Die Einkommensungleichheit ist in Deutschland heute "weit höher" als noch vor 20 Jahren

Hans-Böckler-Stiftung geht davon aus, dass "Ausmaß der Ungleichheit insgesamt unterschätzt wird"

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Eine Einkommensungleichheit, die in Deutschland höher ist als noch vor 20 Jahren, Millionen Menschen, die in Deutschland in Armut leben, und eine Wirtschaft, die durch diese Entwicklung gehemmt wird: Die Hans-Böckler-Stiftung hat sich mit der sozialen Ungleichheit in Deutschland und den sich daraus ergebenden Folgen auseinandergesetzt und relevante Quellen ausgewertet.

"Nimmt die soziale Ungleichheit in Deutschland zu? Bremst oder fördert Ungleichheit das Wachstum der Wirtschaft? Wie sollen wir mit Ungleichheit in der Zukunft umgehen?" Diesen Fragen sind Wissenschaftler des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) und des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung nachgegangen. Ihre Ergebnisse, die auf einer zusammenfassenden Auswertung bisheriger Forschungen zu dem Thema beruhen, lassen aufhorchen.

Die Einkommensungleichheit ist in Deutschland demnach heute "weit höher" als noch vor 20 Jahren. Insbesondere sei "zwischen 1999 und Mitte der 2000er Jahre ... die Ungleichverteilung der verfügbaren Haushaltseinkommen deutlich" angestiegen. Die Einkommensungleichheit habe zwar 2005 zunächst ihren Höhepunkt erreicht, worauf eine Phase folgte, in der der Anstieg sich nicht fortgesetzt habe bzw. leicht zurück gegangen sei. Allerdings: Seit 2010 steige, laut Hans-Böckler-Stiftung, die Ungleichheit wieder an und "trotz zwischenzeitlicher Erholungsphasen zeigt der langfristige Trend der Einkommensungleichheit ... nach oben". In der Eurozone ist Deutschland das Land mit der zweithöchsten Vermögensungleichheit.

Bild: Hans-Böckler-Stiftung

Die Wissenschaftler verweisen überdies darauf, dass sehr hohe Einkommen "tendenziell untererfasst" seien, da "superreiche Haushalte relativ selten und oft sehr auf Diskretion bedacht sind". Sie gehen daher davon aus, "dass das Ausmaß der Ungleichheit insgesamt unterschätzt wird."

Gespalten ist die Wissenschaft allerdings bei der Frage, welche Auswirkungen Einkommensungleichheit auf das Wachstum der Wirtschaft hat. Die Analysten des WSI und IMK machen darauf aufmerksam, dass Studien, die vor der globalen Finanz- und Wirtschaftskrisen erstellt wurden, häufig "keinen klaren Zusammenhang" diesbezüglich finden konnten. Aber in der wissenschaftlichen Debatte sei "zuletzt zunehmend die Position vertreten" worden, "dass wachsende Einkommensungleichheit einen merklich negativen Einfluss auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung" habe.

Die Wissenschaftler verweisen auf eine Untersuchung aus dem Jahr 2014, wonach das Wirtschaftswachstum in einem Land wie Deutschland bei gleichbleibender Einkommensungleichheit zwischen den Jahren 1990 und 2010 "rund ein Fünftel höher gewesen wäre". Laut der angeführten Untersuchung des Wirtschaftswissenschaftlers Frederico Cingano, werde "das Wirtschaftswachstum hauptsächlich dadurch gebremst..., dass untere Einkommensgruppen bei steigender Ungleichheit weniger in Bildung investieren können, wodurch die soziale Mobilität und die Entwicklung des Humankapitals geschwächt" würden.

Bild: Hans-Böckler-Stiftung

Die Hans-Böckler-Stiftung hebt auch hervor, dass die Gruppe derjenigen Menschen in Deutschland, die nur über ein verhältnismäßig geringes Einkommen verfügen, beträchtlich ist.

Die Auswertung der Wissenschaftler lässt den Schluss zu: Armut in Deutschland existiert. Seit Anfang der 1990er Jahre sind in Deutschland immer mehr Menschen von Armut betroffen. Insbesondere in den 2000er Jahren sei ihr Anteil im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung stark angestiegen. Im Jahr 2009 habe die Armutsquote bei 15 Prozent gelegen. Anders gesagt: 2009 lebte jeder sechste Einwohner in Armut. "Das entspricht ca. 12,5 Millionen Menschen", so die Wissenschaftler von WSI und IMK. Trotz "guter konjunktureller Lage" und "steigender Erwerbstätigkeit" habe sich an den Verhältnissen kaum etwas geändert.

Die Wissenschaftler legen ihrer Auffassung den Begriff der "relativen Armut" zugrunde. Demnach gelte als arm, "wer weniger als 60 Prozent des mittleren äquivalenzgewichteten Nettohaushaltseinkommens zur Verfügung" habe.