Von Vergewaltigungen und Fortpflanzungsmissbrauch

Wann wird aus einvernehmlichem Sex eine Vergewaltigung? - Eine Frage, die auch beim Fortpflanzungsmissbrauch eine zentrale Rolle spielt

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Sex und Handyvideos

Im Fall Gina Lisa L. war eine der vielen Fragen: Worauf bezieht sich ihr Nein? Auf dem in der ersten Anzeige als einvernehmlich bezeichneten Geschlechtsverkehr? Auf das Handyvideo, das ggf. ganz oder teilweise gegen ihren Willen angefertigt wurde? Oder wird, wenn gegen ihren Willen der Geschlechtsverkehr gefilmt wird, ab diesem Moment der Geschlechtsverkehr automatisch zur Vergewaltigung weil die Zustimmung zum Geschlechtsverkehr nur unter der Prämisse stattfand, dass nicht weitergefilmt bzw. der Film gelöscht werden würde?

Fragen, die bei der Definition, wann eine Vergewaltigung vorliegt, nicht trivial sind. Gerade die letzte der Fragen scheint für viele einfach zu beantworten: Sex ohne Filmen ist erlaubt, Sex mit Filmen nicht, somit liegt eine Vergewaltigung vor. Doch so simpel wie es scheint ist es nicht. Dies wird deutlich, wenn die Bedingung "kein Filmen" durch eine andere ersetzt wird. Hierbei ist wichtig, dass eine solche Bedingung auch eine Eigenschaft einer der beiden Sexualpartner oder eine bestimmte Praktik sowie die Art und Weise, wie der Geschlechtsverkehr vollzogen wird, sein könnte. Wenn sich zwei Menschen treffen, um miteinander Analsex zu praktizieren, dies nicht funktioniert und stattdessen Vaginalsex praktiziert wird - ist dies ggf. Vergewaltigung weil hierzu keine Absprache bestand? Was ist, wenn der gemeinsame Akt unter der Prämisse stattfindet, dass der Partner z.B. kein Vorbestrafter ist und sich später herausstellt, dass er vorbestraft ist?

Der letzte Fall, die Frage ob eine vorausgesetzte Eigenschaft des Partners dazu führen kann, dass einvernehmlicher Geschlechtsverkehr im Nachhinein Vergewaltigung sein kann, auch im rechtlichen Sinne, war vor einiger Zeit in den Medien präsent.

Und ich dachte, du wärst...

Eine israelische Frau jüdischen Glaubens hatte einvernehmlichen Geschlechtsverkehr mit einem Mann, der sich als "Dudu" vorstellte, seiner Aussage nach sein Spitznahme seit der Kindheit. Er verschwieg der Frau, dass er bereits eine Ehefrau und Kinder hat. Die Frau ging davon aus, dass er an einer langfristigen Beziehung interessiert und jüdisch sei, weil "Dudu" ein gängiger jüdischer Spitzname ist. Der einvernehmliche Geschlechtsverkehr im Treppenhaus wurde jedoch später zur Vergewaltigung, als die Frau erfuhr, dass "Dudu" Palästinenser und kein Single ist. Möglich ist ein solcher Prozess in Israel, weil es dort den Tatbestand der "Vergewaltigung durch Betrug" gibt, den auch Spanien im Repertoire hat (allerdings hier nur im Zuge des Schutzes von Minderjährigen).

Aber wie weit sollte bei einem entsprechendem Straftatbestand die Betrugsdefinition gehen? Reichen vorgespielte Liebe, verschwiegene Partner, fehlende Bereitschaft zur langfristigen Beziehung, vorgegaukelte monetäre Absicherungen? Oder werden alle einvernehmlichen Geschlechtsakte nachträglich zur Vergewaltigung, wenn sich herausstellt, dass der Partner ein Dieb, Mörder, Vergewaltiger, Schläger … ist? Dies würde die Vergewaltigungsdefinition stark erweitern.

In den USA gibt es in Bezug auf häusliche Gewalt eine Sonderform dieser, die auch im Bereich Vergewaltigung/sexuelle Gewalt angesiedelt, jedoch nicht einzeln strafbar ist - die "reproductional coercion".

Sabotierte Kondome, versteckte Pillen und die Angst vor dem Verlassenwerden

"Reproductional coercion" (auf die Reproduktion ausgerichteter Zwang) umfasst sowohl erzwungenes Schwangerwerden sowie erzwungene Abtreibungen und betrifft sowohl Männer als auch Frauen. Da es zum Bereich der "häuslichen Gewalt" zählt, ist der Gewaltbegriff hier wichtig, denn er umfasst neben der physischen auch die psychische Gewalt. Zu welchen Auswüchsen dies führt, lässt sich nachlesen, wenn bereits die Androhung, den Partner zu verlassen, sollte er nicht einer Schwangerschaft zustimmen / eine Schwangerschaft beenden, zur "reproductional coercion" zählen.

In "An Integrated Response to Intimate Partner Violence and Reproductive Coercion", einer vom Family Violence Prevention Fund (heute: Futures Without Violence) herausgegebenem Informationsschrift, werden auch Beispiele für den verbalen Druck bzw. verbalen Zwang genannt - z.B. das Versprechen, den anderen nie zu verlassen, wenn nur ein Baby da sei; die Androhung, ein Baby mit jemand anderem zu zeugen, wenn der Partner nicht zur Familienbildung zustimmt; die Suggestion, dass bei wirklicher Liebe natürlich einer Familie zugestimmt werden würde. "Futures without Violence", eine gemeinnützige US-amerikanische Organisation, setzt sich für ein Ende der Gewalt gegenüber Frauen und Kindern ein.

Die gesamte "reproductional coercion"-Thematik ist also eng auch mit der Furcht vor dem Verlassenwerden verbunden, die in vielen Beziehungen dazu führt, dass Zustimmung zu Dingen erfolgt, zu denen eigentlich einer der Partner nicht wirklich zustimmen möchte. Hier ist eine Diskussion um mehr Selbstvertrauen, soziale Absicherung und eine Abkehr vom "nur gemeinsam ist man glücklich"-Denken wichtig. Doch neben verbalem Druck und physischer Gewalt ist auch die Sabotage von Verhütungsmethoden ein Teil der "reproductional coercion", z.B. durch mutwillig beschädigte Kondome oder das Austauschen oder Verstecken von Antibabypillen. Auch hier stellt sich wieder die Frage, inwieweit das Überreden zum Geschlechtsverkehr, auch wenn die Pille gerade nicht auffindbar ist, Zwang ist, wenn keine Gewalt dabei im Spiel ist, und wie sich dies auf die Frage, wer wann und warum selbstbestimmt handelt oder nicht, auswirkt.

Auffällig ist, dass die Verhütungsmethoden, die beim Thema erwähnt werden, lediglich in Form von der Antibabypille und dem Kondom vorkommen. Obgleich es andere Möglichkeiten gibt, die auch ein Vergessen der Pille, einen Verlust der Wirksamkeit z.B. bei Einnahme von Antibiotika oder Durchfall bzw. Erbrechen und auch das Platzen von Kondomen usw. als Grund für eine ungewollte Schwangerschaft bei entsprechender Anwendung obsolet machen würden, spielen dabei keine Rolle. Dabei ist z.B. die Dreimonatsspritze durchaus eine Alternative, die die tägliche Einnahme von Tabletten zum möglichst gleichen Zeitpunkt nicht mehr voraussetzt und gerade auch die Sabotage schwieriger gestalten würde. Wobei anzumerken ist, dass eine Beziehung, in der Verhütungssabotage vorkommt, weniger einer neuen Verhütungsmethode bedarf als vielmehr einer Rekalibrierung oder Beendigung der Beziehung.

Würde die Überlegung, die angesichts der "Sex ja, aber kein Filmen dabei"-Diskussion aufkam, weitergeführt werden, so wäre jede dieser Verhütungssabotagen gleichzeitig eine Vergewaltigung, da ja der Partner keinem Sex mit dem durch die Sabotage erhöhten Risiko einer Schwangerschaft zugestimmt hat. Männer, die Vater werden, weil sie sich auf die Aussage "ich nehme die Pille" verlassen haben, könnten ebenso die werdende Mutter wegen Vergewaltigung belangen wie auch Frauen, die sich auf intakte Kondome verließen. Auch Risikosex, bei dem ein Partner dem anderen suggeriert, es werde schon nichts passieren, würde dann als Vergewaltigung zählen - ob mit einer solchen Ausweitung des Vergewaltigungsbegriffes jedoch irgendwem gedient würde, bleibt fraglich.

Es würde eher weiter die Mündigkeit der Menschen untergraben, wenn davon ausgegangen wird, dass jemand, der einem "oh keine Sorge, am 1. des Monats kann gar nichts passieren" glaubt und deshalb schwanger wird, den anderen wegen Vergewaltigung belangen kann anstatt einfach zu überlegen, inwieweit er seine Biologiekenntnisse erweitern sollte. Sofern es um junge Frauen geht, wäre auch hier Bildung, schon von sehr jungen Jahren an, sinnvoll, um mit Mythen wie "beim ersten Mal passiert nie was" aufzuräumen. Doch Leichtgläubigkeit und manchmal auch schmerzhaften Erfahrungen durch Verschärfungen des Strafrechtes zu begegnen, ersetzt Bildung und Mündigkeit durch gesetzliche Abschreckung, es ersetzt die Eigenverantwortung durch "Vater und Mutter Staat". Einer solchen Tendenz zum Babysitterstaat sollte nicht wirklich Vorschub geleistet werden.