Die Raubüberfälle des NSU

Grafik: TP

Wie finanzierte sich die Terrorgruppe? - Teil 4 der Telepolis-Serie zum "NSU"

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Die NSU-Verbrechen offenbaren eine seltsame Ost-West-Anatomie. Die Mordanschläge wurden im Westen verübt: Nürnberg, München, Hamburg, Köln, Dortmund, Kassel, Heilbronn - einzige Ausnahme: Rostock. Doch dort kam das Opfer ebenfalls aus dem Westen, aus Hamburg. Die Raubüberfälle dagegen geschahen ausnahmslos im Osten: Chemnitz, Zwickau, Stralsund, Arnstadt, Eisenach.

Morden auswärts - rauben zuhause? Wie die Morde sollen auch die Raubüberfälle ausnahmslos und allein von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos begangen worden sein - so zumindest die Bundesanwaltschaft.

<FR>Teil 3: Ein Verfassungsschützer während der Tat am Tatort<FR>

Wie haben sich die drei mutmaßlichen Rechtsterroristen in den 13 Jahren ihrer Illegalität, vom Zeitpunkt der Flucht aus Jena im Januar 1998 bis zu ihrer Entdeckung im November 2011, finanziert? Um diese Frage geht es. Und die Auffassung der Anklagebehörde lautet: durch die 15 Raubüberfälle auf Banken und einen Supermarkt. Doch bei genauer Betrachtung finden sich ähnlich viele Ungereimtheiten wie bei der Mordserie.

Daran ändert auch das Statement Beate Zschäpes vor dem Oberlandesgericht München nichts, in dem sie nahezu eins zu eins die unbewiesene Theorie der Anklagebehörde von der Alleintäterschaft der zwei Uwes bestätigte. Eher fügt sich Zschäpes Verhalten selber in diese Ungereimtheiten ein.

Der erste Raub - und die ersten Fragen

Die Terrorserie begann mit einem Raub - und mit ihm beginnen die Fragen. Am 18. Dezember 1998 überfielen zwei maskierte und bewaffnete Männer einen Edeka-Markt in Chemnitz und erbeuteten etwa 30.000 D-Mark. Bei der Flucht schossen sie um sich. Zwei Täter? Böhnhardt und Mundlos? So sicher ist das nicht.

Denn es gibt einen Zeugen, der drei Maskierte gesehen haben will. Ein junger Mann, damals 16 Jahre alt, auf den einer der Fliehenden schoss und knapp verfehlte, wie er im Juni 2015 dem Oberlandesgericht in München schilderte. Die dritte Person soll kleiner als die beiden anderen gewesen sein, vielleicht eine Frau. Dieser Zeuge galt lange als verschollen. In der Anklageschrift der Bundesanwaltschaft steht: "Der Zeuge, der den Vorfall beobachtete und die Täter verfolgte, konnte nicht ermittelt werden." Die vollständige Wahrheit ist: Er war damals ermittelt und auch vernommen worden, allerdings gibt es diese Ermittlungsakten nicht mehr. Auch das liest man in der Anklageschrift: "Sie sind von der Staatsanwaltschaft Chemnitz vernichtet worden."

Tatsächlich wurden die Akten im Jahr 2005 vernichtet und 2006 außerdem alle Daten gelöscht. Warum, kann die Behörde nicht mehr nachvollziehen - "mangels vorhandener Daten", wie sie erklärt, möglicherweise sei das "aus Versehen" passiert. Die Unterlagen hätten nicht vernichtet werden dürfen, Raub verjährt erst nach 20 Jahren. Vorgänge in der Staatsanwaltschaft Chemnitz, die einen daran erinnern lassen, dass bei der Behörde auch Ermittlungsakten zu dem Neonazi und V-Mann Ralf Marschner aus Zwickau, der zum Umfeld des NSU-Trios zu rechnen ist, verloren gingen, wie man 2016 erfahren hat.

Ausgerechnet ein Zeuge, der die offizielle Zwei-Täter-Theorie widerlegen kann, verschwindet aus den Akten. Wiedergefunden wurde der junge Mann aus dem Edekamarkt schließlich bei Nachermittlungen des Bundeskriminalamtes im Jahr 2015. Nie gefunden wurde allerdings die Tatwaffe aus diesem Überfall, auch in der Habe des Trios nicht.

Überfälle in der Nachbarschaft?

Allein acht der Überfälle wurden in Chemnitz verübt, drei in Zwickau. Städte, in denen das Trio gelebt hatte. Gleich mehrere Banken liegen in unmittelbarer Nähe verschiedener Wohnadressen, die es benutzt hatte, zum Beispiel in derselben Straße. Eine ausgeraubte Postfiliale in Chemnitz lag direkt neben einem Friseurladen, in dem Mandy S. arbeitete, die zum NSU-Umfeld gehörte und bis heute als Tatverdächtige gilt. Sie ist eine der neun Beschuldigten, gegen die konkret ermittelt wird. Ausraubobjekte im unmittelbaren Wohnumfeld? Was für eine mögliche Ausspähung nützlich gewesen sein könnte, hätte im Falle eines Überfalles aber ein hohes Entdeckungsrisiko bedeutet.

Waren Böhnhardt und Mundlos tatsächlich die Bankräuber? Sie allein? Waren es wirklich nur zwei? In keiner der Banken wurden eindeutige Spuren der beiden Uwes gefunden, Fingerabdrücke oder DNA-Substanz. Die Fahnder der Kripo Chemnitz gingen damals in ihren Tathypothesen auch davon aus, dass ein dritter Täter in einem Fluchtfahrzeug gewartet haben könnte.

Einer derjenigen, die sich seit 2012 intensiv mit dem NSU-Skandal befassen, ist der Bundestagsabgeordnete Clemens Binninger (CDU), zunächst Mitglied im ersten Untersuchungsausschuss des Bundestages und derzeit Vorsitzender des zweiten. Seine Einschätzung lautet: "Böhnhardt und Mundlos haben sicher Banküberfälle begangen. Die Frage ist, ob sie wirklich alle begangen haben. Denkbar ist, dass es bei dieser Bankraubserie mehrere Täter gab oder nicht alle von den zweien begangen wurden."

Dahinter steht die wiederkehrende Frage, ob der NSU tatsächlich nur aus drei Personen bestand.