Geoffrey verschafft sich Gehör

Geoffrey Ball war praktisch gehörlos. Dann erfindet er ein Implantat, das ihm seinen Hörsinn zurückgab.

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Lesezeit: 11 Min.
Von
  • Susanne Donner
Inhaltsverzeichnis

Wenn Geoffrey Ball nichts hören will, nimmt er die Zwei-Euro-Münzen-großen Mikrofone seines Hörimplantats hinter seinen Ohren einfach ab. Im Flugzeug, ohrenbetäubend, dieser Maschinenlärm. Er fragt sich, wie Normalhörende das viele Stunden ertragen und dabei auch noch einnicken. Der Regen auf dem Auto, dieses Trommeln, mag er auch nicht besonders. Und sowieso nachts, da können die Nachbarn poltern und lärmen, er hört es einfach nicht.

Nur das Aufwachen ist deshalb ein Problem. Er hört das Klingeln des Weckers nicht, aber Modelle mit Vibrationsalarm erschrecken den gebürtigen Kalifornier zu Tode. Denn dann denkt er, es wäre ein Erdbeben – eine solche Katastrophe verwüstete einst sein Labor. Dann verschläft er lieber – so wie heute Morgen. Seine PR-Managerin Cornelia Zeltner musste die verlorene Zeit in halsbrecherischer Fahrt wieder gutmachen, damit Ball rechtzeitig zu unserem Treffen erscheint.

Keine Frage: Es ist für ihn trotz solcher Malheure ein Luxus, dass er es auf Knopfdruck still um sich herum haben kann. Denn viele Jahre hatte er keine andere Wahl, als schwer zu hören. Jetzt trägt er ein Mittelohrimplantat. Nicht irgendeines, sondern ein Medizinprodukt, das er in jahrzehntelanger Arbeit selbst erfunden hat. Und das es beinahe nicht mehr gäbe, weil sein eigenes Unternehmen scheiterte. Das ist Balls Geschichte.

Ball erinnert sich, wie er eines Tages als kleiner Junge vor der Pendeluhr im Haus seiner Tante stand und auf die Melodie zur vollen Stunde wartete. Er sah die Zeiger. Aber er hörte kein Ticken, und auch der vertraute Klang kam nicht. Der Mutter schwante etwas. Aber erst als Ball zur Schule geht, fällt bei einem Hörtest auf, dass er fast nichts mehr hört. Hohes Fieber oder eine ohrtoxische Reaktion eines Antibiotikums haben als Kleinkind wahrscheinlich sein Gehör zerstört. Genau kann das heute niemand sagen.

Doch für Ball dreht sich das Leben ab dem Tag der Diagnose. Er gehört nicht mehr zu den Normalen. Lehrer schreiben für ihn in riesigen Großbuchstaben, weil sie ihn für geistig beschränkt halten. Man brüllt, wenn man mit ihm spricht. Man denkt, dass er nicht besonders klug sein kann und es im Leben nicht weit bringen wird. Ball erlebt seine Schwerhörigkeit als Makel. Das erste Hörgerät quietscht und kreischt in seinen Ohren. Als seine Mutter den Autoschlüssel aus der Tasche nimmt, hat er das Gefühl, dass ihm jemand auf den Kopf schlägt. Er verabscheut es.

Allerdings kann er seine Schwerhörigkeit vor Freunden oft verbergen, weil er bald das Lippenlesen perfekt beherrscht. Er spielt Saxofon und singt, indem er den Rhythmus über die Vibrationen des Bodens spürt. Die Lehrer staunen, wie gut er in der Schule mitkommt, und über seine klare Aussprache. Zugleich aber demütigt ihn dieses Staunen, weil man es ihm, dem Schwerhörigen, eben nicht zutraut. "Viele Hörgeschädigte reden, als hätten sie eine Kartoffel im Mund, bei mir war das nicht so. Wahrscheinlich, weil ich vor dem Hörverlust hören konnte", erzählt Ball.

Ball tüftelt in der Garage seines Vaters; er gründet mit Freunden eine Firma, die bedruckte T-Shirts herstellt. Schließlich studiert er an der Universität Oregon menschliche Biomechanik, ein Studiengang, der inzwischen in Physiologie umbenannt wurde. Und dann ergattert er zu seinem unfassbaren Glück eine Stelle an der Universität Stanford bei dem international bekannten Hals-Nasen-Ohren-Spezialisten Richard Goode. Seine Einschränkung erwähnt Ball nur am Rande, weil er Angst hat, die Stelle nicht zu bekommen.

Dabei sollte sich kurze Zeit später herausstellen, dass kaum einer geeigneter gewesen wäre. Denn wie es der Zufall will, soll Ball in Stanford ein Mittelohrimplantat für Schwerhörige entwickeln. Es übersetzt Klang in elektromagnetische Signale und regt so das Mittelohr zum Schwingen an. Um die Funktion des Innenohrs besser zu verstehen, besorgt er sich aus der Pathologie Leichen. Gemeinsam mit dem Mediziner Daniel à Wengen, der heute als niedergelassener Arzt in Basel arbeitet, entfernte Ball die Schädeldecke und bohrt die Felsenbeinregion heraus. Sie beherbergt Mittelohr und Innenohr. Dabei dürfen beide die feinen Strukturen auf keinen Fall verletzen. Später setzt Ball die so sezierten Ohren dem Lärm eines Presslufthammers und noch lauteren Geräuschen aus und detektiert dabei die Schwingungen der Strukturen. Er reist zu den Ursachen seines eigenen Leidens. Irgendwo dort drinnen, so hofft er, liegt der Schlüssel zur Behandlung.

Doch der Durchbruch gelingt erst mit einem neuen Gerät, das Messungen am lebenden Menschen erlaubt: dem Laser-Doppler-Vibrometer. Sein Kollege à Wengen lässt sich breitschlagen, einen Tag lang still in einem Stuhl zu liegen, da sich nur so das zurückgeworfene Lasersignal aufzeichnen lässt. Ball erkennt dabei zum ersten Mal, wie gering die Bewegungen der Hörstrukturen sind. Eine Verschiebung von wenigen Mikrometern reicht, um Tonsignale ins Gehirn zu tragen. Das ist der Schlüssel zu seinem Mittelohrimplantat. Ball will sämtliche Laute in diese mikrometerkleinen Bewegungen übersetzen.