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Lückenpresse - Das Ende des Journalismus, wie wir ihn kannten

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Die typische "Tagesschau" sieht so aus: Auf Platz eins steht ein Krisentreffen der Koalitionsspitzen in Berlin; schwarze Karossen fahren in eine Tiefgarage, Politiker laufen wie zufällig durchs Bild und - Schnitt - posieren plötzlich vor der Kamera, um ein Statement abzugeben, nie länger als zwanzig oder dreißig Sekunden.

Zum Schluss des Aufmacher-Beitrags tritt der Autor selbst ins Bild, gibt eine kommentierende Einschätzung ab. Seine Quintessenz: Die Koalition sei in einer schwierigen Phase und man müsse die weitere Entwicklung abwarten. Das war die Spitzennachricht des Tages. Es folgen: der Besuch des Dalai Lama, das Treffen der EU-Finanzminister (mit Gruppenbild bei schönem Wetter), die Eröffnung der Grünen Woche samt Landwirtschaftsminister, der etwas zu den Nöten der Milchbauern sagt.

Wie immer gibt es gute und schlechte Nachrichten. Gut: Die Bundesregierung hat neue Kita-Plätze geschaffen; schlecht: Einem Landesminister wird Korruption vorgeworfen. Dann: Die fünf Weisen legen ihr Jahresgutachten vor, der Verfassungsschutz einen Bericht, die Deutsche Bank eine Bilanz. Dazu passen die neuesten Konjunkturdaten. Über eine kontrovers aufgenommene Studie zum Rechtsextremismus wird ebenso berichtet wie über die Regionalwahlen in Italien und den verheerenden Erdrutsch in Vorarlberg. Nicht fehlen darf der Sport: Deutschland holt Gold im Biathlon, und Jogi Löw nominiert seinen Kader. Die Börsenkurse. Das Wetter von morgen.

Bin ich ungerecht? Zeichne ich ein Zerrbild? Mittwochs und samstags gibt es zusätzlich noch die Lottozahlen - stets mit dem obligatorischen Hinweis: "Diese Angaben sind, wie immer, ohne Gewähr." Zuweilen frage ich mich, ob diese Rückversicherungsformel sich nur auf die Gewinnzahlen oder auf die ganze Sendung bezieht.

Die "Tagesschau" hat etwas Beruhigendes, um nicht zu sagen Einschläferndes. Sie vermittelt die Botschaft, das Gefühl: Wie gestern und vorgestern lief auch der heutige Tag im Wesentlichen normal ab. Hier und da gibt es Probleme, aber: Nach den uns vorliegenden Informationen sieht es nicht so aus, als gerate die Welt aus den Fugen. Jedermann kann die nachfolgenden Sendungen guten Gewissens und entspannt genießen.

Selbst wenn etwas Spektakuläres, Unvorhergesehenes geschieht, ein schwerer Terroranschlag zum Beispiel, ändert sich an der Routine wenig. Man widmet dem Top-Ereignis des Tages die ersten fünf Minuten der Sendung - natürlich nur, wenn der Anschlag "bei uns" stattgefunden hat; vergleichbare Anschläge in Syrien oder dem Irak gelten hingegen als normal, sind lediglich more of the same. Sind die fünf Minuten vorbei, kommt der Hinweis: "Zu dem Anschlag in XY sendet das Erste auch einen 'Brennpunkt' im Anschluss an diese 'Tagesschau'." Und selbstverständlich ist da noch das ständig aktualisierte Informationsangebot auf "tagesschau.de".

Ein Auszug aus dem Buch Lückenpresse - Das Ende des Journalismus, wie wir ihn kannten von Ulrich Teusch, das diese Woche im Westend Verlag erscheint. Teusch zeigt darin die Gründe für die Vertrauenskrise der Medien, etwa die Unterdrückung wesentlicher Informationen und das Messen mit zweierlei Maß. Beide Defizite sind in unserem Mediensystem strukturell verankert. Und wenn sich daran nichts ändert, so Teusch, wird sich das Siechtum der Mainstreammedien fortsetzen.

Wie schafft es eine Nachricht in die "Tagesschau"?

Greifen wir eine Meldung aus unserer eben geschilderten fiktiven Sendung heraus, die Eröffnung der Grünen Woche. Ein fester Termin, jedes Jahr das Gleiche. Der Nachrichtenwert ist eher bescheiden. Es gibt an diesem Tag zweifellos Wichtigeres. Dennoch führt für die Redaktion kein Weg an der Grünen Woche vorbei. Sie ist fest gebucht. Es kommt nicht in Frage, die Sache einfach zu übergehen oder mit einer dürren Meldung abzutun ("In Berlin wurde, wie jedes Jahr um diese Zeit, die Grüne Woche eröffnet"). Die Grüne Woche ist ein Nachrichtenritual.

Nicht anders verhält es sich, wenn der Bundespräsident einen Kranz am Mahnmal für den Unbekannten Soldaten niederlegt und nachdenkliche Worte über die Schrecken der Vergangenheit verliert und über unser Glück, in Frieden leben zu dürfen. Oder wenn er an einer Gedenkveranstaltung zum runden Jahrestag der Berliner Luftbrücke teilnimmt oder seine Weihnachtsansprache hält.

Oft werden Meinungsäußerungen als Nachrichten verkauft, und auch hier beobachten wir Rituale, oder besser: Hierarchien. Alle Bundespolitiker geben Presseerklärungen heraus, twittern, posten etwas auf Facebook, gewähren Interviews. Aber Frau Merkel oder Herr Gabriel haben bessere Chancen auf Verbreitung ihrer Meinungen als die notorischen Hinterbänkler. Dabei spielt es keine besondere Rolle, ob sie etwas wirklich Neues, etwas mit Nachrichtenwert verkünden. Frau Merkel kann sagen, was sie schon x-mal gesagt hat: Im Nachrichtenjargon "bekräftigt" sie ihre Überzeugung. Auch Gabriel findet Aufmerksamkeit, wenn er etwas "fordert", was er schon hundertmal gefordert hat. Für viele andere, weniger bekannte Politiker ist es schwieriger durchzudringen, selbst dann, wenn ihre Mitteilungen Substanz haben. Einige von ihnen - und ich denke da nicht nur an "Rechtspopulisten" - wissen sich zu helfen. Um sich Gehör zu verschaffen, greifen sie zur Provokation.

Ein wahrer Virtuose auf diesem Feld ist der US-Amerikaner Donald Trump. Seine Einlassungen, die Political Correctness bewusst verletzend und nicht selten mit den Tatsachen auf Kriegsfuß, werden von amerikanischen Medien begierig aufgegriffen. Sie wissen: Trump sells. Es ist ein Geschäft auf Gegenseitigkeit. Trump findet Aufmerksamkeit in den Medien, und die Medien profitieren von der Aufmerksamkeit, die sie Trump verschaffen (und verdanken). Auch in Deutschland gibt es Beispiele dieser Art, auch wenn hier kleinere Brötchen gebacken werden und die Mechanismen schwerer zu erklären sind.

Als die rheinland-pfälzische FDP 1983 den Einzug ins Landesparlament verpasste, entschloss sich ihr damaliger Vorsitzender Rainer Brüderle, "außerparlamentarische Opposition" zu machen. Er wollte partout verhindern, dass seine Partei in Vergessenheit gerät. Und er erreichte sein Ziel, indem er buchstäblich eine Presseerklärung nach der anderen schrieb, ja, er entfachte ein regelrechtes Presseerklärungs-Bombardement. Und siehe da, er fand beachtlichen Widerhall in den Medien. Ständig tauchte Brüderle in den rheinland-pfälzischen Landesnachrichten auf, kritisierte dies, verlangte jenes. Brüderle zu Lande, zu Wasser und in der Luft, immer wieder. Er hielt sich und seine Partei im Gespräch. Bei der nächsten Wahl schaffte die FDP nicht nur den Wiedereinzug ins Parlament, sondern auch die Regierungsbeteiligung.

Rainer Brüderle brachte es im Laufe der Jahre sogar zum Bundeswirtschaftsminister. Auch hier das gleiche Bild: Was er in dieser herausgehobenen Funktion öffentlich erklärte, hatte nur selten einen erkennbaren Nachrichtenwert. Aber immerhin: Es stammte vom Wirtschaftsminister. Eine derart hohe Funktion - das könnte die Aufmerksamkeit der Medien erklären. Aber was ist mit seinen Verlautbarungen als außerparlamentarische Ein-Mann-Opposition in Rheinland-Pfalz? Ich habe damals in diesem Bundesland gelebt und unzählige Brüderle-Nachrichten gehört. Erinnern kann ich mich an keine.

Da klagen die Zeitungen über zu wenig Platz für all die Nachrichten und das Fernsehen über zu wenig Zeit - und dann bringen sie ausgerechnet einen wie Brüderle. Dagegen wäre ja gar nichts einzuwenden, wenn es nur dieser eine Brüderle wäre. Aber es gibt noch viele andere Brüderles (und Schwesterles), die sich in die Nachrichten drängen und von den journalistischen Schleusenwärtern nur allzu gern vorgelassen werden. Die Kollegen werden sagen, es sei nun einmal ihre Aufgabe, "die politische Debatte im Land abzubilden und zur Meinungsbildung beizutragen". Gewiss doch. Aber wenn die "Debatte" im Wesentlichen aus einem substanzlosen PR-Rauschen besteht, dann auch?

Viele dieser Politiker-Statements sind schlicht Füllmasse, Zeitverschwendung - aber eine mit gravierenden Folgen! Pseudo-Nachrichten bestimmen das Bild, echte Nachrichten fallen unter den Tisch. Das Schwache überlebt, das Starke wird aussortiert, als handele es sich um einen umgekehrten Darwinschen Selektionsprozess. Es ist geradezu paradox. Wäre man naiv, könnte man auf die Idee kommen, es seien Anfänger und Dilettanten, die bei "Tagesschau" und "heute" das Zepter führen. Offenbar haben sie Probleme, ihre Sendungen mit sinnvollem Inhalt zu füllen - und das trotz knappster Sendezeit und einem gigantischen Nachrichtenangebot. Aber nein, sie sind keine Dilettanten und Anfänger. Sie machen das mit voller Absicht.

Ein Fall, der mir nicht aus dem Kopf will: 2016 wurde die Fußballmannschaft von Leicester City zur allgemeinen Überraschung englischer Meister. Die "Tagesschau" widmete diesem Ereignis gefühlte drei Minuten. In einem Filmbericht aus Leicester sah man feiernde Fans, überwiegend stark alkoholisiert. Die wesentliche Information - also die Mitteilung, dass die Mannschaft neuer englischer Fußballmeister ist - hatte "Tagesschau"-Sprecher Jens Riewa in seinem anmoderierenden Nachrichtentext bereits verlesen; was man danach zu sehen und zu hören bekam, war weitestgehend informations- und sinnfrei, ein unaufhörliches "hier sind alle schier aus dem Häuschen, hier geht die Post ab, es ist der Wahnsinn".

Natürlich ist es eine gute Sache, wenn auch Leicester City einmal Fußballmeister wird. Aber müssen deshalb mit der Reporterin gleich sämtliche Pferde durchgehen? Sie berichtete mit einer derart aufgekratzten, hysterischen Stimme, dass es kaum zu ertragen war. Und sie schlug alle Ratschläge ihres großen Kollegen Hanns Joachim Friedrichs einfach in den Wind. Friedrichs hatte einst gemahnt, ein Journalist dürfe sich nicht mit einer Sache gemein machen, auch nicht mit einer guten. "Aber Hajo", hätte da die von Fans umringte Reporterin zurückgerufen, "hier geht es nicht einfach nur um eine gute Sache, die Sache hier ist echt toll, die ist so geil, das kannst du dir gar nicht vorstellen!"

Man könnte darüber lachen - wenn es denn lustig wäre. Aber es ist nicht lustig. Im Gegenteil. Statt des Beitrags über die trunkenen Leicester-Fans hätte die "Tagesschau" natürlich auch über den verheerenden und von den Medien in skandalöser Weise unterbelichteten Krieg im Jemen berichten können (Syrien und Jemen: Die Schwarz-Weiß-Logik des Kalten Kriegs). Sie hat es nicht getan. Und das ist kein purer Zufall.

Als der Leicester-Film endlich vorbei war, kam wieder Jens Riewa ins Bild, hatte wohl den Beitrag auf seinem Kontrollmonitor verfolgt und lächelte in die Kamera, als wolle er sagen: "Wie schön! Sie sehen, meine Damen und Herren, es gibt auch gute Nachrichten."

Soll man das kritisieren? Soll man es kritisieren, nur weil es früher einmal anders war? Nur weil der legendäre "Tagesschau"-Chefsprecher Karl-Heinz Köpcke sich derlei nie erlaubt hätte? Ist es nicht schön, dass nun auch beim ARD-Nachrichten-Flaggschiff eine gewisse Lockerheit Einzug hält? Ein bisschen Boulevard? Wie bei RTL und SAT.1?

Warum macht Kleber aus dem "heute journal" eine Claus-Kleber-Show?

Noch lockerer geht es in den Nachrichtenmagazinen "Tagesthemen" und "heute journal" zu. Deren Moderatoren werden fürs Moderieren, also Mäßigen, bezahlt. Das erfordert Zurückhaltung, Bescheidenheit, Sachlichkeit, zumindest das Bemühen um Objektivität.

Aber wie langweilig ist das denn, sagt sich wohl Claus Kleber und kommentiert munter drauf los. Die berühmten W-Fragen (Wer? Wann? Was? Wie? Wo? Warum?) kommen da regelmäßig unter die Räder. Kleber agiert vielleicht in der ehrlichen Überzeugung, es sei seine Aufgabe, den Menschen da draußen im Lande eine gewisse Orientierung in dieser so unübersichtlichen Welt zu vermitteln. Doch seinen Orientierungsleistungen liegt ein scharf konturiertes Weltbild zugrunde. Wer ein anderes Weltbild bevorzugt, fühlt sich von ihm behelligt. "Ich finde es unverantwortlich", sagt Walter van Rossum, "der Mann müsste achtzig Abmahnungen pro Tag bekommen."1

Wenn Kleber seine Weltsicht unter die Leute bringen will, soll er doch von seinem Recht Gebrauch machen, als solche gekennzeichnete Kommentare zu sprechen. Warum macht er stattdessen aus dem "heute journal" eine Claus-Kleber-Show? Sind seine Urteile, Meinungen, Einschätzungen wirklich so viel wichtiger und beachtenswerter als die meines Nachbarn, mit dem ich am Gartenzaun zuweilen über Gott und die Welt plaudere?

Der Moderator Kleber würde womöglich erwidern, dass doch niemand gezwungen werde, ihm zuzuhören, dass es da doch eine Fernbedienung gebe, mit der man jederzeit um- oder abschalten könne. Das stimmt allerdings.