Zündhölzer in der Flüchtlingspolitik

Ist Boris Palmer ein Rassist?

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In schöner Regelmäßigkeit wird der Tübinger Oberbürgermeister von Parteifreunden auf Bundesebene ermahnt, er solle doch besser Lokalpolitik betreiben, statt mit markigen und medienwirksamen Sprüchen in der Bundespolitik mitmischen zu wollen. Davon lässt er sich schon lange nicht mehr beeindrucken, und seit einiger Zeit hat er ein neues politisches Großthema gefunden: Flüchtlinge.

Schon im Oktober letzten Jahres hatte er von einer Schließung der EU-Außengrenzen und ihrer bewaffneten Sicherung phantasiert.

Das war der Ernstfall gewesen, bei dem er seine eigene Variante der gezielten Provokation mit anschließendem Halbdementi zum ersten Mal mustergültig implementiert hatte. Proteste setzten sofort ein; aber weil sie hauptsächlich von Usern im Internet kamen, und weil die zahlenmäßig überschaubaren Rügen aus der Landespartei von leicht konsternierter, kameradschaftlicher Milde geprägt waren, brauchte sich Palmer nicht abgestraft vorzukommen.

Als auch die ganz rechten Deutschen Anfang des Jahres plötzlich die Existenz von Frauenrechten entdeckten, weil Migranten in Köln und anderen Städten in der Silvesternacht massiv Frauen beraubt und sexuell misshandelt hatten, dauerte es nicht lange, bis Palmer seine Ideen zur Abschottung nicht nur wiederholte, sondern sogar um Äußerungen ergänzte, die aus der ganz finsteren, völkischen Klamottenkiste stammten:

Spätestens seit den Übergriffen in der Silvesternacht in Köln kommen selbst grüne Professoren zu mir, die sagen: Ich habe zwei blonde Töchter, ich sorge mich, wenn jetzt 60 arabische Männer in 200 Meter Entfernung wohnen.

Das ist insofern aufklärerisch, als es die Nähe von "bloß" rechtspopulistischem zu knallhart völkisch-rassistischem Denken illustriert. Interessant ist in diesem Zusammenhang außerdem, dass Palmer bei seinem Ausfall vom Oktober vorher davon gesprochen hatte, dass "die Arschlöcher von rechts" nicht die Debatte bestimmen dürften, indem sie bestimmte "Tatsachen" unbenennbar machten.

Viel wichtiger für Palmer aber war, dass er auch diese Provokation politisch völlig unbeschadet überstand. Abgesehen von nichtssagenden Wiederholungsschleifen aus der Bundespolitik, einigen aufgebrachten Facebook-Kommentaren und ein paar frechen Graffiti in Tübingen passierte wieder so gut wie nichts.

Zwar reichte schon der laue Gegenwind, auf den er traf, um Palmer die Contenance verlieren zu lassen. Beim Tübinger RACT!-Festival im vergangenen Juni kam es gar zu Handgreiflichkeiten - Palmers Aussage nach im zweiten Jahr in Folge. Aber jenseits aller Aufregung um echte und vermeintliche Rempeleien sowie echte und vermeintliche Aufrufe zum Rempeln konnte Palmer seinen Ausflug in die völkische Propaganda als Erfolg verbuchen.

"Das Gefühl, die Ereignisse verdichten sich und kommen näher"

Diese Lernerfahrung scheint er verinnerlicht zu haben. Wenn jetzt Migranten zu Tätern werden, ist Palmer gern mit schnellen Einordnungen zur Stelle, wie sein Facebook-Posting vom 24.7. belegt.

Das Gefühl, die Ereignisse verdichten sich und kommen näher, lässt sich gar nicht vermeiden. Ebenso wenig wie die Frage, was es bedeutet, dass in Würzburg ein Afghane, in München ein Deutsch-Iraner und in Reutlingen ein Syrer mit Waffen auf Menschen los sind. Alles innerhalb weniger Tage.

Dieser Eintrag, der auch noch in einen nicht besonders klugen Vergleich der Gewalttaten mit den Gefahren des Autoverkehrs mündete, ist bis heute unkorrigiert. Er lässt völlig außer Acht, dass der Amokläufer von München ein rechtsextremer Deutscher war, und dass Taten nach dem Reutlinger Muster unabhängig von Hautfarbe und Herkunft der Täter in Deutschland viel zu oft vorkommen.

Der 29-Jährige, der Ende Mai in Bernhausen mit einer Machete randaliert, danach mit einem Messer Polizisten bedroht hatte und von diesen erschossen worden war, kam in Palmers handlicher Kurzaufzählung nicht vor. (Anmerkung: Andere Quellen bezeichnen die erste Waffe, die der Getötete mit sich führte, als "ein Schwert", "eine Art Schwert" oder "eine Art Machete".)

Ebensowenig wie ein Esslinger Fall vom April, einer in Stuttgart-Mühlhausen vom Juni und einer in Leinfelden-Echterdingen vom Juli.

All diese blutigen Dramen waren nicht geeignet gewesen, Boris Palmers Gefühl von der "Verdichtung" und dem "Näherkommen" der Ereignisse zu bestärken. Dass der Grund in der zu hohen Entfernung der Tatorte von Tübingen zu suchen ist, kann ausgeschlossen werden.

Aber ist Boris Palmer nun ein Rassist? Oder handelt er nur wie ein Klassenstreber, der pausenlos im Unterricht "streckt", damit er auch ja oft genug aufgerufen wird? Möchte er mit jemand wie Björn Höcke um die blondesten Parolen in der Politik konkurrieren? Ist er die Sahra Wagenknecht der Grünen? Geht es um eine Profilneurose, oder tatsächlich um einen anstehenden Parteiwechsel?

Schwer zu sagen. Mit Opferschutz, Kampf gegen den Islamismus oder gegen Gewalt im Allgemeinen hat das alles nichts zu tun. Viel mehr gehört Boris Palmer zu einer großen Gruppe von Leuten, die im Zusammenhang mit den Problemen und Effekten der Migration das Verteilen von rhetorischen Brandbeschleunigern für sachdienlich halten.

In der Lokalpolitik ist sein jüngster Coup eine Abwrackprämie für Mopeds. Das lässt hoffen, weil es an die großen Zeiten erinnert, als Palmer im blauen Anzug durch Installation von Energiesparlampen die Welt retten wollte.

Albernheiten, gewiss. Aber lange nicht so gefährlich wie Palmers nachhaltiges Zündeln in der Flüchtlingspolitik.