Israelkritik oder Antisemitismus?

Finden an der Hochschule Hildesheim seit Jahren antisemitische Seminare statt?

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst (HAWK) in Hildesheim steht in der Kritik in dem Seminar "Die soziale Lage der Jugendlichen in Palästina" antisemitisches Material zu verwenden. Dabei gehe es um "Folter in israelischen Gefängnissen und um angeblichen Organdiebstahl durch israelische Soldaten", wie der NDR berichtete.

Das israelische Außenministerium nannte die HAWK daraufhin eine "Hass-Fabrik", so die Jerusalem Post. Abraham Cooper vom Simon Wiesenthal Center in Los Angeles verurteilte das "extrem antisemitische und anti-israelische Seminar".

Ein Kurzgutachten der Amadeu Antonio Stiftung bestätigt, dass das verwendete Material dazu dient, "Israel zu dämonisieren und in die Nähe der südafrikanischen Apartheidszeit oder gar des Nationalsozialismus in Deutschland zu rücken. Die Texte dienen somit nicht einer kritischen Auseinandersetzung. Sie spiegeln kein israelkritisches, sondern ein zutiefst israelfeindliches Geschichtsbild wider, das sich nicht scheut auf alte und neue antisemitische Ressentiments zu rekurrieren." Auch Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden, kritisiert das Seminar.

Die Hochschule wehrt sich gegen die Vorwürfe mit dem Hinweis, dass im Mai die Ethikkommission der HAWK das Seminar geprüft habe und man zu dem Schluss gekommen sei, dass es keine Bedenken gegen die Fortführung des Seminars gebe. Die Kommission "sieht keinen Anhaltspunkt, dass in dieser Lehrveranstaltung antiisraelische oder antisemitische Inhalte in unzulässiger Weise propagiert werden".

Der Fall - Jüdische Befindlichkeiten

Die promovierte Religionspädagogin Rebecca Seidler erhielt im Juni 2015 von Christa Paulini, der Dekanin der Fakultät für Soziale Arbeit und Gesundheit, eine E-Mail mit der Anfrage, ob sie einen Lehrauftrag übernehmen könne. Dabei ginge es um zwei sehr gegensätzliche Seminare zu Israel und Palästina. Ibtissam Köhler biete sei Jahren das Seminar "Zur sozialen Lage der Jugendlichen in Palästina" an und eine erkrankte Dozentin hatte das Seminar "Jüdisches Leben in Deutschland und in Israel" angeboten. Das neue Seminar solle nun "Jüdische Soziale Arbeit in Deutschland und in Israel" thematisieren. Der Fokus solle ausdrücklich nicht mehr auf "jüdischem Leben" liegen.

Diese Gegenüberstellung irritierte Seidler jedoch. Auf Nachfrage, ob es sich nun um ein politisches Seminar zu den palästinensischen Autonomiegebieten und Israel handeln würde oder ob es um Theorien muslimischer und jüdischer sozialer Arbeit gehen solle - kurz: ob es um den Nahost-Konflikt oder um Soziale Arbeit gehe -, wollte die Dekanin nicht mehr schriftlich korrespondieren, sondern nur noch telefonieren.

Um sich Klarheit über die Ausrichtung der Seminare zu verschaffen, sichtete Seidler die Seminarmaterialien des "gegensätzlichen" Seminars. Ihre Erkenntnisse teilte sie daraufhin Paulini mit und fragte nach, ob der Dekanin bewusst sei, dass in dem Seminar Artikel aus verschwörungsideologischen Blogs verwendet werden würden und dass das meiste Material auch keinerlei Wissenschaftlichkeit aufweise.

Die Dekanin ihrerseits verwies darauf, dass man schon einmal "angeschwärzt" worden sei, "Israelhetze" zu betreiben. Sie lasse sich aber keinen Maulkorb verpassen, auch wenn es in Deutschland eine gewisse Mainstreamhaltung zu gewissen Themen geben würde. Die Kritik Seidlers beruhe auch vielmehr auf ihrer sensiblen Wahrnehmung - als Jüdin.

Nach weiterer Beschäftigung mit den Seminarmaterialien und der Abwehr jeglicher Kritik seitens der Fakultät, lehnte Seidler den Lehrauftrag ab und übermittelte die Seminarunterlagen an die Amadeu Antonio Stiftung mit der Bitte um ein unabhängiges Gutachten. Ganz ohne jüdische Befindlichkeit. Das Kurzgutachten von Jan Riebe fällt recht eindeutig aus:

… mit der durchgängigen extremen Einseitigkeit und der bewussten Auswahl unwissenschaftlicher Texte, der ebenfalls bewussten Ausblendung jeglicher anderer Meinungen und Geschichtsauffassungen, des Nichtthematisierens ungewünschter historischer Fakten, und des Fehlens von Texten zum eigentlichen Seminarthema ist ein in der Art aufgebautes Seminar aus meiner Sicht unvereinbar mit den demokratischen Grundsätzen einer Hochschule, sowie mit allen Belangen des Beutelsbacher Konsens und widerspricht jeglichem humanistischen Weltbild auf eklatante Weise. Es wird den Studierenden ein zutiefst antiisraelisches, in Teilen sogar antisemitisches Weltbild vermittelt - ohne erkennbare Graustellen. […] Die Situation in Israel/Palästina soll nicht kritisch diskutiert werden, sondern den Studierenden ein vorgefasstes Bild oktroyiert werden.

Kurzgutachten der Amadeu Antonio Stiftung

Das Kurzgutachten bestätigte Seidlers Annahme und bestärkte sie darin, gegen die im Seminar vermittelten Inhalte vorzugehen. Da die Hochschule weiterhin jegliche Kritik von sich wies, setzte sich Seidler mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland in Verbindung. Dieser richtete daraufhin ein Schreiben an den Ministerpräsidenten des Landes Niedersachsen Stephan Weil mit der Bitte, sich des Sachverhaltes anzunehmen. Tatsächlich tat sich in der Sache aber gar nichts. Zwar mag die Hochschule zur Stellungnahme aufgefordert worden sein, publik oder transparent gemacht wurde jedoch nichts. Und auch das kritisierte Seminar wurde im Wintersemester 2015/16 erneut angeboten.

Im Dezember 2015 übersendete Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden, der Niedersächsischen Ministerin für Wissenschaft und Kultur Gabriele Heinen-Kljajic das Gutachten der Amadeu Antonio Stiftung und insistierte, dass das Seminar überprüft werden müsste und antisemitische Inhalte nicht weiter an einer staatlichen Hochschule unterrichtet werden dürften. Im Mai 2016 überprüfte dann die Ethikkommission der HAWK das Seminar und plädierte für dessen Fortsetzung.

Die Ethik-Kommission hat keine Bedenken gegen die Fortführung der Lehrveranstaltung "Die soziale Lage der Jugendlichen in Palästina". Sie sieht keinen Anhaltspunkt, dass in dieser Lehrveranstaltung antiisraelische oder antisemitische Inhalte in unzulässiger Weise [sic!] propagiert werden. Die Ethik-Kommission begrüßt, dass die Fakultät Soziale Arbeit und Gesundheit durch Intensivierung des Lehrenden- und Studierenden-Austausches mit israelischen Hochschulen den Studierenden ein realistisches Bild der Lage in Israel vermittelt.

Ethikkommission der HAWK

Der Ethikkommission gehören sieben Vertreter aller Statusgruppen der Hochschule an, darunter vier Professoren, ein Mitglied ist laut HAWK Jurist. Die Kommission wurde aufgrund der "Leitlinien zur Transparenz von Forschungsvorhaben" eingerichtet, ist also vornehmlich zur "Orientierung bei sicherheitsrelevanten Projekten" gedacht. Ethikkommissionen kümmern sich demnach im Wesentlichen um militärisch relevante Forschung. Ein Feld, das an der HAWK wohl selten zu bearbeiten ist.

Es ist also mitnichten so, dass die Ethikkommission eine in Ethikfragen besonders geschulte Einrichtung wäre. Ganz im Gegenteil wie die Pressesprecherin der HAWK Sabine zu Klampen erklärt: "Da sie [die Mitglieder der Ethikkommission] Forschungs- und Lehrvorhaben aus allen Fakultäten prüfen, ist nicht jede Fachrichtung vertreten und auch nicht notwendig Expertise in spezifischen Themenbereichen notwendig. Vielmehr prüft die Kommission grundsätzlich, ob Forschungsvorhaben gegen Grundrechte oder Grundsätze der Forschungsethik verstoßen."

In diesem Fall hatte die Kommission die Aufgabe, "die Freiheit von Forschung und Lehre und höherwertige Rechtsgüter wie Menschenrechte und Verbot von Diskriminierung abzuwägen". Laut zu Klampen erhielt die Kommission vollständige Unterlagen. Was allerdings vollständig bedeutet, kann nicht überprüft werden, da die Hochschule das verwendete Seminarmaterial nicht öffentlich machen möchte, weil " eine Veröffentlichung der Materialien aus unserer Sicht die Debatte nur verschärfen" würde. Anschließend hatten die Mitglieder vier Wochen Zeit, das Material gründlich zu prüfen. Danach informierten die "Dekanin und die Studiendekanin der Fakultät für Soziale Arbeit und Gesundheit in der folgenden Sitzung der Ethik-Kommission mündlich über die Veranstaltung und ihren Kontext". Die Dozentin des kritisierten Seminars war demnach nicht zugegen.

Die Stellungnahme der Kommission fällt überraschend kurz aus. Nachdenklich stimmt, dass jegliche Kritik zurückgewiesen wird, da es "keine Bedenken" gibt. Aufgrund dieser Reaktionen wandte sich Seidler an die Jüdische Allgemeine, die am 21. Juli 2016 unter dem plakativen Titel "Hass an der Hochschule" erstmals über die Vorwürfe öffentlich berichtete. Daraufhin verbreiteten zahlreiche regionale wie überregionale Medien die Nachricht. Aber erst als die Jerusalem Post die Vorwürfe wiederholte und damit internationale Aufmerksamkeit hergestellt wurde, kam Bewegung in die Angelegenheit.