Gewalt und Islam: Die Vergangenheitszukunft

Teil eines Verses aus der 48. Sure Al-Fath in einer Handschrift aus dem 8. oder 9. Jahrhundert. Bild: gemeinfrei

Das Zwiegespräch zwischen dem Dichter Adonis und der Psychoanalytikerin Houria Abdelouahed sorgte in Frankreich für Diskussionsstoff und liegt jetzt auf Deutsch vor

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Im vergangenen Jahr erschien in Frankreich ein Dialog, der hohe Wellen schlug, bis heute für Diskussionen sorgt, der Sprengstoff birgt: Der syrisch-libanesische Dichter Adonis (bürgerlich Ali Ahmad Said Esber) und die Psychoanalytikerin Houria Abdelouahed sprechen über den Islam. Und über Gewalt. Und über die Frage, warum der Arabische Frühling scheiterte und was das für Europa und den Rest der Welt bedeutet. Nun ist das Gespräch unter dem programmatischen Titel "Gewalt und Islam" auch in Deutschland erschienen - und es dürfte hierzulande ähnlich die Gemüter erhitzen wie in Frankreich. Nicht zuletzt deshalb, weil es mitunter hochproblematische - weil einseitige - Positionen vertritt.

Dass das dichterische Werk von Adonis zum Kanon der Weltliteratur zählt ist unbestritten. Dass er im Gegensatz zu vielen anderen auch in Europa gelesen wird, wo die arabische Literatur marginalisiert ist, mag daran liegen, dass er seit 1985 in Frankreich lebt und dort publiziert - mehr aber an seinem essayistischen religionskritischen Werk und der Tatsache, dass er sich immer wieder kontrovers ins Tagesgeschehen einmischt. Vor allem dann, wenn es um das Thema Islam geht.

Adonis. Bild: Harald Krichel/CC-BY-SA-4.0

Man könnte manchmal meinen, er stänkert gern. Für Zoff sorgte auch im Jahr 2015 die Verleihung des Remarque-Preises an ihn. Navid Kermani verweigerte, die Laudatio zu halten, es hagelte Kritik von allen Seiten, auch sein Übersetzer Stefan Weidner kommentierte: "Für einen Literaturpreis taugt Adonis immer. Für einen Friedenspreis scheint mir seine Haltung zu konfrontativ und einseitig, wenig hilfreich." Der Grund: zwar kritisiert Adonis immer wieder die radikalislamischen Gruppen, die sich in Syrien tummeln - nennenswerte Kritik am Assad-Regime, das seit fünf Jahren die eigene Bevölkerung bombardiert und mehr Tote zu verantworten hat als jede andere Kriegspartei in Syrien, ließ er aber vermissen.

Eben diese problematische Indifferenz findet sich auch im Gespräch mit Houria Abdelouahed, das leider kein konstruktives Streitgespräch ist, sondern selige Einhelligkeit transportiert. Egal, worum es geht, der Dichter und die an der Universität Paris-Diderot lehrende Psychoanalytikerin sind einer Meinung. Mal davon abgesehen, dass der Dialog dadurch ermüdend undynamisch wird, lässt der fehlende Widerspruch (zu dem es reichlich Anlass gibt) ironischerweise einen Aspekt ins Gespräch hinein, den Adonis beständig am Islam kritisiert: Dass der Gläubige sich dem im Koran niedergelegten Wort Gottes zu fügen hat. Widerspruchslos.

"Ja, es ist ein problematisches Buch", gibt auch Adonis' deutscher Verleger Madjid Mohit unumwunden zu. "Aber deshalb habe ich es gemacht. Es ist wichtig, eine Diskussion über diese Themen anzustoßen, die Argumente von Adonis aufzunehmen und sie differenziert zu beleuchten."

Wenn man es oberflächlich angeht, kann man Adonis' Haltung so zusammenfassen: Der Islam ist mittelalterlich und grausam und alle Araber Idioten ohne Zukunft, weil sie es nicht schaffen, sich gesellschaftlich zu reformieren und den Islam zu überwinden. - Und das ist nicht einmal überspitzt. Zugleich fordert er auf: "Diese Zivilisation muss neu gelesen werden: mit einem neuen Blick und einer neuen Menschlichkeit."

Es gibt nur einen Islam - und der ist nicht zu retten

Der Haken daran ist, dass Adonis selbst, genauso wie seine Gesprächspartnerin, eben diesen neuen Blick vermissen lässt. Und da sind wir bereits bei einem wichtigen Punkt: Tatsächlich spricht Adonis durchweg von "dem Islam", und auf Nachfrage von Abdelouahed, ob denn der Islam nicht zahlreiche Strömungen und Ausprägungen habe, verneint er: Es gebe nur den einen Islam, und der sei nicht zu retten. Eine der vielen Aussagen, die mit der Realität nichts zu tun haben und einen höchst eingeengten Blick demonstrieren.

Adonis konzentriert sich auf den arabischen Raum. Den persischen Raum oder islamische Bewegungen außerhalb der arabischen Welt klammert er aus, und wenn sie kurz gestreift werden, wechselt er rasch das Thema. Überall dort, wo Differenzierung notwendig wäre, weicht er aus. Das geht so weit, dass er zwar die frühislamischen Dichter erwähnt - die arabischen; die persischen wie Rumi oder Hafis klammert er ebenfalls aus -, dass der Sufismus zur Sprache kommt, er ihnen allen aber abspricht, echte Muslime gewesen zu sein. Sicher, gerade diese Dichter waren große Religionskritiker und wurden deshalb von Fundamentalisten kritisiert oder gar geächtet. Wenn Adonis aber sagt: Das waren eigentlich gar keine Muslime - dann sagt er auch, dass es im Islam außer Fundamentalismen nichts gibt und dass daher Veränderung per se nicht möglich ist.

Das ist nicht nur falsch, sondern auch ungerecht gegenüber Menschen wie dem homosexuellen Imam Ludovic-Mohamed Zahed, der wie Adonis in Paris lebt. Ebenso gegenüber einem Intellektuellen wie Navid Kermani, der Muslim ist und sich beständig für Dialog und Differenzierung einsetzt und der dogmatisch-fundamentalistische Ansätze ebenso ablehnt wie zahllose andere islamische Akteure, die für Öffnung und Veränderung eintreten. Und was ist mit Reformern wie dem algerischen Sufi Emir Abd Eld-Kader, der gegen die französischen Kolonialisten kämpfte und in Syrien tausende Christen vor Verfolgung schützte? Adonis erwähnt ihn kurz, lapidar, und hakt ihn ab.

Adonis spricht viel über den Islamischen Staat (IS), den er konsequent Daesh nennt. Was korrekt ist, schließlich gibt es einen solchen Staat nicht, solange er nicht von anderen Staaten anerkannt wird. Der IS ist ein Wunschgebilde eines Haufens durchgeknallter Fanatiker. Daesh, so Adonis, sei "das Ende des Islam". Auch das ist freilich nicht mehr als Wunschdenken, denn eine Weltreligion wird nicht einfach verschwinden, wenn irgendwann der Kampf gegen eine Terrorgruppe gewonnen ist, die in der islamischen Welt nahezu keinen Rückhalt hat (Araber haben kaum Sympathien für Islamischen Staat).

Keine religiöse Schrift der Weltgeschichte funktioniert ohne Exegese

Lange sprechen Adonis und Abdelouahed über die Grausamkeit im Koran, zitieren Vers um Vers, Sure um Sure über die Hölle, die Folter von Ungläubigen, die Unterdrückung der Frau. Und wo man sich von Abdelouahed eine fundierte psychoanalytische Einordnung auch der Wirkung auf fundamentalistische muslimische Männer (die Adonis per se als "Wüstlinge" abstempelt) wünscht, kommt sie immer wieder mit Freud. Der hat zwar die Psychoanalyse begründet, ist aber auch in weiten Teilen längst überholt. Ein Erkenntnisgewinn bleibt folglich aus.

So wichtig es ist, diese Passagen unter die Lupe zu nehmen und zu fragen: Was passiert, wenn Fundamentalisten wie Daesh sie wörtlich nehmen? - so wichtig ist es auch, ihnen jene Passagen entgegenzusetzen, die das genaue Gegenteil verkünden, die Mord und Unterdrückung in jeder Form verurteilen. Denn dann sieht man, dass es so einfach eben gar nicht ist. Dass der Koran ein Werk ist, das sich pausenlos selbst widerspricht. Ein Phänomen, das sich auch in der Bibel findet. Und dass allein diese Tatsache jeden Gläubigen, ja jeden Leser ganz direkt auffordert zu interpretieren, zu differenzieren.

Keine religiöse Schrift der Weltgeschichte funktioniert ohne Exegese, und die Fundamentalisten, die das verneinen und das Wort Gottes als unumstößlich betrachten, müssen zwangsläufig an diesen Widersprüchen scheitern. Nur sind religiöse Fanatiker eher selten auch große Denker, um es mal vorsichtig auszudrücken - und das gilt im Islam ebenso wie im Christentum und im Judentum.

"Denken und Hinterfragen werden" im Islam "nicht geduldet", sagt Adonis. Der Korantext darf keinerlei Kritik oder Kontroverse unterzogen werden." Die Gegenwart ist für Muslime "die Vergangenheitszukunft", also nicht ein sich beständig entwickelndes Jetzt, sondern lediglich die sklavische Wiederholung und Nachahmung des Koran-Textes in Kombination mit den Überlieferungen zum Leben des Propheten.

Eben das ist eine treffende Beschreibung der Ideologie von Daesh. Wenn man dies aber - und das tut Adonis - pauschal auf alle Muslime überträgt und allen unterstellt, es sei ihre Lebenshaltung, dann verweigert man sich dem Dialog, weil man vielschichtige Realitäten ausblendet. Und eben das ist, gerade in der heutigen Zeit, kontraproduktiv, denn es bringt den Muslimen, über die gesprochen wird, eine negative Haltung entgegen, die man so verstehen kann: Wir brauchen gar nicht erst reden, ihr seid ohnehin nicht in der Lage, euch zu verändern. Dass er so der vermeintlich gewünschten Veränderung das Fundament abgräbt, scheint Adonis nicht zu sehen oder nicht sehen zu wollen.

Es ist längst nicht das einzige Mal, dass er sich aufgrund der rigiden Positionierung in seiner eigenen Argumentation verfranzt. "Es gibt viele Untersuchungen über die Bibel und das Christentum, aber nicht über den Islam", sagt er an einer Stelle - und man muss sich verwundert den Kopf kratzen angesichts der Tausenden und Abertausenden Bücher, die zu diesem Thema existieren, die von Adonis selbst verfassten eingeschlossen.

Mit der einseitigen Religionskritik vermengt er einen pathologisch wirkenden Hass auf Araber: "Deshalb sagte ich, dass die Araber weder ihre Quellen noch ihren Korpus kennen. Obwohl ihr Weltbild durch und durch religiös bleibt, lesen sie nicht einmal ihr Buch. Zudem ignorieren sie jämmerlich die Sprache ihres Gründungstextes." Und weiter: "Denken [bedeutet] in der arabischen Gesellschaft, eben dieser Gesellschaft den Krieg zu erklären. (…) Die einzig existierende Literatur ist eine repetitive Literatur." Und auch das ist eine Aussage, die mit der Realität nichts zu tun hat - und man darf davon ausgehen, dass Adonis das weiß. Es sind solche Stellen, an denen man sich wieder und wieder die Frage nach seinen Motiven stellt. Was möchte er? Eine Debatte anstoßen? Möchte er bloß provozieren? Man weiß es nicht...

Und trotzdem bleibt "Gewalt und Islam" ein wichtiger Text, einer, der aus gutem Grund Widerspruch hervorruft, der nicht einfach abgetan, sondern der besprochen werden sollte. Aber er birgt seine Risiken. Wer den Islam und die arabische Kultur und Geschichte kennt, der wird auch schnell die Schwächen in Adonis' Argumentation erkennen, kann ihnen etwas entgegensetzen, und an genau diesem Punkt beginnt die so bedeutsame kritische Auseinandersetzung in einer Zeit, in der "der Islam" pauschal zum Prügelknaben gemacht wird (von Menschen, die eben nicht wissen, worum es eigentlich geht) und sich gerade in Europa eine grassierende Islamphobie mit Rassismus und identitärem Gedankengut zu einem toxischen Gebräu vermischt.

Auf der anderen Seite ist es ein Text, der Gefahr läuft, eben diesen neurechten Akteuren Munition zu liefern, aus dem Mund eines renommierten arabischen Denkers - und aus dieser Richtung werden pauschale und auch faktisch falsche Aussagen auf einen fruchtbaren Boden weiter zementierter Ablehnung und Ausgrenzung fallen. Es ist eine hochkomplexe Debatte, die man nicht jenen überlassen darf, deren Spezialität einfache Antworten auf schwierige Fragen sind.