Erdogans Krieg

Islamistische Miliz der "Sham-Legion" an der türkisch-syrischen Grenze. Bild: Propaganda-Material

Unter dem Vorwand eines Anti-Terroreinsatzes interveniert das türkische Regime in Nordsyrien. Ziel ist die Zerschlagung der Selbstverwaltung in Rojava

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Die sich seit Tagen ankündigende Intervention der Türkei in Nordsyrien hat begonnen. Wie türkische Medien berichten sind am Morgen des 24. August die ersten türkischen Panzer auf syrisches Gebiet vorgedrungen.

Erstes Ziel der Offensive ist die am westlichen Ufer des Euphrats gelegene syrische Grenzstadt Jarabulus, die seit rund zwei Jahren vom Islamischen Staat gehalten wird - und deren Befreiung durch die im Norden Syriens operierenden Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) Ankara mit aller Macht verhindern will. Dem Einmarsch türkischer Spezialeinheiten ging ein mehrtägiges Bombardement der Stadt wie der Grenzregion voraus, an dem sich türkische Artillerie und Kampfflugzeuge beteiligen.

Ankara: Mehr als 1.500 syrische "Rebellen" in der Region zusammengezogen

Laut der privaten Nachrichtenagentur Stratfor hat Ankara bereits mehr als 1.500 syrische "Rebellen" in der Region zusammengezogen, die sich an der Intervention neben türkischen Spezialeinheiten beteiligen sollen, um den formellen Einsatz türkischen Militärs zu begrenzen. Dabei handelt es sich um dieselben islamistischen Milizen, die auch im sogenannten Azaz-Korridor nördlich von Aleppo ihr Unwesen treiben.

Gegen wen sich die Intervention des türkischen Regimes eigentlich richtet, wurde schon bei den einleitenden Bombardements deutlich. Die kurdisch dominierten SDF meldeten, dass ihre Einheiten, die nördlich des jüngst vom Islamischen Staat befreiten Manbij stehen, ebenfalls unter Artilleriebeschuss des türkischen Militärs gerieten. Zudem wurde ein Attentat auf den Chef des Militärrates der SDF für Jalaburus verübt, für das kurdische Medien den türkischen Nachrichtendienst MIT verantwortlich machen.

Kampf gegen IS nur Vorwand

Der Kampf gegen den Islamischen Staat - dem die SDF bereits bei der Schlacht um Manbij das militärische Rückgrat brachen - bildet somit für Ankara nur den Vorwand, um gegen das emanzipatorische Projekt Rojava vorgehen zu können. Das Projekt eines geschlossenen Gebiets basisdemokratischer Selbstverwaltung in den kurdischen und arabischen Siedlungsräumen Nordsyriens, das sich entlang der türkischen Grenze konstituiert, soll durch die türkische Intervention zerschlagen werden.

Strategisches Ziel Ankaras ist es, einen möglichst tief auf syrisches Gebiet reichenden Keil in Nordsyrien zu treiben, um so die territoriale Vereinigung aller drei Kantone Rojavas zu verhindern, die von den SDF angestrebt werden. Die Pufferzone, die Ankara erobern will, soll von Jarabulus im Osten bis Azaz im Westen (Nördlich von Aleppo) reichen.

Damit nimmt die sich seit Wochen andeutende antikurdische Allianz der reaktionären Regionalmächte im Nahen Osten konkrete Gestalt an Teheran-Ankara-Damaskus: Unheilige Allianz. Während das syrische Regime durch die militärische Eskalation in Hasaka, im Osten Rojavas (Kurden und syrische Armee kämpfen um al-Hasaka), viele Kräfte der SDF bindet, geht nun Ankara im Westen der sich konstituierenden Selbstverwaltungsregion in die Offensive.

Bei den Kämpfen um Hasaka, die erst mit dem Abzug der Regimekräfte aus der Stadt beendet wurden, sollen kurdischen Angaben zufolge auch iranische Milizen und Verbände zum Einsatz gekommen sein. Berichte über sporadisch aufflammende Kämpfe zwischen kurdischen Verbänden und syrischen Regimekräften, sowie über Artilleriebeschuss und Bombardierungen kommen aus Aleppo und aus Afrin, dem isolierten westlichen Kanton Rojavas.

Geopolitischer Coup

Die türkische Intervention vollzieht sich somit in Übereinkunft mit dem Regimes in Damaskus und Teheran. Sie ist nur durch die Annäherung Erdogans an Assad ermöglicht worden, als der türkische Ministerpräsident Yilmaz kurz vor der Intervention dem syrischen Machthaber eine "Rolle" in einer Übergangsregierung zusprach - und somit die türkische Forderung nach dem Sturz Assads de facto fallenließ. Es sei die "Furcht Ankaras vor einem kurdischen Staat", die das türkische Regime zu diesem "Kompromiss über Assad" verleitete, kommentierte die russische Sputnik-News diese geopolitische Neuausrichtung Ankaras.

Dieser geopolitische Coup, bei dem das Regime in Ankara mit seinen geopolitischen Todfeinden kooperiert, stellt aber letztendlich einen wichtigen Punktsieg für den russischen Präsidenten Putin dar. Ohne die Widerannäherung zwischen Erdogan und seinem russischen Amtskollegen wäre eine türkische Invasion Syriens unmöglich gewesen.

Das monatelange Drängen der Türkei innerhalb der NATO auf eine Intervention in Syrien scheiterte letztendlich an den NATO-Partnern, die keinen Konflikt mit Moskau riskieren wollten. Die Weigerung des Kremls war entscheidend, solange die Spannungen zwischen Ankara und Moskau fortbestanden, da bei einer Intervention eine unkontrollierbare militärische Eskalation drohte.

Erst mit der türkisch-russischen Annäherung, bei der Ankara seine ehrgeizigen regionalen Expansionspläne vorerst zu Grabe tragen musste, gab der Kreml grünes Licht für die antikurdische Intervention der Türkei. Der Kampf gegen die Bemühungen, in Rojava eine basisdemokratische Selbstverwaltung aufzubauen, stellt den gemeinsamen Nenner dar, auf dem sich alle verfeindeten reaktionären Regimes der Region einigen können.

Putin: "kluger, rücksichtsloser Imperialist"

Damit hat Putin wieder mal unter Beweis gestellt, was für ein kluger, rücksichtsloser Imperialist er ist. Die Herauslösung der Türkei aus der NATO, aus dem westlichen Bündnissystem wird vom Kreml zumindest befördert, indem man die Kurden Nordsyriens der türkischen Militärmaschinerie zum Fraß vorwirft.

Der Kreml kann somit sein geopolitisches Gewicht in der Region erhöhen, indem Entscheidungen über Interventionen nicht mehr nur in Washington, sondern auch in Moskau gefällt werden müssen. Moskau ist beständig bemüht, den steigenden internationalen Einfluss unter Beweis zu stellen, was ja auch zu den Verstimmungen im Teheran führte, als Russland die Nutzung iranischer Flughäfen für Bombardierungen in Syrien öffentlich machte - sehr zum Ärger der iranischen Führung.

Selbstverständlich unterstützen nun die USA - die zuvor eine türkische Intervention in Syrien im Rahmen der NATO ablehnten - den Einmarsch der türkischen Streitkräfte samt Milizanhang, der zuvor mit einem Verweis auf die russische Opposition abgelehnt wurde. Dennoch dürfte die türkische Intervention in ihrer ersten Phase nicht sofort zu einem totalen Krieg gegen Rojava führen.

Der hegemoniale Abstieg der USA

Zuerst dürfte Ankara die angesprochene Pufferzone sichern, um eine Ausgangsbasis für spätere militärische Abenteuer zu haben. Das liegt vor allem daran, dass die USA die SDF noch für die Befreiung Raqqas, der inoffiziellen Hauptstadt des Islamischen Staates, brauchen. Deswegen dürften die SDF vor allem darauf drängen, zuerst gen Westen, Richtung Afrin und Al Bab, vorzustoßen. Die Vereinigung der drei Kantone Rojavas müsste unverzüglich eingeleitet werden, da sich das Zeitfenster rasch schließt.

Mit dem Einmarsch der Türkei bei Jarabulus nimmt das nahezu unentwirrbare geopolitische Interessensdickicht in Syrien, das ohnehin von schwindelerregenden Allianzverschiebungen gekennzeichnet ist, weiter an Komplexität zu. Etliche Akteure kooperieren und bekämpfen sich hier zugleich, wie es etwa im Fall des Erdogan- und des Assad-Regimes ist. Die Türkei fungiert immer noch als Transitland für Dschihadisten, die Russlands Luftwaffe etwa in Aleppo bombardiert, während zugleich türkisches Militär samt Dschihadistenanhang mit Zustimmung Moskaus in Nordsyrien einmarschiert.

Die Vereinigten Staaten unterstützen formell sowohl die SDF wie auch die türkische Militärintervention, die de facto die Vernichtung der SDF zum Ziel hat. Die Auseinandersetzungen in der westlichen Allianz - insbesondere zwischen der Türkei und den USA (Ankara und Washington auf Kollisionskurs) - werden gespiegelt durch Spannungen im russischen Bündnissystem, wo Teheran einen russischen "Vertrauensverrat" beklagt.

Dieses komplexe, widerspruchsgeladene und hochexplosive Interessensgeflecht, das den gescheiterten Staat Syrien überwuchert, steht im krassen Gegensatz zu den geopolitischen Frontverläufen der vergangenen zwei Dekaden, die ja von der totalen Dominanz der USA geprägt waren. Die komplexen Frontverläufe in Syrien sind letztendlich eine Folge des voll einsetzenden hegemonialen Abstiegs der USA.

Dieser strategische Niedergang wird verstärkt durch das taktische Zeitfenster, dass der US-Wahlkampf den Gegenspielern Washingtons verschafft. Militärische Großabenteuer wird der scheidende US-Präsident Obama kaum noch suchen - weshalb viele Konkurrenten jetzt die Zeit sehen, Fakten zu schaffen, bevor die interventionsfreudige Hillary Clinton an die Macht kommt.

Neue multipolare Weltordnung: Lauter kleine "Möchtegern-USA"?

Syrien bietet somit einen Vorgeschmack auf eine "multipolare Weltordnung", in der die krisengeschüttelte kapitalistische Gesellschaftsunordnung nicht überwunden wurde: Lauter kleine Möchtegern-USA wie die Türkei, Russland, Iran oder Saudi Arabien gehen daran, die nun gegebene geopolitische Ellbogenfreiheit zu nutzen, auf der weltpolitischen Bühne genauso rücksichtslos und massenmörderisch bei der Verfolgung ihrer "Interessen" zu agieren, wie es Jahrzehnte zuvor nur die US-Militärmaschinerie konnte.

Der in Deutschland beliebte Antiamerikanismus (Projektionsfläche Amerika), bei dem die USA als Hort allen Übels gebrandmarkt werden, dementiert sich in Syrien gerade selbst. Nicht Amerika ist das Problem, sondern der in Agonie übergehende Kapitalismus, der aufgrund eskalierender innerer Widersprüche die zerrütteten Staatsmonster in einen verheerenden Großkrieg zu treiben droht. Die Krise treibt alle neoimperialen Großmächte in die Konfrontation - ob nun USA, Russland oder das erstarkende China, das sich ebenfalls in Syrien engagieren will.

Hier lassen sich historische Parallelen zu der Vorkriegszeit der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts ziehen, als die Weltwirtschaftskrise von 1929 dem Nationalismus, dem Faschismus und schließlich dem Zweiten Weltkrieg den Weg bereitete.

Allen Großmächten, allen geopolitischen "Subjekten" sitzt somit die Krise im Nacken - in Form von Schuldenbergen, exzessiven ökonomischen Ungleichgewichten, Arbeitslosigkeit, Verelendung, Deindustrialisierung oder drohender ökonomischer Stagnation. Alle bemühen sich, die Krisenfolgen vermittels Expansion auf andere Subjekte abzuwälzen, was die Gefahr eines verheerenden Großkrieges rasch anschwellen lässt.

Syrien könnte sich aufgrund der skizzierten komplexen geopolitischen Interessensverflechtung somit zu einem Brandherd entwickeln, der solch einen Großkonflikt auslöst. Der große, fundamentale Unterschied zu den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts besteht aber selbstverständlich darin, dass das inzwischen akkumulierte spätkapitalistische Vernichtungspotenzial einen solchen Großkrieg zu einer akuten Bedrohung des gesamten menschlichen Zivilisationsprozesses macht.