IS in Afghanistan

Warum greift der IS in Afghanistan die Hazara an?

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Spätestens seit dem 23. Juli ist klar, dass der sogenannte Islamische Staat (IS) auch in Afghanistan über gewisse Machtstrukturen verfügt, die bis in die Hauptstadt Kabul reichen. Zwei Selbstmordattentäter mischten sich an jenem Tag unter einem Demonstrationszug, der hauptsächlich von der schiitischen Minderheit der Hazara getragen wurde, und sprengten sich in die Luft. Über 80 Menschen wurden dabei getötet, während man von mindestens 231 Verletzten sprach. Die Straßen Kabuls, jener Stadt, die laut einigen europäischen Regierungen als "sicher" gilt und in die Geflüchtete weiterhin abgeschoben werden, wurden abermals mit Blut getränkt.

Kurz nach dem Massaker bekannte sich die Zelle des IS in Afghanistan zu der Tat. Zum gleichen Zeitpunkt übten andere militante Gruppierungen, etwa die afghanischen Taliban, scharfe Kritik an dem Anschlag und hoben hervor, damit in keinerlei Verbindung zu stehen. Sowohl das Ausmaß als auch der Schauplatz des Anschlags waren für viele Beobachter überraschend. Der IS galt lange als Randerscheinung in Afghanistan. Mehreren Berichten zufolge sind seine wenigen Anhänger, angeblich nur einige hundert Männer, vor allem in einigen Distrikten der östlichen Provinz Nangarhar aktiv.

Einer der Attentäter von Kabul.

Außerdem kämpft die Gruppierung an zwei, teils sogar drei Fronten: Einerseits liefert man sich Gefechte mit der afghanische Armee, andererseits jedoch auch mit den Taliban, die weiterhin als ideologischer Erzfeind betrachtet werden. Hinzu kommen gelegentliche Kämpfe mit lokalen Milizen. Diese wurden von einzelnen Kriegsherren, die der Ansicht waren, die Regierung tue zu wenig bis gar nichts im Kampf gegen den IS, rekrutiert.

Auch in Syrien sterben Hazara

In diesem Kontext lag auch lange der Vorwurf im Raum, die Regierung in Kabul würde die afghanische IS-Zelle absichtlich gewähren lassen und teils sogar indirekt fördern, um auf internationaler Ebene weiterhin von einer "Terrorgefahr" sprechen und finanzielle und militärische Ressourcen akquirieren zu können. Bereits auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2015 wies Afghanistans Präsident Ashraf Ghani auf die Gefahr des IS am Hindukusch hin (Von Kalifen und Geheimagenten).

Die Frage, ob der IS in Afghanistan erst dadurch seine Strukturen dermaßen ausweiten konnte, bleibt jedoch weiterhin offen. Fakt ist hingegen die Tatsache, dass mit dem jüngsten Anschlag - einem der blutigsten der letzten Jahre - versucht wird, einen sektiererischen Konflikt zwischen schiitischen und sunnitischen Muslimen, ähnlich wie im Irak, heraufzubeschwören. Bei dem Großteil der Opfer handelte es sich nämlich um Angehörige der Hazara, eine schiitischen Minderheit, die an jenem Tag gegen die Baupläne einer Stromleitung demonstrierten. Viele Hazara fühlen sich von der Regierung hintergangen und fordern die Änderung der Bauroute, damit auch ihre Heimatprovinzen von der neuen Infrastruktur profitieren können.

Unbeachtet in der Berichterstattung vieler Medien blieben jedoch tiefere Analysen des Anschlags. In den Hintergrund geriet etwa die Tatsache, dass der IS bereits in der Vergangenheit auf die afghanischen Hazara aufmerksam geworden ist - und zwar in Syrien. Dort kämpfen zum gegenwärtigen Zeitpunkt weiterhin Tausende von ihnen, hauptsächlich im Auftrag Irans, auf Seiten Baschar al Assads. Bereits 2014 wurde bekannt, dass die iranische Regierung Hazara, die zahlreich im Iran als Flüchtlinge leben und dort massiv diskriminiert und benachteiligt werden, als Söldner nach Syrien schickt. Viele junge Männer fungieren hierbei vor allem als Kanonenfutter, während ihren Familien gesellschaftliche Erleichterungen, etwa eine iranische Staatsbürgerschaft oder eine Schulerlaubnis für deren Kinder, versprochen werden (Menschen zweiter Klasse).

Tadschikischer Extremist als mögliches Mastermind

Aus IS-Kreisen hieß es deshalb immer wieder, dass man die Hazara aufgrund ihrer Rolle in Syrien angreifen werde. Obwohl man bislang der Meinung gewesen ist, die afghanische IS-Zelle habe wenig mit der Führung in Raqqa zu, liegt nun der Verdacht nahe, dass Gegenteiliges der Fall sein könnte. Als Mastermind des Massakers in Kabuls fällt in diesen Tagen nämlich immer wieder der Name eines Abu Ali al Tajiki. Al Tajiki, ein tadschikischer Extremist, wie sie zuhauf produziert werden, seitdem die zentralasiatische Republik Tadschikistan vom brutalen Diktator Emomali Rahmon regiert wird, lebte zeitweilig in Afghanistan. Nachdem der IS sein Kalifat ausrief, zog er nach Syrien. Seitdem soll er zu den engeren Vertrauen des IS-Kalifen Abu Bakr al Baghdadi gehören. Al Tajiki hätte womöglich die Kontrolle über die jeweiligen Ressourcen und Strukturen, um einen solchen Anschlag in Afghanistan zu planen.

Kurz nach dem Anschlag hat der afghanische Präsident Ashraf Ghani Vergeltungsmaßnahmen angekündigt. Allein in den ersten 48 Stunden nach dem Massaker sprach die Regierung in Kabul von 120 bis 200 IS-Kämpfern, die in Nangarhar im Laufe von Luftangriffen getötet worden seien. Derartige Meldungen sind mittlerweile zur Routine geworden. Auch die zahlreichen Opfer von US-amerikanischen Drohnen-Angriffen in der Provinz werden regelmäßig und ohne jegliche Beweise als "Extremisten" oder "mutmaßliche IS-Kämpfer" betitelt. Des Weiteren gehen Experten maximal von wenigen hundert IS-Extremisten in Nangarhar aus.

Laut einem UN-Bericht wurden allein im ersten Halbjahr 2016 mindestens 1.601 Zivilisten in Afghanistan getötet und 3.565 weitere verletzt. Dies stellt einen neuen Höchststand seit Beginn der Zählung im Jahr 2009 dar. Rund ein Drittel der zivilen Opfer sind Kinder gewesen.