Bayern: Übertrittsregelung für Gymnasium verfassungswidrig?

Klassenzimmer einer privaten Grundschule in Neumarkt/Oberpfalz. Bild: DALIBRI/CC BY-SA 3.0

Ein Gutachten der Universität Bochum sieht durch die Auslese nach Leistung eine Einschränkung der Entscheidungsfreiheit der Eltern

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Ab nächster Woche klingelt wieder der Wecker. Auch bei den Nachzüglern, Baden-Württemberg und Bayern, gehen die Sommerferien zu Ende. Seit einiger Zeit schon haben Medien die Eltern auf den Schulanfang vorbereitet. Der Spiegel brachte Ende August eine Titelgeschichte darüber, wie wenig aussagekräftig Noten für beruflichen Erfolg sind.

"Lasst die Kinder frei. Noten sind nicht alles", wurde den Eltern zugerufen (illustriert mit dem Bild eines Kindes auf einer Schaukel, deren Halterungen man lieber nicht lösen würde, wie es das Bild auf den ersten Blick suggeriert). Den Ruf gepeinigter Eltern in Bayern hat die dortige SPD, die seit Franz-Josef Strauß ein Schattendasein fristet, schon länger vernommen. Rechtzeitig zum bevorstehenden Schulanfang kommt ein von ihr in Auftrag gegebenes Gutachten in die Nachrichten, das unter Eltern für Gesprächsstoff sorgen wird.

Es erklärt die Regelung für verfassungswidrig, die in Bayern für den Besuch des Gymnasiums vorgesehen ist: die "verbindliche Übertrittsempfehlung". Schüler der vierten Klasse Grundschule müssen in drei Fächern Deutsch, Mathematik, Heimat- und Sachkunde im Übertrittszeugnis mindestens den Gesamtdurchschnitt von 2,33 erreichen, um aufs Gymnasium zu gehen. Mit 2,66 kann ein Kind zur Realschule übertreten.

Das hat Härten zur Folge. Ein vom Abliefern guter Prüfungsleistungen bestimmtes Dreiviertel-Schuljahr lang bis zum Mai schreiben die bayrischen Grundschüler eine Probe in der Woche. Der Ehrgeiz der Eltern ist kein unwichtiges Zahnrad in diesem Räderwerk, das selbst guten Schülern an die Nerven geht.

SPD: "Unfassbarer Stress"

Lehrer geben zu Anfang des Schuljahres Eltern den Tipp, der dem Spiegel-Titel sehr nahe kommt: Lasst doch bitte locker. Was in den Wind gesprochen ist. Denn jedes Jahr gibt es Stoff für wiederkehrende Geschichten darüber, wie der Notendruck Schüler, Eltern und Lehrer verrückt macht.

Von unfassbaren Stress in den Familien spricht auch der bayerische SPD-Politiker Martin Güll. Er ist Vorsitzender des Bildungsausschusses des Landtags. Er geht davon aus, dass das Rechtsgutachten vom Institut für Bildungsforschung und Bildungsrecht der Universität Bochum dazu führt, dass Eltern "bei Bedarf auch rechtlich gegen die gängige Praxis vorgehen".

Autor des Gutachtens ist der Lehrstuhlinhaber für öffentliches Recht und Europarecht an der Ruhruniversität, Wolfram Cremer. Seiner Auffassung nach, die er am Dienstag dem bayerischen Landtag bekannt machte, widerspricht die auf Noten basierende verbindliche Übertrittsempfehlung den Rechten der Eltern im Grundgesetz und dem Diskriminierungsverbot.

Noten ungeeignet für Aussagen über die Eignung für weiterführende Schulen

Der wissenschaftliche Direktor des Instituts für Bildungsforschung informierte die Abgeordneten über den Stand der Forschung, der erwiesen habe, "dass Noten nie objektiv und daher ungeeignet sind, um Aussagen über die Eignung für weiterführende Schulen zu treffen" (SZ).

Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von 1972 habe den Gesetzgeber dazu verpflichtet, bildungspolitische Entscheidungen auf Grundlage der Ergebnisse der Bildungsforschung zu treffen. Würde diese Pflicht vom Gesetzgeber ignoriert, so sei dies verfassungswidrig.

Im Gutachten heißt es laut BR zum Recht auf Entscheidungsfreiheit der Eltern:

Die Einschränkung dieses Rechts (...) unter dem Etikett einer Auslese nach Leistung ist unter keinem Gesichtspunkt verfassungsrechtlich gerechtfertigt.

BR

Darüber hinaus führte Cremer an, dass die Hälfte der Grundschüler, die in den Jahren 2012 bis 2014 den Probeunterricht am Gymnasium besuchten, von der Schule übernommen wurden, obwohl sie den nötigen Schnitt im Übertrittszeugnis nicht erreicht hatten.

Laut Cremer werden Schüler aus bildungsfernen Milieus bei gleicher Leistung oft schlechter benotet. Bekannt ist, dass Kinder aus einem selbstbewussten akademischen Milieu sehr viel häufiger das Engagement ihrer Eltern bei einer als zu schlecht empfundenen Bewertung hinter sich haben als Kinder aus anderen Milieus. Selbst wenn Lehrer nicht sofort reagieren, zeigt dies nicht selten Wirkung.

Dieses Phänomen zeigt sich laut Cremer auch bei der Gymnasialempfehlung. Lehrkräfte würden in Gesprächen immer wieder einräumen, "dass sie möglichen Auseinandersetzungen mit ehrgeizigeren Eltern über bevorstehende Übergangsempfehlungen ausweichen, indem sie im Vorhinein den jeweiligen Kindern einfach bessere Noten geben".

Anforderungen zu hoch

Pikant ist, dass Cremer auch die Anforderungen in den drei Fächern Deutsch, Mathematik und Heimat- und Sachkunde als so hoch ansetzt, "dass die Wahlfreiheit der Eltern hinsichtlich des Bildungswegs ihrer Kinder beschränkt sei".

Damit berührt er eine seit längerem schwelende Diskussion über die Qualität der Schulbildung, bei der eine Seite bemängelt, dass die Leistungsanforderung zugunsten von Schülern immer weiter aus politischen Gründen zurückgeschraubt würden. Die bayerische Regierung hält viel darauf, dass sie eben diesen Weg nicht geht.

Laut BR-Bericht reagierte das Kultusministerium gelassen auf die Vorhaltungen. Sie verweist auf ein Urteil des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs von 2014, wonach die Übertrittsregelung verfassungskonform sei. Damals urteilte der Verfassungsgerichtshof nach einer Popularklage. Eine solche müsste die SPD nun auch anstrengen, um dagegen zu halten. Oder sie überlässt es nun den Eltern, mit dem Gutachten im Rücken vor Gericht zu ziehen und ihre Einzelfälle durchzufechten.