Die türkische Regierung fordert Solidarität nach dem Selbstmordanschlag in Gaziantep

Zwar wird der IS von Erdogan verantwortlich gemacht, aber untergemischt werden auch PKK, Gülen und ausländische Geheimdienste

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Mindestens 51 Menschen sind am Samstag bei einem Selbstmordanschlag in der vorwiegend von Kurden bewohnten Stadt Gaziantep getötet und 69 teils schwer verletzt worden. Viele Opfer sind Frauen und Kinder. Angeblich war womöglich der Täter ein 12-24-jähriger Jugendlicher, der sich auf einer Hochzeitgesellschaft für ein Parteimitglied der HDP in die Luft sprengte und ein Massaker an Kurden verursachte.

Möglicherweise wurde der Sprenggürtel des Jugendlichen auch aus der Ferne gezündet, wird spekuliert. Es wäre der erste Anschlag, der durch ein Kind oder einen Jugendlichen in der Türkei begangen wurde. Das könnte zeigen, dass der IS zunehmend auf Kinder zurückgreifen muss, um Selbstmordanschläge auszuführen, da die älteren Freiwilligen knapp oder für andere Aufgaben gebraucht werden.

Bild: Gaziantep Sayfasi

Der türkische Präsident Erdogan erklärte, vermutlich sei der Islamische Staat der Drahtzieher des Anschlags in der Stadt nahe an der syrischen Grenze und der weiterhin vom IS kontrollierten Grenzstadt Dscharablus, wo IS-Kämpfer und -Rekruten weiter die Grenze überqueren und ein grenzüberschreitender Handel stattfindet. In Gaziantep soll es auch IS-Zellen geben, dort werden auch Sprengsätze und Selbstmordgürtel hergestellt, die für Anschläge in der Türkei benutzt wurden. Noch Anfang 2015 hatten hier auch IS-Rekruten, die in Gaziantep empfangen wurden, relativ problemlos nach Syrien einreisen können.

Erdogan kann aber offenbar nicht umhin, seine übliche Verschwörungstheorie weiter zu stricken und neben dem IS auch die kurdische PKK und due Gülen-Bewegung verantwortlich zu machen. Erdogan betonte, dass es zwischen der PKK, der FETÖ, der YPG und der Daesh keine Unterschiede gebe: "Alle sind Terroristen." Überdies erklärte er, dass der IS seit einiger Zeit versuche, sich in Gaziantep anzusiedeln, was er aber längst hatte, bis die türkische Regierung die Unterstützung oder Duldung des IS nach den ersten Anschlägen 2015, die zunächst vor allem gegen Kurden in Diyarbakır, Suruc und Ankara gerichtet waren, auch demonstrativ, aber undurchsichtig gegen den IS vorging.

Immer wieder gab es Vorwürfe, dass die türkischen Sicherheitskräfte IS-Zellen unbehelligt gelassen haben sollen. Auch jetzt hab es bei der Beerdigung der Toten am Sonntag Rufe: "Erdogan Mörder". Die PKK macht die AKP-Regierung für den Anschlag verantwortlich. Das Ziel der Anschläge sei nicht die AKP, sondern es seien Kurden und Ausländer. Am Tag vor dem Anschlag hatte die PKK die türkische Regierung aufgefordert, an den Verhandlungstisch zurückzukehren.

Der Islamische Staat hat sich noch nicht zum Anschlag bekannt

Daily Sabah, der Propaganda- Auslandssender der AKP, schürte ebenfalls Verschwörungstheorien und erklärte, dass vermutliche Geheimdienste mehrerer Staaten hinter dem Anschlag stünden. Zudem habe die Türkei erstmals eine Offensive gegen den IS in Dscharablus zu starten. Die Botschaft ist, dass nun der Westen und primär die EU voll hinter der Türkei im Kampf gegen den Terror stehen sollen.

Ein Kommentator versucht denn auch, irgendwie die PKK, die zwar gegen den IS kämpft, und den IS zusammenzubringen. Beide würden die Türkei mit Anschlägen destabilisieren wollen. Der Westen habe bislang Rückhalt im türkischen Kampf gegen den Terror vermissen lassen, ist auch hier die Botschaft, nachdem gerade ein Bericht des deutschen Innenministeriums bekannt wurde, der die Türkei als "zentrale Aktionsplattform für islamistische Gruppierungen" bezeichnete. Letztlich zielt der Kommentar darauf, die Unterstützung der syrischen YPG, die mit der PKK verbunden sei, zu beenden. Der IS scheint dabei weniger zu sein, was auch stets die Politik der türkischen Regierung war und ist. Ein anderer Kommentar meint, der Westen müsse die Türkei, die gegen den IS kämpfe, ebenso im Kampf gegen FETÖ und die PKK unterstützen.

Verdächtig könnte sein, dass der Anschlag vor dem Besuch des US-Vizepräsidenten Biden am Mittwoch stattgefunden hat, mit dem die schwierigen Beziehungen zwischen der Türkei und der US-Regierung im Hinblick auf Syrien, die syrischen Kurden und Gülen behandelt werden sollen. Biden verurteilte auch den Anschlag - was sonst? - und will den Kampf gegen den Terrorismus mit Erdogan diskutieren.

Auffällig ist, dass sich der IS nicht zu den ihm zugeschriebenen Anschlägen in der Türkei bekennt. Auch der Anschlag in Gaziantep blieb bislang außen vor, obgleich der IS ansonsten schnell ist, die Verantwortung zu übernehmen. Das könnte in der Türkei Strategie sein, da auch die Regierung eine schwer durchschaubare Politik gegenüber dem IS und anderen islamistischen Gruppen betreibt. Aber es steht doch im auffälligen Kontrast zur sonstigen IS-Propaganda, der es vor allem um Aufmerksamkeit geht und nicht um die Zielgerichtetheit von Anschlägen.