatsächlich war.

An der detaillierten Auskunft der Regierung und der Gegenposition der Kritiker zur letzteren Frage wird ein guter Teil der Leserschaft vermutlich nur ein Interesse haben, das mit einer Fußnote abgegolten werden kann1. Was die Absperrungen anbelangt, so stellt der Libération-Bericht der Regierung ein schlechtes Zeugnis aus. Sie waren ungenügend, ein paar Stahlgitter und ob die Wagen der Nationalpolizei, wie vom Pariser Innenministerium behauptet, tatsächlich so geparkt waren, dass sie Hindernisse hätten sein können, ist sehr strittig. Fakt ist, dass der Kühllaster kaum Probleme mit der Weiterfahrt in den Fußgängerzonenbereich hatte. Wer rechnet schon mit einem 19Tonner?

Die Republikaner, die Sozialdemokraten und Karl Valentin

Nizza ist eine Stadt mit einer Wählerschaft, die nach rechts neigt. Christian Estrosi war lange Zeit Bürgermeister der Stadt, der sich als Law and Order-Politiker profilierte. Nun ist er Präsident der Region Provence-Alpes-Côte d'Azur (PACA). Er hat die Kritik an mangelnden Sicherheitsvorkehrungen durch die Regierung Hollande maßgeblich vorangetrieben, er meldete sich schon früh mit scharfen Worten.

Angegriffen war vor allem der Innenminister Cazeneuve, aber auch Ministerpräsident Valls war selbstverständlich angesprochen. Nun gab es zwischen Valls und Cazeneuve von Anfang an Dissonanzen in der Einschätzung des Anschlags. Valls war von Anfang an überzeugt, dass es sich um einen radikalislamistischen Terroranschlag handelte, Cazeneuve orientierte sich an Fakten und blieb lange bei der Anschauung, dass es sich um einen Amokläufer handelt. Dieser Zwist bot den Kritikern der Opposition eine gute Kerbe.

Valls hat Ambitionen als Kandidat für die Vorwahlen des PS anzutreten. Die hat auch Sarkozy, der Amtsvorgänger von Hollande. Er will bei den Vorwahlen der Republikaner gewinnen. Estrosi, der schärfste oder lauteste Kritiker der Sicherheitsvorkehrungen, gehört zum Lager Sarkozy. Die zu Anfang erwähnte Leiterin der Videoüberwachung, Sandra Bertins, hat laut Le Monde eine über Facebook dokumentierte Nähe zu Estrosi.

Sie behauptet in dem oben genannten Interview, dass jemand aus dem Innenministerium Druck auf sie ausgeübt habe, dass sie die Videoaufzeichnungen lösche, um Leaks zu vermeiden. Obendrein solle sie einen Bericht über die Vorgänge in der Nacht vom 14. auf 15. Jlui schreiben, der nicht schreibgeschützt ist, damit der Mann, der sie behördlich bedrängte, "nicht alles abtippen" müsse. Großen Wert legte er auf den Aspekt, wann und wo die Nationalpolizei auftaucht.

Mit dieser Aussage war die ganze Regierung in Misskredit gebracht, und damit auch Chef Hollande, der gerne weiter im Amt bleiben will. Innenminister Cazeneuve hatte die Sache zu richten, er war dafür zuständig. Er weist den Vorwurf von sich. Niemals könne jemand aus dem Innenministerium eine derartige Weisung empfangen haben. Er leitete juristischen Schritte ein.

Wie Le Monde erklärt, haben die Behörden in Frankreich Tiefen und Winkel, an denen Karl Valentin seine Freude gehabt hätte.

Es fand sich nach offiziellen Angaben niemand aus dem Innenministerium, der eine solche Weisung an Sandra Bertin weitergeben hätte sollen, müssen, dürfen. Aber: Der Anrufer hatte Gründe genug, um mit jedem möglichen Druck zu verhindern, dass die Videoüberwachungsbilder einen bestimmten Kreis verlassen. Die politischen Gegner der Regierung könnten aus dem Material selektieren, was die Regierung noch schlechter aussehen lässt, als sie ohnehin schon dasteht.