EU: "Neustart" angesichts europäischer Zerfallserscheinungen?

Renzi, Hollande und Merkel auf Ventotene. Bild: T. Barchielli/governo.it/CC BY-NC-SA 3.0 IT

Merkel, Hollande und Renzi kamen nach dem Brexit nun zu einem mit Symbolik aufgeladenen Treffen zusammen

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Der Brexit hat die europäische Krise mehr als deutlich auf die Tagesordnung gebracht. Auf politischer und wirtschaftlicher Ebene ist die Zukunft angesichts zunehmender Fliehkräfte im Euroraum und der Europäischen Union unklar. Auf Einladung des italienischen Regierungschefs Matteo Renzi kamen er, Bundekanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident François Hollande nun am Montag zu einem symbolträchtigen Mini-Gipfel vor Neapel zusammen. Angesichts der Verfallserscheinungen haben sie die europäische Idee beschworen, doch kaum mehr als Symbolik hatten die Chefs der drei wichtigsten verbleibenden EU-Mitglieder zu bieten.

"Viele haben geglaubt, dass die Union nach dem Brexit am Ende sei", erklärte der Gastgeber Renzi. Doch das sei nicht der Fall. "Wir respektieren die Entscheidung der Briten, doch wir wollen ein Kapitel für die Zukunft schreiben", fügte er auf dem Flugzeugträger "Giuseppe Garibaldi" an, der nahe Neapel vor der kleinen Insel Ventotene lag. Die großen Worte wurden mit reichlich Symbolik untermauert. Sowohl Garibaldi als auch Ventotene stehen für die europäischen Einigungsbestrebungen.

Giuseppe Garibaldi war einer der populärsten Vertreter des italienischen "Risorgimento", also der dortigen Einigungsbewegung. Der Guerillakämpfer Garibaldi hatte zwar die Einigung Italiens im Blick, dachte aber schon über den Nationalstaat hinaus. Er war von den frühen Ideen über ein geeintes demokratisches Europas beeinflusst. Und diese Ideen von einem freien und vereinten Europa flossen ein Jahrhundert danach in das "Manifest von Ventotene" ein, dass Antifaschisten in dem dortigen Internierungslager im Jahr 1941 verfasst haben.

Die Insel wurde zunächst ab 1926 vom faschistischen Regime als Ort zur Verbannung von Kommunisten und Sozialisten genutzt. Ab 1940 gab es dort schließlich auch ein Konzentrationslager. Die ersten Insassen waren ehemalige Verbannte. Unter den dort Internierten befand sich auch der Kommunist Altiero Spinelli. Der Journalist war federführend mit Eugenio Colorni, Ernesto Rossi und Ursula Hirschmann an der Ausarbeitung des Manifests beteiligt. Sie gingen davon aus, dass nur in einem föderalistischen Europa die unabdingbare Voraussetzung und historische Möglichkeit gegeben seien, dem Nationalismus in Europa und damit den kriegerischen Auseinandersetzungen den Boden zu entziehen. Ohne die "endgültige Beseitigung der Grenzen" bleibe jeglicher Fortschritt eine trügerische Hoffnung, meinten sie (Ohne Alternative?).

Das Manifest wird auch als erstes Gerüst für die EU angesehen. Das hat damit zu tun, dass sie unter anderem propagierten, es müsse mit den "wirtschaftlichen Autarchien" aufgeräumt werden, "die das Rückgrat der totalitären Regime bilden". Die Staaten sollten nach ihren Vorstellungen nicht abgeschafft werden, sondern jene Autonomien erhalten, "die eine plastische Gliederung und die Entwicklung eines politischen Lebens, gemäß den besonderen Eigenschaften der verschiedenen Völker, gestattet". Die einzelnen Bundesstaaten sollten mit "einer ausreichenden Anzahl an Organen und Mitteln" ausgestattet sein, um die Beschlüsse durchführen zu können, "die zur Aufrechterhaltung der allgemeinen Ordnung dienen". Nach diesen Vordenkern sollte Europa ein Bundesstaat werden, "der auf festen Füßen steht und anstelle nationaler Heere über eine europäische Streitmacht verfügt".

Vereinnahmung der linken Vordenker für das geschaffene kapitalistische Europa

Es ist hierbei schon offensichtlich, wie die reale EU von den Vorstellungen dieser Vordenker abweicht. Und noch viel deutlicher wird das, wenn man sich die Zielsetzungen anschaut, die sie für ein vereintes Europa hatten. Denn das sollte "sozialistisch" sein. Sie sprechen auch von einer "europäischen Revolution", die den Kapitalismus überwinden und sich "für die Emanzipation der Arbeiterklasse und die Schaffung menschlicherer Lebensbedingungen einsetzen" soll. Und so darf man sich fragen, ob sich Spinelli nicht im Grab umzudrehen versuchte, als Merkel, Hollande und Renzi am Montag kleine Blumensträuße auf seinem Grab niedergelegt und ihn geehrt haben. Merkel verstieg sich dabei zu der Aussage, es sei die "gute Botschaft unserer Zeit", dass aus der Vision der Vordenker Realität geworden sei. Gemeinsam habe man deutlich gemacht, "dass wir wissen, woher diese Europäische Union kommt".

Die Vereinnahmung der linken Vordenker für das geschaffene kapitalistische Europa, ist sehr offensichtlich. Doch mit dieser Vereinnahmung, Symbolik und vielen Worthülsen versuchen Merkel, Hollande und Renzi ihrer Europa-Idee neues Leben einzuhauchen. Dabei ist allein der Dreiergipfel auf dem Flugzeugträger Ausdruck davon, dass eben genau ihr Modell in einer tiefen Krise steckt. Die wird aber nicht nur durch den Brexit markiert. Damit wird vor allem abgelenkt, wenn zum Beispiel Merkel davon spricht, die Union befände sich nun auf dem Prüfstand, und wenn Hollande vor einer Zersplitterung warnt.

Mit ihrem gemeinsamen Auftritt wollten sie zeigen, dass der Brexit eben nicht nur ein Höhepunkt von sich verstärkenden Verfallserscheinungen ist. Und sie versuchten zudem zu unterstreichen, dass die Führer der verbliebenen drei bevölkerungsreichsten EU-Länder weiter an einem Strang ziehen und man sich deshalb über Europa keine wirklichen Sorgen zu machen brauche.