Die Aleviten in der Türkei stehen unter Generalverdacht

Nach dem gescheiterten Putschversuch werden Minderheiten und Andersdenkende in der Türkei verfolgt

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

"Liebste Heimat, sie nehmen dich mir weg, ich frage mich, gibt’s dich noch? Ich fühle mich so leer, so unbeholfen und ausgesetzt. Den hungrigen Wölfen ausgesetzt, die unsere Verzweiflung ausnutzen", schrieb die junge Alevitin Eda Pekinsoy in einem Appell, in dem sie ihre Ängste und ihre Sorgen über das Schicksal der alevitischen Minderheit in der Türkei zur Sprache brachte.

Die junge Alevitin ist eine von 700.000 bis 800.000 Aleviten, die seit Jahrzenten in Deutschland beheimatet und bestens integriert sind. Zur Zeit machen sie sich große Sorgen um ihre Glaubensschwestern und -brüder in der Türkei. Die 20 Millionen Aleviten, die in der Türkei leben (Kurden, Türken und Araber) sind sehr besorgt über ihre Zukunft. Diese Sorgen und Ängste der Aleviten wurden gestärkt durch Massenverhaftungen nach dem gescheiterten Militärputsch am 15. Juli 2016.

Die streng islamische Regierung unter ihrem Präsidenten Recep Tayyip Erdogan nutzte Verschwörungstheorien, um den Druck auf die liberale Glaubensgemeinschaft der Aleviten sowie auf andere Minderheiten in der Türkei zu verstärken. Die Aleviten fühlen sich nun in einer tödlichen Gefahr durch das immer aggressiver werdende System Erdogans. Kurden sunnitischen Glaubens spüren die Brutalität des Regimes in Ankara schon lange. Dies gilt auch für die wenigen noch in der Türkei verbliebenen yezidischen, assyrisch-aramäischen, armenischen oder griechischen Minderheiten, die schon lange auf eine ethnische, sprachliche, kulturelle, religiöse und politische Gleichberechtigung warten. Das autoritäre Regime bekämpft zudem auch verstärkt Türken, die sich dem System Erdogans nicht unterordnen wollen. Hierzu gehören vor allem Journalisten und Künstler, die ihrerseits für einen freien demokratischen Staat kämpfen.

Verbreitung der Aleviten in der Türkei. Bild: Qizilbash/CC-BY-SA-3.0

Tausende Aleviten wurden festgenommen oder verloren ihre Arbeit

Aleviten werden von Erdogan pauschal verdächtigt mit dem Militär und mit den Putschisten sympathisiert zu haben. Auch wenn die überwiegende Mehrheit der Aleviten, Kurden und anderer Minderheiten eine Machtübernahme durch die türkische Armee strikt ablehnt, werden sie dennoch von der regierenden AKP-Partei unter Generalverdacht gestellt. Tausende Aleviten wurden festgenommen oder verloren ihre Arbeit.

Fast jeder vierte der 75 Millionen Staatsbürger der Türkei ist Alevit. In İstanbul, İzmir, Bursa, Çorum und Gaziantep wurden im Juli 2016 mindestens zehn alevitische Kulturvereine verboten. Unmittelbar nach dem Putschversuch am 15. Juli hatten Erdogan-Anhänger in dem Istanbuler Stadtteil Gazi Aleviten attackiert. Auch in Antakya in der Provinz Hatay wurde an der syrischen Grenze ein Angriff auf die dortigen arabischsprachigen Aleviten gemeldet. Am 17. Juli stürmten Erdogan-Anhänger unter "Allahu-akbar-Rufen" (deutsch: Allah ist groß) den überwiegend von Aleviten bewohnten Stadtteil Pasaköskü in der ostanatolischen Stadt Malatya.

Die nun von Islamisten unterwanderte türkische Polizei bietet den Aleviten in der Regel keinen Schutz. Die Diskriminierung der Aleviten besteht schon lange, hat in jüngster Zeit aber ein neues Ausmaß angenommen. Ein Grundproblem stellt die Nicht-Anerkennung des Alevitentums als eigenständige Religion in der Türkei dar.

Auch in Deutschland treten Erdogan-Anhänger immer aggressiver auf. Dabei spielen Erdogan-nahe Medien eine entscheidende Rolle. Sie hetzen gegen Aleviten, Kurden und andersdenkende türkischstämmige Bürgerinnen und Bürger. Es wird versucht, kritische Stimmen mundtot zu machen. So veröffentlichte die türkischsprachige Tageszeitung "Sabah" bereits am 15. Juli mehrere Bilder des Bundesvorsitzenden der "Kurdischen Gemeinde in Deutschland e.V.", Ali Ertan Toprak, auf der Titelseite, wo er als "PKK-Mitglied" denunziert wurde. Er ist Alevit.

Kamal Sido mit Ali Ertan Toprak. Bild: GfbV-Archiv

Als Beweis werden die von Toprak selbst in sozialen Medien veröffentlichten Bilder angeführt, auf denen er u. a. mit dem kurdischen Politiker Selahattin Demirtas, Vorsitzender der legalen demokratischen prokurdischen HDP, zu sehen ist. Toprak ist eine in Deutschland anerkannte Integrationsfigur. Seit Mai 2015 ist er Präsident der "Bundesarbeitsgemeinschaft der Immigrantenverbände in Deutschland" (BAGIV). Seit Mitte 2016 ist er als "Vertreter der Migranten" Mitglied im ZDF-Fernsehrat.

"2015 stand wieder der Besuch meiner Familie in der Türkei an. Ich war unheimlich aufgeregt […]. Wollte mit meinen 22 Jahren wieder unbeschwert auf deine vollen Straßen gehen, die Sonnenstrahlen genießen, Sonnenblumenkerne kaufen, die wild rumlaufenden Tiere füttern und ein Eis nach dem anderen verschlingen. Ich wollte wieder zum unbeschwerten Kind werden, zumindest für diese Zeit. An einem deiner türkischen Flughäfen angekommen, wurde ich sehr kritisch beobachtet. Umso mehr ich die paar Angestellten dort anlächelte, desto mehr Feindschaft spürte ich in deren Augen. Was hatte ich getan? Zu dieser Zeit gab es bereits erhebliche Unruhen, dessen war ich mir bewusst. Dann fiel mir endlich ein, dass ich meine Kette mit dem relativ großen alevitischen Zeichen um hatte. Dann musste ich noch mehr lächeln und trottete selbstbewusst und mit einem Stückweit gesundem Stolz davon", berichtet Eda Pekinsoy durch eigene Erfahrungen über den Umgang mit den Aleviten in der Türkei.

Diese verachtenden Blicke sind vielen Kurden, Assyrern/Aramäern, Yeziden oder Christen, die es in der Türkei wagen, religiöse oder kulturelle Zeichen öffentlich zu zeigen, bekannt. Die Hoffnungen der Aleviten, Kurden, Assyrer/Aramäer, Armenier, Yeziden, Christen sowie der türkischen Demokraten in einer toleranten, offenen und liberalen Gesellschaft zu leben, scheinen durch die Politik Erdogans zunichte gemacht worden zu sein.