Die Krise der heutigen Ökonomie

Die Neoliberalen planen ihren Siegeszug

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs die Produktion so rasant, dass seither von einem "Wirtschaftswunder" gesprochen wird. Zwischen 1950 und 1973 nahm das Pro-Kopf-Einkommen in Westeuropa jährlich um 4,1 Prozent zu. In Westdeutschland waren es sogar 5 Prozent - und in Japan sensationelle 8,1 Prozent. Nur die US-Wirtschaft wuchs etwas langsamer und erreichte ein jährliches Plus von 2,5 Prozent pro Kopf. Aber auch diese Wachstumsrate war historisch einmalig.

Ein Grund, warum es zu diesem Aufschwung kam, war ganz banal: Die enormen Kriegsschäden mussten beseitigt werden. Es war kein "Wirtschaftswunder", dass ausgerechnet Japan und Westdeutschland besonders stark wuchsen, denn beide Länder waren in großen Teilen zerstört. Im Zweiten Weltkrieg wurden etwa ein Drittel aller Wohnungen in Deutschland zerbombt; das Schienen- und Verkehrsnetz, die Wasser-, Strom- und Telefonleitungen waren stark beschädigt. Zudem mussten Millionen von Flüchtlingen versorgt werden. Diese immense Nachfrage sorgte automatisch für einen Boom.

Nicht minder wichtig: Weltweit gab es einen Rückstau an Erfindungen, die endlich ihren Weg in die Praxis fanden. Seit 1914 waren viele neue Produkte entwickelt worden, die allerdings bisher nur in kleinen Stückzahlen oder gar nicht hergestellt wurden, weil zwei Weltkriege und eine Weltwirtschaftskrise gestört hatten. Doch jetzt wurde alles in Waren umgesetzt, was die Technik hergab. Dazu gehörten unter anderem: (Farb-)Fernsehen, Kleinbildkameras, Haartrockner, Toaster, Plastik aller Art, Nylon und Kühlschränke. Die vollautomatische Waschmaschine kam ab 1946 hinzu, die zum Sinnbild des neuen Komforts wurde. Frisch erfunden waren auch die Düsenjets, mit denen man zunehmend billiger in den Urlaub fliegen konnte. Autos gab es zwar schon seit der Jahrhundertwende, aber in Europa konnten sich die meisten Familien erst jetzt ein Privatgefährt leisten. Die westliche Welt stürzte sich in einen Konsumrausch, der zwei Jahrzehnte lang für Vollbeschäftigung sorgte.

Der Massenkonsum war nur möglich, weil die Reallöhne mindestens so schnell stiegen wie die Produktivität: Der technische Fortschritt und das Wachstum kamen diesmal auch bei den Beschäftigten an, nicht nur bei den Unternehmern. Da Vollbeschäftigung herrschte, mussten die Firmen hohe Gehälter bieten, um ihre Beschäftigten zu halten. Im Durchschnitt legten die deutschen Reallöhne zwischen 1950 und 1970 jährlich um 7 Prozent zu. Steigende Personalkosten machten die Firmen jedoch nicht etwa ärmer - sondern so reich wie nie zuvor. Nur weil die Konsumnachfrage der Beschäftigten zunahm, konnte die Produktion ständig ausgeweitet werden. "Das Wirtschaftswunder war ein Lohnwunder", wie es der Ökonom Heiner Flassbeck zusammenfasst.

Dies ist ein Auszug aus Ulrike Herrmanns neuem Buch "Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung", das auch als eBook am 1. September im Westend Verlag erscheint. Darin geht die Autorin den Fragen nach: Warum kommt es zu Finanzkrisen? Warum sind die Reichen reich und die Armen arm? Wie funktioniert Geld? Woher kommt Wachstum? Schon Kinder stellen diese Fragen - aber die Ökonomen können sie nicht beantworten. Ihre theoretischen Modelle haben mit dem realen Kapitalismus meist nichts zu tun. Leider kosten die Irrtümer der Ökonomen nicht nur Milliarden, sondern sogar Menschenleben. Wer verstehen will, wie die Wirtschaft tatsächlich funktioniert, muss die Klassiker kennen: Adam Smith, Karl Marx und Maynard Keynes. Sie werden an den Universitäten kaum, falsch oder gar nicht mehr gelehrt. Dabei haben diese Theoretiker die besten Antworten gegeben - man muss sie neu entdecken.

Die Betriebe konnten sich so ungestört entwickeln, weil die Finanzmärkte weitgehend brachlagen. Derivate waren fast gänzlich verboten, und auch mit Devisen ließ sich nicht mehr spekulieren, seitdem das Abkommen von Bretton Woods galt. Kapitalanleger mussten also in die Unternehmen investieren, wenn sie Renditen erzielen wollten. Für die Firmen war es daher billig, Kredite aufzunehmen. In der Nachkriegszeit herrschte der Realkapitalismus - nicht der Finanzkapitalismus. Selbst an der Wall Street war damals wenig los. Zwar konnten die Banken neue Aktien und Anleihen platzieren, wenn Unternehmen expandieren wollten, und man konnte mit diesen Papieren auch ein bisschen handeln. Aber das Geschäft war mau: "Im ganzen Jahr 1949 wurden nur 272 Millionen Aktien gehandelt, das würde heute noch nicht einmal für einen Vormittag reichen", erinnert sich der Milliardär Henry Kaufman an seine frühe Zeit an der Wall Street. Den Unternehmen ging es also bestens, und trotzdem waren die Einkommen gleichmäßiger verteilt als je zuvor.

In Nordamerika und in Westeuropa entstand eine breite, prosperierende Mittelschicht. Der Nobelpreisträger Paul Krugman, 1953 geboren, erinnert sich nostalgisch an seine Kindheit, als Amerika zumindest für die Weißen ein Land der Gleichberechtigten war: "Natürlich lebte so mancher reiche Geschäftsmann oder Erbe weit besser als der durchschnittliche Amerikaner. Aber … wer als wohlhabend galt, ließ sich einmal pro Woche eine Putzfrau kommen und verbrachte den Sommerurlaub in Europa. Aber auch diese Wohlhabenden schickten ihre Kinder in öffentliche Schulen und fuhren im eigenen Auto zur Arbeit wie jeder andere auch."

Diese Zeiten sind bekanntlich längst vorbei. In allen Industrieländern steigt die Ungleichheit wieder. Besonders ausgeprägt ist sie in Deutschland: Das reichste Hundertstel besitzt hier etwa 30 Prozent des Volksvermögens. In keinem anderen Staat in Europa - außer Österreich - ist das Vermögen so ungleich verteilt.

Dennoch wäre es irreführend, die Nachkriegszeit als reine Idylle zu beschreiben. Obwohl es den meisten Menschen besser ging als je zuvor, waren sie der Politik nicht etwa dankbar - sondern viele Bürger misstrauten dem Staat. Wahrscheinlich hat niemand diese untergründigen Spannungen so früh erspürt wie der spätere US Präsident Ronald Reagan, der ein überaus begabter Pragmatiker der Macht war.

Reagans Lebensweg dokumentiert geradezu perfekt, wie sich die Stimmungen veränderten: Er kam zwar als konservativer Republikaner an die Macht, begonnen hatte er aber als linker Demokrat. Als er noch ein kleiner Filmstar in Hollywood war, langweilte er auf Partys die anderen Gäste, indem er endlos über die Vorzüge des New Deal referierte. Seine weiteren Lieblingsthemen waren: die Rechte der Gewerkschaften, die Bedeutung von Tarifverträgen sowie die Versorgung der Veteranen des Zweiten Weltkriegs.

Die politische Wende kam langsam: Als Reagan zu alt für Heldenrollen war, heuerte er 1954 beim Konzern General Electrics an - und entdeckte sein Talent als Redner. Denn er sollte nicht nur Toaster oder Küchenherde im Fernsehen anpreisen, sondern einmal im Jahr auch alle 139 Fabriken des Unternehmens besuchen und dort Ansprachen halten. Der Konzern wollte seine Beschäftigten bei Laune halten, indem sie einen echten Filmstar erleben durften.

Bei seinen Fabrikbesuchen erzählte Reagan anfangs, was er auch schon auf den Hollywood-Partys zum Besten gegeben hatte: Er redete über die "Freude des Gebens" und die "Segnungen der Demokratie". Doch bald stellte er fest, dass ein anderes Thema viel besser ankam: die Gefahren von "big government". Wann immer er darüber sprach, dass die Regierung "zu groß, zu mächtig und zu fordernd" sei, wollten die Zuhörer hinterher ein Autogramm. Damals entwickelte er jene Haltung, die ihn 1980 schließlich ins Weiße Haus tragen würde: "Der Staat ist nicht die Lösung für unser Problem, der Staat ist das Problem."

Wie Reagan schon Mitte der 1950er Jahre bei seinen Fabrikbesuchen wahrnahm, glaubten selbst viele Arbeiter, dass der Staat nur störte und ein "freier Markt" sie reicher machen würde. Der Siegeszug der Neoliberalen begann also früh.

Der Begriff "neoliberal" wurde 1938 geprägt. Damals fanden sich marktradikale Ökonomen zu einer Konferenz in Paris zusammen, um zu debattieren, wie man den Liberalismus erneuern könnte. 1947 griff Friedrich August von Hayek dieses Projekt wieder auf und lud 36 Gleichgesinnte an den Genfer See ein, was großzügig von der erzkonservativen US-Stiftung "William Volker Fund" gesponsert wurde. Da das Treffen in der Nähe des Berges Mont Pèlerin stattfand, nannte sich die Gruppe fortan "Mont Pèlerin Society". Ihr erklärtes Ziel war, künftige Generationen von den Segnungen der "freien Marktwirtschaft" zu überzeugen und den Keynesianismus zu bekämpfen.

Politisch unterschied man sich also nicht von der Neoklassik, doch das theoretische Fundament war zum Teil anders: Hayek ging explizit nicht von der Rationalität eines Homo oeconomicus aus, und der wohl berühmteste Neoliberale, Milton Friedman, hielt unter anderem die neoklassische Tendenz zur Mathematisierung für verfehlt. Da die politischen Ansichten von Neoklassikern und Neoliberalen jedoch sehr ähnlich sind, setzte sich in der Alltagssprache "neoliberal" für beide Richtungen durch.

Während die Neoliberalen ihren weltweiten Siegeszug planten, gab es ein Land, das sie gar nicht erst erobern mussten. Denn von Anfang an waren sie dort an der Macht: Westdeutschland. Bis heute glauben viele Bundesbürger, sie würden in einer "sozialen Marktwirtschaft" leben. Doch die deutsche Geschichte ist komplizierter.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.