Die Nation in der Krise

Foto: Cezary Piwowarski/CC BY-SA 3.0

Die eskalierende Krisendynamik hinterlässt bösartige ideologische Verfallsformen von Nationalismus und Rechtsextremismus

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Die endlich als solche verwirklichte und anerkannte Eine Welt, gebannt in die krisenhaft sich auflösende Fetischform des warenproduzierenden Systems, enthüllt sich als Horror- und Terrorvision eines beginnenden Weltbürgerkrieges, in dem es keine festen Fronten mehr gibt, sondern nur noch blinde Gewaltausbrüche auf allen Ebenen.

Robert Kurz, Der Kollaps der Modernisierung, 1991

Auch ein blindes Wirtschaftshuhn findet mal ein Körnchen Wahrheit. Henrik Müller, Spiegel-Online Wirtschaftskolumnist und ehemaliger Chefredakteur des Manager Magazin, setzte sich anlässlich der Neuwahl in Griechenland mit einer Illusion auseinander: mit der Illusion nationaler Souveränität.

"Die einzelnen Nationen können kaum noch etwas gestalten"

Die nationale Politik benehme sich überall auf der Welt so, "als ob sie ihre Geschicke selbst bestimmen" könne, was sich angesichts der jüngsten Ereignisse in Griechenland und auch in den USA als Illusion erweise. Müller nennt in diesem Zusammenhang nicht nur das Berliner Krisendiktat gegenüber Athen, sondern auch das Zurückschrecken der US-Notenbank vor einer Leitzinserhöhung.

Griechenland hätte sich den "Vorgaben der Gläubiger" ebenso beugen müssen wie die Fed der angespannten Wirtschaftslage in China, um so "eine weltweite Kettenreaktion" zu verhindern. Man könne kaum noch von nationaler Souveränität sprechen, wenn die "Notenbanker der größten Volkswirtschaft der Erde" nicht mehr "souverän über ihre Währung zu gebieten," so Müller.

Die "wechselseitigen Einflüsse" seien im Rahmen der Globalisierung inzwischen derartig angewachsen, dass eine nationale Regierung "kaum noch irgendetwas entscheiden kann, ohne andere Länder damit zu beeinträchtigen". Überall, wo Nationen es dennoch versuchten, "richten sie großen Schaden an". Und dennoch scheine das Denken in nationalen Kategorien wieder eine Renaissance zu erleben, wunderte sich Müller:

Die einzelnen Nationen können kaum noch etwas gestalten. Trotzdem bestimmt das überkommene Prinzip nationaler Souveränität nach wie vor die Politik. Ja, es ist sogar seit einigen Jahren wieder im Aufwind...

Und tatsächlich findet eine krisenhafte Zuspitzung dieser beiden gegenläufigen Tendenzen statt. Die Nationen, das nationale Prinzip scheint auf dem Vormarsch in einer krisengeschüttelten Zeit, in der der Prozess der kapitalistischen, negativen Globalisierung auf die Spitze getrieben scheint. Niemals zuvor in der Geschichte des Kapitalismus war die transnationale wirtschaftliche Verflechtung so eng wie derzeit. Das gilt vor allem für die Bundesrepublik, die alljährlich extreme Handelsüberschüsse erwirtschaftet.

Doch zugleich nehmen die nationalen und geopolitischen Spannungen weltweit zu, gewinnen nationalistische und rechtsextreme Bewegungen rasant an Zulauf. Es scheint als ob der Drang zu einer globalen Vergesellschaftung, der der negativen, rein konkurrenz- und marktvermittelten Globalisierung innewohnt, zugleich all die Zentrifugalkräfte hervorbringen würde, die dieser Globalisierungstendenz entgegenwirken.

Während die globalen Handelsströme - und die globalen Ungleichgewichte - zunehmen, gewinnen nationalistische und separatistische Bewegungen an Zulauf. Auch und gerade beim Exportweltmeister Deutschland, im Land von Pegida und der AfD. Zudem nehmen ja die nationalen Auseinandersetzungen tatsächlich zu, wie es ja während der letzten Griechenlandkrise offensichtlich wurde (Deutschlands Wirtschaftskrieg).

Auch die widerlichen und menschenverachtenden geopolitischen Machtspiele um die Ukraine (Geopolitisches Déjà-vu), das nicht enden wollende Gemetzel im arabischen Raum (Mad Max im Zweistromland) oder das "Great Game" in Ostasien belegen die zunehmende geopolitische Instabilität des wirtschaftlichen Globalisierungsprozesses.

Der fehlende nationale ökonomische Bezugsrahmen

Je stärker die wirtschaftliche Verflechtung, desto stärker die nationale Konkurrenz. Dieser Eindruck stellt sich deswegen ein, weil beide gegenläufigen Tendenzen Teil der krisenbedingt zunehmenden Widerspruchsentfaltung im Spätkapitalismus sind. Alles im Spätkapitalismus drängt zur regelrechten Flucht in die Globalisierung, doch zugleich lässt das sich immer deutlicher abzeichnende Scheitern dieser krisenhaften kapitalistischen Globalisierung all die ideologisch absolut dysfunktionalen neo-nationalistischen Ideologien aufkommen, denen die ökonomische Basis - die nationale Volkswirtschaft - längst abhandengekommen ist.

Die nationale Politik ist machtlos, weil sie keinen einigermaßen geschlossenen nationalen ökonomischen Bezugsrahmen mehr vorfindet: Stattdessen agieren die Staaten - und auch viele Regionen innerhalb der Nationalstaaten - als bloße Wirtschaftsstandorte im globalen Wettbewerb, wobei die alten nationalen sozioökonomischen Verflechtungen zusehends durch globale Fertigungsketten und Absatzmöglichkeiten zersetzt werden.

Für die avancierte Industrie in Bayern ist China wichtiger als Mecklenburg-Vorpommern. Die nationale "Volkswirtschaft" ist in Auflösung begriffen, die Nation stellt nur noch einen Hohlkörper dar, an den sich brandgefährliche Krisenideologien klammern.

Die Globalisierung selbst stellt ein Krisenphänomen dar, sie ist Ausfluss der Tendenz des Kapitals, vor seinen inneren Widersprüchen in eine - äußere - Expansion zu flüchten. Konfrontiert mit der sich immer stärker abzeichnenden Krise der - nationalen - Arbeitsgesellschaft (Die Krise kurz erklärt) nahm die internationale wirtschaftliche Verflechtung des Kapitals ab den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts eine neue Qualität an.

Im Rahmen der sich verschärfenden Krisenkonkurrenz gingen Unternehmen und Konzerne dazu über, unter Ausnutzung neuer technologischer und logistischer Möglichkeiten globale Fertigungsketten aufzubauen und immer neue arbeitsintensive Fertigungsschritte in Billiglohnländer auszulagern, um von dem enormen globalen Lohngefälle zu profitieren.

Krisenfolgen auf andere abwälzen

Der rasche Aufstieg der Schwellenländer - hier insbesondere Chinas - ist gerade Folge dieses ungeheuren Schubs globaler ökonomischer Verflechtung, in dessen Gefolge die Illusion einer nachholenden Industrialisierung in der Semiperipherie des kapitalistischen Systems aufkam. Die Schwellenländer - die sich nun zumeist schweren wirtschaftlichen Verwerfungen ausgesetzt sehen -, galten ja der brüderlichen Wirtschaftswissenschaft lange Jahre als künftige Lokomotiven der Weltwirtschaft, die eine neue Ära der Prosperität einleiten würden. Die Lohnabhängigen in den Zentren des Weltsystems, in den USA wie in Westeuropa, konnten so trotz eines stagnierenden Lohnniveaus mit billigen Warenströmen versorgt werden.

Dennoch handelte es sich beim Boom der Schwellenländer um eine Illusion, die nun offensichtlich zerplatzt. Die Globalisierung wurde maßgeblich durch die sich intensivierende Konkurrenz befeuert, doch ihre jahrzehntelange Dynamik ist nur unter Berücksichtigung der zunehmenden globalen Ungleichgewichte in den Handels- und Leistungsbilanzen zu verstehen.

Die diesen Ungleichgewichten zugrunde liegende Verschuldungsdynamik ermöglichte erst die lang anhaltende Globalisierungsperiode, bei der exportorientierte Volkswirtschaften (etwa die BRD, früher auch China) ihre Handelsüberschüsse in sich immer weiter verschuldende Zielländer (hier vor allem die USA, aber auch eine Zeit lang Europa) ausführten.

Die Globalisierung mit ihrer Tendenz zur Schaffung größerer einheitlicher Wirtschaftsräume und Freihandelszonen ermöglichte gerade diese ungeheure Dynamisierung der krisenbedingten Verschuldungsprozesse des spätkapitalistischen Weltsystems.

Unterm Brennglas ist dies in der Eurozone nachzuvollziehen, wo die Einführung des Euro der südlichen Peripherie die Kreditkonditionen des nördlichen Zentrums gewährte - und bis zum Platzen der hiernach einsetzenden europäischen Schuldenblasen allen Beteiligen eine gute Defizitkonjunktur verschaffte. Das brutale Machtspiel um die Macht in der erodierenden Eurozone setzte erst nach dem Krisenausbruch ein.

Die Auflösung der alten nationalen "Volkswirtschaften" wurde durch die zunehmende Krisendynamik vorangetrieben, durch die Tendenz des Kapitals, vermittels permanenter Produktivitätsfortschritte sich seiner eigenen Substanz - der wertschaffenden Lohnarbeit - zu entledigen und somit die kapitalistische Arbeitsgesellschaft in eine systemische Überproduktionskrise zu führen, die nur durch fortlaufende Ausweitung des Kredits, durch Verschuldungsprozesse noch kreditgenerierte Nachfrage schaffen konnte.

Die zunehmende Verdrängungskonkurrenz auf den "enger" werdenden Märkten trieb die Konzerne in die Globalisierung, die zudem die Kreditausweitung auf den Finanzmärkten zusätzlich befeuerte. Einige Zahlen mögen dies illustrieren:

Die Unternehmensberatung McKinsey gab jüngst an, dass die globale Gesamtverschuldung zwischen 2007 und 2014 von 269 auf 289 Prozent der Weltwirtschaftsleistung angeschwollen ist. Der Geneva Report herausgegeben von dem "International Centre for Monetary and Banking Studies", gab im September 2014 die langfristige Zunahme der Weltschulden (unter Ausschluss des Finanzsektors) an: Diese seien von 160 Prozent der Weltwirtschaftsleistung in 2001, über 200 Prozent in 2009, auf 215 Prozent in 2013 geklettert.

Der Report warnte vor einer "giftigen Kombination" aus hohen und weiterhin steigenden Schulden und erlahmendem Wirtschaftswachstum. Das geringfügig sinkende Schuldenniveau in dem Finanz- und Privatsektor der entwickelten Ökonomien sei durch den Anstieg ihrer "öffentlichen Verschuldung" und ein rasches Anschwellen der Verschuldung in den Schwellenländern überkompensiert worden.

Entgegen der allgemeinen Überzeugung hat die Welt nicht angefangen, sich zu entschulden, und das Größenverhältnis zwischen Schulden und BIP steigt weiter an, indem es immer neue Rekorde bricht.

Nachdem die Zentren des Weltsystems 2008 ihre großen Schuldenkrisen durchlebten, verlagerte sich die Verschuldungsdynamik in die Schwellenländer, die derzeit in den entsprechenden Krisenschüben an ihre Grenzen stoßen. Ein Paradebeispiel hierfür ist ja gerade China, dass bis zur Weltwirtschaftskrise 2008 gigantische Handelsüberschüsse mit den - sich immer weiter verschuldenden - USA und Europa erwirtschaftete, um hiernach, ab 2009, selber die Defizitkonjunktur auszubilden, die derzeit kollabiert.

Der globalisierte Verschuldungsprozess stößt somit immer deutlicher an seine Grenzen. Und es ist gerade diese sich immer deutlicher Abzeichnende "innere Schranke" (Robert Kurz) des Kapitals, die all die von Henrik Müller beklagten Tendenzen überhandnehmen lässt: die zunehmenden nationalen Auseinandersetzungen und nationalistischen Absonderungen, wie die Einsicht in die Ohnmacht der nationalen Politik. Müller klagt:

So wirbt in der EU kaum noch ein Politiker für die Überwindung nationaler Strukturen. Stattdessen herrscht ein großes, hässliches Gerangel nationaler Interessen.

Das Gefühl der Heteronomie, des Ausgeliefertseins an übermächtige Sachzwänge und Verwerfungen einer amoklaufenden Ökonomie, die einer Naturgewalt gleich ganze Regionen und Länder sozioökonomisch verwüstet, geht mit der Tendenz einher, die Krisenfolgen auf andere abwälzen zu wollen.