Die Feminismusdebatten-Versteherinnen

Eine Argumentationsanalyse des Beitrags über den Zorn abgehängter Männer von Christina Schildmann und Anna-Katharina Meßmer

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Anstatt zu argumentieren, wird in wichtigen gesellschaftspolitischen Diskussionen heute gerne psychologisiert, emotionalisiert und stigmatisiert. Das ist bequem, denn mit Putinverstehern, Trollen, Verfassungsfeinden oder Verschwörungstheoretikern braucht man sich nicht mehr inhaltlich auseinanderzusetzen; allenfalls kann man noch über eine psychiatrische Behandlung nachdenken. In der Diskussion über Gleichberechtigung und Geschlechterrollen haben Anna-Katharina Meßmer, Mitinitiatorin des #Aufschreis gegen Sexismus, und Christina Schildmann, Referentin der Friedrich-Ebert-Stiftung, zahlreiche neue Kategorien für die Typologie der Ausgegrenzten vorgeschlagen: weiße Wutmänner, verbale Amokläufer, Web-2.0-Krieger, zornige weiße Journalisten und White Web Warriors. Der Debatte erweisen sie damit einen Bärendienst.

In unserer Kulturgeschichte wurde schon einige Male der bevorstehende Untergang des Abendlandes ausgerufen und in gewissen politischen Kreisen verweist man auch heute gerne auf die christlich-abendländischen Werte. Leider wird selten erklärt, was für Werte das genau sein sollen, denn unsere Vergangenheit ist ebenso von Sklaverei, Kolonialismus, Krieg und gar Völkermord geprägt wie von Kunst, Philosophie, Wissenschaft und Rechtsstaatlichkeit.

Gründe geben

Ein guter Kandidat für einen kleinsten gemeinsamen Nenner ist vielleicht das Prinzip der Begründung, altgriechisch (logon didonai). Das heißt, dass man etwas nicht nur behauptet, sondern mit Gründen untermauert, sprich argumentiert. Dabei müssen die Gründe auch relevant sein und nicht nur reine Rhetorik, wie man sie heute als ergebnisorientierte Kunst der Überzeugung jedem Rechtsanwalt und Politiker beibringt.

Mit Blick auf moralische Urteile hat Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik die ans Prinzip der Begründung angelehnte Regel formuliert, dass ein Unterschied in der moralischen Bewertung auch einen relevanten Unterschied im Sachverhalt voraussetzt: Das heißt einerseits, dass man etwas unter gleichen Umständen nicht einmal als moralisch richtig, ein andermal als moralisch falsch bewerten kann; andererseits muss ein Unterschied im moralischen Urteilen auch in der Sache begründet werden.

Antike Prinzipien auch heute noch bewährt

So einfach dieses aus dem antiken Griechenland überlieferte Prinzip ist, so nützlich ist es auch heute noch: Beispielsweise lässt sich damit erörtern, warum Sexismus, einmal oberflächlich als die unterschiedliche Bewertung von Menschen aufgrund ihres Geschlechts definiert, in den meisten Fällen abzulehnen ist: So sind beispielsweise bei der Besetzung eines Redaktionspostens die Erfahrung und das Organisationstalent ein gerechtfertigter Unterscheidungsgrund von Bewerberinnen und Bewerbern, nicht jedoch deren Geschlecht. Bei der Anwendung einer medizinischen Behandlung mit fruchtschädigender Wirkung kann es hingegen nicht nur moralisch gerechtfertigt, sondern sogar geboten sein, Frauen im gebärfähigen Alter auszuschließen.

Verfolgt man allerdings Debatten der letzten Jahre zu höchstrelevanten gesellschaftspolitischen Themen in deutschen Leitmedien, dann kommt man kaum noch umhin, den Verlust dieses kleinsten gemeinsamen Nenners zu konstatieren: Zu oft wird dort geistlos diskriminiert, polemisiert, psychologisiert und stigmatisiert anstatt zu informieren und zu begründen; häufig geschieht dies sogar im offenen Widerstand gegen die eigene Leserschaft, die - bewusst oder unbewusst - das antike Prinzip der Begründung einfordert. Wenn die Kritik die Moderationskapazitäten sprengt, dann schaltet man lieber die Kommentarfunktion ab, als die Gründe nachzuliefern.

Ausgrenzung statt Auseinandersetzung

Psychologisierende, emotionalisierende und stigmatisierende Begriffe wie Putinversteher, Troll, Verfassungsfeind oder Verschwörungstheoretiker sollen über das Begründungsdefizit in diesen Debatten hinwegtäuschen. Was bleibt, ist reine Rhetorik, die sich über ausgelöste Gefühle und damit korrelierende Klick- und Likezahlen ökonomisch rechtfertigt; was bleibt, ist ein geistloser Kampf um die herrschende Meinung, die den Rest aus der Diskussion ausgrenzt. Diese Strategie geht dann auf, wenn die Menschen durch Arbeit, Bürokratie, Routinen und Stress zu ermüdet sind, um selbst zu denken oder wenigstens sorgfältige Denkarbeit der gesellschaftlichen Denker, der Intellektuellen, einzufordern.

Neben dem zerstörerischen Krieg gegen den Terror nach außen und dem erschöpfenden Wettbewerb um den Erfolg nach innen ist auch der Kampf um Gleichberechtigung ein gesellschaftliches Anliegen von höchster Bedeutung. Sexismus ist ein Problem, das alle etwas angeht, schließlich hat jeder von uns nicht nur ein biologisches Geschlecht, sondern ist auch in einer Gesellschaft mit konstruierten Geschlechterrollen aufgewachsen. Dementsprechend handelt es sich um ein Problem, das man gerade in den Leitmedien mit der gebotenen Ernsthaftigkeit und Begründungsarbeit diskutieren sollte.

Kritiker werden mundtot gemacht

Von auch nur einem einzigen Argument ist aber in dem Beitrag "Vom Zorn abgehängter Männer" von Christina Schildmann und Anna-Katharina Meßmer, der in der Printausgabe von Die Zeit (Nummer 38) vom 11. September 2014 und einen Tag später online erschien, weit und breit nichts zu sehen. Im Gegensatz dazu bedienen sich die Autorinnen nicht nur sehr häufig einer martialischen Sprache, sondern bezeichnen ihren Beitrag sogar offen als Gegenangriff.

Die Reaktionen der Leserinnen und Leser stehen jedenfalls in Anzahl und Lebhaftigkeit den Berichten zum Ukraine-Konflikt, wo es nicht nur im übertragenen Sinne um Martialisches geht, in nichts nach: So erschienen innerhalb von acht Stunden mehr als fünfhundert Beiträge, bis eine Redakteurin schließlich beim Zähler 505 den Kommentarbereich schloss: Es würden, abgesehen von persönlichen Angriffen, keine neuen Aspekte mehr diskutiert. Dass damit alle von der Online-Diskussion ausgeschlossen werden, die den Artikel erst nach Feierabend lesen und bisher noch gar nicht reagieren konnten, scheint dort nicht zu stören. Immerhin bietet die Redaktion gleich den passenden Link an, um diese Entscheidung als bedenklich zu melden.

Entscheidung der Redaktion, die den Kommentarbereich zu schließen. Screenshot von ca. 20:30 Uhr am 12. September 2014.

Keine Argumente, keine Debatte

Der Artikel wird als Beitrag zur Gender-Debatte beworben. Von einer Debatte erwartet man, dass dort debattiert wird. Im Text wird jedoch nur provoziert, psychologisiert, emotionalisiert und stigmatisiert: So führen die Autorinnen eine ganze Typologie ein, um ihre Diskussionsgegner zu charakterisieren, beziehungsweise zu diffamieren. Da sind zum Beispiel die wütenden Männer, englisch Angry White Men, da ist der der weiße heterosexuelle Mann, abgekürzt WHM, der verbale Amokläufer, Web-2.0-Krieger, der zornige weiße Journalist, unterteilt in die drei Subtypen Dandy-Konservativer, gewendeter Ex-Linker und intellektueller Berserker, sowie schließlich die White Web Warriors.

Was vermeintliche Mitglieder dieser Spezies eigentlich behaupten, was für und gegen ihre Gründe spricht, das wird den Leserinnern und Lesern mitnichten erklärt. Stattdessen werden die Standpunkte der anderen emotionalisiert: Die zornigen weißen Journalisten etwa hätten ein Bedürfnis zur Abrechnung, bedienten lustvoll Ressentiments, betrieben Vergangenheitsbewältigung voller Abscheu, sie tobten und polemisierten. Alle vereine der Kampf gegen eine gefühlte kulturelle Enteignung.

Von der Ausgrenzung in die Psychiatrie?

Der Zweck dieser Strategie ist offensichtlich: Mit Wutmännern und weißen Zornjournalisten braucht man sich nicht mehr inhaltlich auseinanderzusetzen, ebenso wenig wie mit Putinverstehern, Trollen, Verfassungsfeinden oder Verschwörungstheoretikern. Dass diese Wutmänner Opfer persönlicher Schicksale sind, das billigen ihnen die Autorinnen Meßmer und Schildmann noch zu; dass es nach Scheidung, Arbeits- und Familienverlust vielleicht gute Gründe für ihre Wut gibt, jedoch nicht. Es sei schlicht das Gefühl ihrer Niederlage, das sie zu politischen Kriegern mache.

Eigentlich fehlt nur noch der Vorschlag, diese Typologie in die gängigen psychiatrischen Diagnosehandbücher aufzunehmen und die so identifizierten Individuen einer Zwangsbehandlung zu unterziehen, vielleicht so wie Gustl Mollath (Abgestempelt: Was können wir aus dem Fall Gustl Mollath lernen?) oder viele farbige Bürgerrechtler in den USA, die in den 1960er Jahren auch als Wutmänner charakterisiert wurden und reihenweise Schizophrenien diagnostiziert bekamen - mit den entsprechenden psychiatrischen Konsequenzen (The Protest Psychosis: How Schizophrenia Became a Black Disease).

Tatsächlich argumentieren die sogenannten Wutmänner

Die Kritik der Autorinnen wäre gerechtfertigt, würden die Wutmänner wirklich nur emotional argumentieren. Das ist aber nicht der Fall. Nehmen wir das Beispiel Matthias Matussek, ihrer Typologie nach ein intellektueller Berserker mit Nähe zu den White Web Warriors, der in seinem Blog bei der Welt über Homophobie schrieb. Natürlich ist sein Ton manchmal scharf und er schreibt bisweilen polemisch; er versäumt es aber nicht, seine Position über die Sonderstellung der Frau-Mann-Ehe wenigstens im Ansatz zu begründen.

Mit seinem Verweis auf die Bibel dürfte er in unserer pluralen und säkularisierten Gesellschaft wenige überzeugen; tatsächlich wurde so aber über Jahrhunderte, lange vor moderner Wissenschaft und Philosophie, Medien, dem Internet, Wikipedia, argumentiert, da die christlichen Schriften und deren Interpretation das einzige Orientierungswissen boten.

Beispiel der gleichgeschlechtlichen Partnerschaften

Das ebenfalls angeführte, aber alte Argument, gleichgeschlechtliche Partnerschaften könnten prinzipiell keinen Nachwuchs hervorbringen, kann man leicht zurückweisen. So hat interessanterweise die Entwicklung der Antibabypille neben der sexuellen Befreiung von Frauen, die sich seitdem auch ohne strikte Enthaltsamkeit mit Leichtigkeit für oder gegen eine Schwangerschaft entscheiden können, auf die Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Praktiken eine viel größere Nebenwirkung ausgeübt. Denn schließlich hatten jetzt breite Bevölkerungskreise Sex ohne die Möglichkeit einer Schwangerschaft, was man Lesben und Schwulen vorher unermüdlich vorgeworfen hatte.

Wieso sollte es überhaupt so etwas wie eine Pflicht zum Kinderkriegen geben? Selbst wenn ein moderner Staat ein begründetes Interesse an der Erziehung neuer Generationen hat, wäre es dann nicht ein sinnvolleres Instrument, Vorteile an der tatsächlichen Kinderzahl festzumachen, ganz gleich ob diese die biologisch eigenen oder adoptierte sind, anstatt an einem an sich unfruchtbaren Ehevertrag auf Papier? Würde Matussek einwerfen, Geschlechtsverkehr von Mann und Frau könnte wenigstens im Prinzip Kinder zeugen, man könnte ihm erwidern, dass er Sex ohne Zeugungsabsicht dann ja auch im Prinzip unterlassen kann. Ob seine Entscheidung, wie auch immer sie ausfallen würde, für andere eine moralische Wirkung haben sollte, sei dahingestellt.

Auch mit dem Gegner kann, ja muss man diskutieren

Eine Diskussion ist aber selbst mit - oder gegen - Matussek möglich, wenn man ihn nicht nur als intellektuellen Berserker abtut, sondern sich mit seinen Argumenten auseinandersetzt. Man mag seiner Homophobie vehement widersprechen, er hat aber recht damit, dass man ihm weder als Privatperson noch als Publizist die Überzeugung in Abrede stellen kann, dass die Frau-Mann-Ehe Sonderstatus genießt.

Ähnlich leicht wie mit dem sogenannten zornigen weißen Journalisten Matussek machen es sich Meßmer und Schildmann mit Peter Hahne, einem Bild-Kolumnisten, der ein Buch über Werte geschrieben hat. Dieser baue sich aus Reizwörtern Pappkameraden, so die Autorinnen. Als Beleg dafür soll der Titel des Buchs "Rettet das Zigeunerschnitzel", dienen. Die Idee des Zigeunerschnitzels verwenden Meßmer und Schildmann zur Psychoanalyse des Angry White Man.

Wenn man Hahnes Buch tatsächlich aufschlägt und nicht nur dem Titel nach aburteilt, dann muss man schon lange suchen, um die namengebende Schnitzelsoße zu finden: Auf noch nicht einmal zwei ganzen Buchseiten geht es darum. Über weite Strecken handelt es indes von Ehrlichkeit im zwischenmenschlichen Umgang, Kritik am Kommerz, Asyl, Bildung, Tierethik, Heldinnen oder Korruption, um nur einige Beispiele zu nennen. Was ist daran eigentlich schlecht? Wenn einem die Beiträge zu konservativ sind, dann braucht man das Buch ja nicht zu lesen; es nur auf die Zigeunersoße zu reduzieren, wird ihm jedoch nicht gerecht - das ist reinste Pappkameradentaktik.

Die oberflächliche Kritik läuft außerdem ins Leere, wenn man weiß, dass Buchtitel häufig vom Verlag, nicht vom Autor selbst, festgelegt werden und in dieser Frage Angestellte aus der Marketing-Abteilung mitunter das letzte Wort haben. Wir leben eben in einer kapitalistischen Welt, in der Umsatz ein schlagendes Argument ist, auch für Buchverlage. Diese Entscheidung dem Autor allein zum Vorwurf zu machen, verfehlt das Ziel. In jedem Fall lohnt es sich, ein Buch nicht nur nach dem Titel abzuurteilen, jedenfalls dann, wenn es einem ernsthaft um die Sache geht.

Amerikanische Diskussion auf Deutschland übertragen

Die vielen Anglizismen in dem Artikel von Anna-Katharina Meßmer und Christina Schildmann geben Aufschluss darüber, in welchen Kreisen sie sich inspirieren lassen. Die Übernahme der Angry White Men oder White Web Warriors ins Deutsche ist genauso wenig originell wie aussagekräftig. Zwar kann ich allen Männern nur empfehlen, einmal die Ausführungen über Männerbilder des von den Autorinnen zitierten US-Soziologen Michael Kimmel zu lesen und sich zu fragen, inwiefern diese das eigene Leben prägen. Gerade dann, wenn man Gendertheorie ernst nimmt, kann man solche Rollen aber nicht einfach aus der US-amerikanischen Gesellschaft in andere übertragen.

Einer ernsthaften Debatte über Geschlechterrollen, soziale Erwartungen und Zwang, für Männer, Frauen, Xe, erweisen die Autorinnen durch ihre Emotionalisierung, Psychologisierung, Stigmatisierung, ja Diskriminierung einen Bärendienst. Auch Feministinnen darf man kritisieren und nicht jeder, der es tut, ist darum ein Wutmann oder eine Wutfrau, ein zorniger Journalist.

Eine neue Spezies wird geboren

So hat beispielsweise die politische Philosophin Janet Radcliffe-Richards von der Oxford Universität mit ihrer Forschung zum Skeptischen Feminismus problematische Tendenzen identifiziert, Argumentation durch reine Gefühlsäußerungen zu ersetzen, die obendrein noch einen hohen Beweiswert beigemessen bekommen. Die Philosophin hat aufgezeigt, wie man sich dadurch vom Begründungsprinzip abwendet und leicht in Widersprüche verwickelt.

Heute, gut dreißig Jahre später, erklärt vielleicht die Reduktion auf 140 Zeichen pro Stellungnahme dank Twitter sowie der Fokus auf Klick- und Likezahlen, wie man einen Artikel wie den von Christina Schildmann und Anna-Katharina Meßmer in einem deutschen Leitmedium ernsthaft als Debattenbeitrag verstehen kann. Aber immerhin haben die beiden damit, um in ihrer eigenen Typologie zu bleiben, eine neue Spezies gegründet: Sie sind nämlich die ersten beiden Exemplare der Feminismusdebattenversteherinnen.

Stephan Schleim ist Assistenzprofessor für Theoretische Psychologie an der Universität Groningen (Niederlande). In seiner Freizeit organisiert er manchmal Kurse über Gender-Theorie.