Journalismuskritik: Einseitige Berichterstattung zur Flüchtlingskrise

Medien haben Merkels "Wir-schaffen-das-Aussage" übernommen und Probleme lange Zeit "übersehen"

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Immer wieder taucht die These auf, dass zwischen Politik und Journalismus eine ideologische Komplizenschaft besteht. Demnach synchronisierten sich erstaunlich oft die politische Berichterstattung und die Sicht von tonangebenden Politikern, weil beide Lager in etwa einer Meinung seien.

Nun legt ein Forschungsprojekt der Hamburg Media School (HMS) nahe, dass zumindest in Sachen "Flüchtlingskrise" zentrale Medien eine Berichterstattung abgeliefert haben, die stark das Narrativ von der "Willkommenskultur", wie es vonseiten der Politik eingeführt wurde, bedient haben. Der Vorwurf einer einseitigen Berichterstattung steht im Raum (Lügenpresse? Wieso Lügenpresse?!?).

Noch ist das Projekt unter der Leitung des Direktors des Leipziger Instituts für Journalismusforschung Michael Haller nicht abgeschlossen, doch die bisher zu Tage gebrachten Erkenntnisse scheinen ein klares Bild wiederzugeben: 82 Prozent aller ausgewerteten Pressebeiträge sollen ein Bild zur Flüchtlingsthematik gezeichnet haben, das positiv konnotiert war, reichweitenstarke Medien hätten sich gar die "Wir-schaffen-das-Aussage" der Kanzlerin zu eigen gemacht.

Das berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) über die Studie, die von der Otto Brenner Stiftung und der IG-Metall gefördert wird. Laut FAZ habe das Projektteam um Haller, der auch die Journalismusforschung der HMS leitet, mehr als 34.000 Beiträge in tonangebenden Medien, die zwischen 2009 und 2015 erschienen sind, ausgewertet. Das Forschungsteam wollte klären, wie deutsche Medien in diesen sechs Jahren über die Flüchtlingspolitik berichtet und welche Akzente sie in der Berichterstattung gesetzt haben. Kurz: Bei dem Projekt geht es um die Frage, welches Bild Medien von der "Willkommenskultur" geprägt haben.

Im Jahr 2015, so stellten die Macher der Studie laut FAZ fest, sei die Berichterstattung, die die Willkommenskultur zum Thema gemacht habe, "regelrecht explodiert". 19.000 Beiträge, also "4.000 mehr zum Thema als in den sechs vorherigen Jahren zusammen", habe der emeritierte Professor gezählt.

Insbesondere in der heißen Phase der Flüchtlingskrise zwischen Juli und September 2015, "hätten einzelne Zeitungen im Durchschnitt sieben entsprechende Beiträge pro Tag gebracht". Der Begriff "Willkommenskultur" habe nach fremdenfeindlichen Ausschreitungen und einem Brandanschlag auf ein Flüchtlingsheim in Salzhemmendorf Anfang September 2015 seinen "diskursiven Höhepunkt" in der Berichterstattung erlebt.

Interessant: Viele Beiträge seien durch implizite Wertungen aufgefallen. Als Beispiel führt die FAZ Spiegel Online und die Tagesschau an. Bei dem Online-Portal sollen demnach vierzig Prozent der untersuchten Beiträge in Sachen Flüchtlingskrisen implizit wertende Elemente enthalten haben, bei der Tagesschau hätten diese in 20 Prozent der Beiträge ausfindig gemacht werden können.

Außerdem: Rund zwei Drittel der zentralen Medien sollen nach den bisherigen Forschungsergebnissen "übersehen" haben, dass eine große Zahl von Flüchtlingen, die Deutschland aufnehme, gesellschaftliche Probleme mit sich bringen könnten.

Nur ein Drittel der Berichte hätten von September 2015 an Probleme aufgegriffen. Parallel dazu habe sich die Einstellung der Bevölkerung gewandelt. Insbesondere die "Tagesschau" habe das Thema jedoch fast nur abstrakt, entlang der politischen Debatten in Berlin aufgeschlüsselt.

FAZ

Weiter wollen die Macher der Studie zu Tage gefördert haben, dass erst spät in der Berichterstattung Recherchen vor Ort stattgefunden hätten. Außerdem sei die Berichterstattung der Sicht, die die in der Bevölkerung zum Thema Flüchtlingskrise vorhanden war, hinterhergelaufen. Die Berichterstattung habe so auch an Glaubwürdigkeit eingebüßt.

Haller verweist laut FAZ darauf, dass die unausgewogene Berichterstattung durchaus auch zu wünschenswerten Impulsen geführt haben könnte. Demnach könnte ein Zusammenhang zwischen der Berichterstattung der Presse, in der die Willkommenskultur eine große Rolle gespielt habe, und der gelebten Willkommenskultur vor Ort, wo Teile der Bevölkerung dabei halfen, mit dem Strom an Flüchtlingen fertig zu werden, bestehen.

Wenn sich an den Ergebnissen der Studie, die im Herbst zu einem Abschluss kommen soll, nichts mehr Gravierendes ändert, dürften sich viele Medienkritiker in ihrer Kritik bestärkt sehen. Fasst man zusammen, was bisher an Zwischenergebnissen publik wurde, wird deutlich: Beim Thema Flüchtlingskrise in den großen Medien werden genau jene Schwachstellen sichtbar, die viele Mediennutzer und Kritiker seit geraumer Zeit ansprechen ("Die große Meinungsvielfalt in der deutschen Presse ist Geschichte"):

Bei großen gewichtigen Themen sind Medien oft einer Meinung mit den Weichenstellern auf der politischen Ebene. Themen werden zu einseitig behandelt, die Sicht der Bevölkerung nicht genug berücksichtigt. Selbst in sachlichen bzw. "neutralen" journalistischen Darstellungsformen wie dem Bericht, finden sich implizit wertende Elemente, echte Recherche vor Ort, die versucht, "den Dingen" auf den Grund zu gehen, hat fast schon Seltenheitswert bzw. kommt erst spät zum Einsatz.