Der IS auf dem Weg nach Gaza

Die Sinai-Miliz Ansar Bayt al-Maqdis, zuvor Ansar Jerusalem (stets mit guten Beziehungen zu al-Qaida). Propagandamaterial, 2013.

Salafistische Dschihadisten werden zum Problem für die Hamas. Dabei hat die Organisation lange Zeit von ihnen profitiert

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Die Gesichter der Männer sind müde, die Oberkörper trotz der extremen Sommerhitze unter schmutzigen Pullovern verborgen, als Sie an einem Nachmittag Anfang September von Polizisten der Hamas einer Gruppe von örtlichen Journalisten vorgeführt werden. Dies seien die Männer, die vorgehabt hätten, einen örtlichen Ableger des "Islamischen Staats" zu gründen, sagt Ijad al Bozum , Sprecher des Innenministeriums der Hamas; auf frischer Tat habe man sie dabei ertappt, kurz hinter der ägyptischen Grenze.

Einer habe Geld, "mehrere Tausend Dollar", dabei gehabt, "um damit Leute zu bestechen"; ein anderer sei mit Waffen erwischt worden. Und alle hätten sie gestanden. Dann mussten die Männer einer nach dem anderem bestätigen, dass sie das Vorgeworfene getan haben, und dass sie es bereuen.

"Gaza ist sicher", sagt al Bozum wenig später am Telefon: "Wenn uns die Israelis in Ruhe lassen, dann können sie als Ausländer ohne Gefahr mitten in der Nacht auf die Straße gehen, ohne dass Sie jemand anrührt." Es ist ein Satz, den er in diesen Monaten immer wieder sagt, wenn er von ausländischen Journalisten gefragt wird: "Ist der Islamische Staat da?"

Denn ganz nah, jenseits der Grenze, in Ägypten, führt das dortige Militär bereits seit Jahren eine Krieg mit einer Gruppe, die sich einst unter dem Namen Ansar Bait al-Makdis mit ebenso großer Effizienz wie Rücksichtlosigkeit einen Namen unter den vielen großen und kleinen gewaltbereiten Gruppen im Nahen Osten gemacht hat. Im November 2014 schwor diese Gruppe dann dem "Islamischen Staat" die Treue und benannte sich in Wilajat Sinai, zu deutsch "Islamische Provinz Sinai", um (IS gewinnt wichtige Dschihadgruppe auf dem Sinai).

Die Sinai-Miliz Ansar Bayt al-Maqdis, zuvor Ansar Jerusalem (stets mit guten Beziehungen zu al-Qaida). Propagandamaterial, 2013.

Knapp vier Wochen später wurde dann ein Anschlag auf das französische Kulturzentrum in Gaza verübt; der erste in einer mittlerweile recht langen Serie von Angriffen gegen Einrichtungen und Funktionäre der Hamas, gegen Ausländer und gegen Israel. Und immer bekannten sich Gruppen dazu, die sich auf die Ideologie des "Islamischen Staats" beriefen. Die Antwort der Hamas dann stets: Es gebe keine Präsenz des Islamischen Staats in Gaza; "wir werden das mit allen Mitteln verhindern", sagte Sami Abu Zuhri, Sprecher der Hamas-Regierung, im vergangenen Dezember.

Radikaler als die Hamas

"Tatsächlich ist aber nur wenig geschehen," sagt General-Major Joaw Mordechai, Israels Koordinator für die Regierungsaktivitäten in den besetzten Gebieten und zuvor Befehlshaber über die Truppen im Süden Israels. Zuletzt nahm die Hamas im Sommer 2015 einige Personen fest, die sie mit dem "Islamischen Staat" in Verbindung brachte. Im Großen und Ganzen habe die Hamas aber sehr lange zugesehen, wie sich in Gaza eine "Gegenbewegung" gebildet habe, die sehr viel radikaler als die Hamas ist, und nun zur Gefahr für die Hamas selbst wird.

Denn die wenigen zuverlässigen Umfragen, die es aus dem Gazastreifen gibt, deuten darauf hin, dass der Kurs der Hamas rasant an Zustimmung verliert; gleichzeitig schwindet auch ihre Aura als Hüterin islamischer Werte. 10 Prozent der Befragten gaben Ende 2015 an, der "Islamische Staat" vertrete den "wahren Islam", und je jünger die Umfrageteilnehmer waren, desto höher war auch die Zustimmung.

Eine Zustimmung, die auch im persönlichen Gespräch sehr offen zum Ausdruck gebracht wird: In Trauben hängen vor allem junge Männer in den Internetcafés vor den Bildschirmen und schauen Propaganda-Videos des "Islamischen Staats". Nahezu schwärmerisch wird von dem gesprochen, was man als Erfolg des "Islamischen Staats" betrachtet: die Gebietsgewinne im Irak und in Syrien; die Anschläge in Paris und in Brüssel. Der "Islamische Staat" habe Ziel und Strategie, sagen diese jungen Männer und mancher fügt hinzu: "Und was haben wir? Die Hamas!"

Die Gleichung ist im Weltbild dieser Jugendlichen ganz einfach: Auf der einen Seite stehen jene Gruppen, die nichts anderes tun, als gegen einen Feind zu kämpfen. Auf der anderen Seite stehen jene, die mal kämpfen und dann mit dem Feind verhandeln. Bevor der "Islamische Staat" kam, haben diese Leute hier einmal gelernt, zu Hause, in der Schule, dass Israel zerstört werden muss, und es keinesfalls Verhandlungen mit Israel geben werden wird.

Sicher ist in solchen Momenten: Die Fatah, jene palästinensische Fraktion, die die palästinensische Autonomiebehörde in Ramallah dominiert, wird hier wohl auf absehbare Zeit keinen Fuß mehr fassen. So gibt es die Einheitsregierung, die im Juni 2014 kurz vor Kriegsbeginn gebildet worden war, zwar immer noch, doch im Gazastreifen hat sie nie ein Bein auf den Boden bekommen: Die Institutionen der Hamas-Regierung machen einfach so weiter, als gebe es die Regierung in Ramallah nicht.

So erklärt al-Bozum, Sprecher des Hamas-Innenministeriums, das Ministerium unterstehe dem Innenministerium der Einheitsregierung, und nennt den Innenminister Fathi Hamad, ein Hamas-Funktionär, der das Hamas-Ministerium bis 2014 leitete. Seitdem ist gemäß Koalitionsvertrag Regierungschef Rami Hamdallah gleichzeitig auch Innenminister.

Ein Regierungsmitarbeiter aus Ramallah, der in Gaza ausharrt, ein Mensch, der zu den wenigen Fatah-Funktionären gehört, die mit den Hamas-Leuten gut können, wird deutlicher:

Die Verhaftungen wurden nicht vorgenommen, weil man sich plötzlich an Dinge wie Rechtsstaat oder Gewaltmonopol erinnert hat. Die Hamas hat richtiggehend Angst vor dem Islamischen Staat und will ein Zeichen setzen.

Noch habe man es mit Kleingruppen zu tun, die zwar Anschläge verüben, aber ansonsten recht unorganisiert und nur über die Ideologie verbunden seien. Doch das ändere sich nun: Mehrere Kleinstgruppen schlossen sich zunächst zusammen und traten dann den Scheich Omar Hadid-Brigaden bei.

Die Omar Hadid-Brigaden, ein Ableger der Ansar Bait al-Makdis

Als diese nach einer Schlüsselfigur von Al-Qaida und dem "Islamischem Staat im Irak" benannte Gruppe im Juni 2015 sich erstmals im Gazastreifen zu Wort meldete, maßen ihr weder Israel noch die Hamas eine besondere Bedeutung bei - und das, obwohl Angehörige der Gruppe kurz zuvor eine Rakete auf Israel abgeschossen hatten.

Im Gazastreifen tauchen ständig neue militante Gruppierungen auf, bei denen es sich aber oftmals um kleine Grüppchen, oft aus dem Umfeld einer der beiden großen Kampfgruppen Islamischer Staat und Esssedin al Kassam-Brigaden (bewaffneter Flügel der Hamas) handelt, die unter dem Vorwand des bewaffneten Kampfes gegen Israel Forderungen durchsetzen wollen und damit auch durchaus Erfolg haben, wenn die Hamas gerade kein Interesse an einer Eskalation im Konflikt mit Israel hat, was nach dem Krieg lange Zeit durchgehend der Fall war: Die eigene Infrastruktur war so arg zerstört, die Stimmung in der Bevölkerung so schlecht, dass die Auswirkungen eines weiteren Krieges im Inneren nicht abschätzbar gewesen wären.

Gleichzeitig ging man aber auch nicht entschieden gegen solche Pseudo- oder Kleingruppen vor, denn im Hintergrund gibt es stets auch Familien, Freunde, Sympathisanten, die im Falle von Festnahmen auf den Straßen protestieren, was wiederum selbst in Gewalt ausarten kann. Dabei konnte man auf Israels Militär bauen, das ebenfalls keinen neuen Krieg wünschte und dessen Reaktion bislang ausgesprochen berechenbar war: Nach einem Raketenangriff ließ man sich stets einige Stunden Zeit und griff dann, begleitet von griffigen Regierungsstatements, längst geräumte Trainingslager der Hamas an. "Die Logik dahinter war, die Hamas zu warnen, ihr aber nicht die Fähigkeit zu nehmen, die öffentliche Ordnung aufrecht zu halten."

So hielt man die Hadid-Brigaden, deren Mitgliederzahl innerhalb eines Jahres konservativ geschätzt von anfangs 50 auf nun 500 angestiegen sein soll, zunächst für eine solche Pseudogruppe, bis Journalisten und Akademiker heraus fanden, dass es sich dabei um einen Ableger von Wilajat Sinai/Ansar Bait al-Makdis ( vgl. IS: Erst Sinai, dann Gaza?) handelt, wobei nach wie vor im Dunkeln ist, wie eng die Verbindungen sind - die ägyptische Gruppe handelt sehr weitgehend im Verborgenen; selbst die Anführer sind unbekannt. In Erscheinung treten die Gruppen nur, wenn ein Angriff verübt wird; auf der Sinai-Halbinsel starben bei solchen Angriffen seit Ende 2014 offiziell mindestens 1.318 Menschen.

Bei diesen Angriffen handelt es sich meist um Serien von Anschlägen, die oft nahezu zeitgleich ausgeführt werden. Auch vor der Internationalen Beobachtertruppe und ausländischen Touristen macht man keinen Halt mehr: Im Oktober 2015 wurde eine russische Passagiermaschine über der Halbinsel zum Absturz gebracht. Mehrmals wurden auch Posten der multinationalen Beobachtertruppe angegriffen.

"Unterstützung aus dem Ausland"

Zudem wendet Wilajat Sinai auch Terror-Methoden gegen die Zivilbevölkerung an: 2014 wurden mehrere Männer, denen die Kollaboration mit Israel und der ägyptischen Regierung vorgeworfen wurde, geköpft und ein Video der Morde über das Internet verbreitet. Sehr viel öfter werden die Häuser von Familien zerstört, die einen Angehörigen haben, dem Kollaboration vorgeworfen wird. Dabei schert man sich zunehmend weniger um mögliche Gegenwehr.

Hatte man zunächst auf direkte Angriffe gegen den Tourismus und die internationalen Beobachter, die die Einhaltung des Friedensvertrages zwischen Israel und Ägypten überwachen sollen, verzichtet, wohl, so die Vermutung, weil viele der örtlichen Stämme davon leben, wendet man sich nun auch gegen Ausländer.

Es sei mittlerweile mehr als deutlich, dass Wilajat Sinai zumindest logistische und ideologische Unterstützung aus dem Ausland erhalte, sagen Mitarbeiter des ägyptischen Innenministeriums; diese Gruppe sei wirklich "extrem gut" in dem, was sie tue.

Gleichzeitig wirft man der Hamas vor, die Präsenz des Islamischen Staats in der Region zumindest wohlwollend hingenommen zu haben. Denn so sehr Wilajat Sinai nun über die Hadid-Brigaden den Machtanspruch der Hamas bedrohe, so sehr habe auch Wilajat Sinai eine Rolle in der Finanzierung, Auf- und Ausrüstung der Hamas gespielt.

Der Bau von Tunneln unter der Grenze hindurch, der Schmuggel von Geld, Waffen, Gütern über lange Distanzen wäre, vor allem nachdem in Kairo mit Abdelfattah al-Sisi ein der Hamas überhaupt nicht wohl gesonnener Präsident an die Macht gekommen ist, unmöglich gewesen: Al-Sisi hatte nach seiner Machtübernahme im Sommer 2013 die Grenze zum Gazastreifen nahezu durchgehend schließen und die Bankverbindungen nach Gaza kappen lassen.

"Ich gehe davon aus, dass ein erheblicher Teil der iranischen Zahlungen an die Hamas in die Hände des 'Islamischen Staats' gefallen ist," sagt Ali Laridschani, Sprecher des iranischen Parlaments, und spart nicht mit Kritik an den Konservativen und Ultrakonservativen, die bis vor kurzem noch die Mehrheit im Parlament hielten: Sie seien "blauäugig" gewesen, und hätten gegen "iranische Interessen" gehandelt.

Allerdings gilt das Verhältnis zwischen Teheran und der Hamas schon seit Längerem als zerrüttet; die Hamas beklagt schon seit Monaten einen massiven Rückgang der finanziellen Unterstützung aus Teheran (Iran soll Unterstützung für Hamas und Hisbollah einstellen). Eine Denkrichtung ist, dass der Iran damit auf westliche Forderungen in Zusammenhang mit dem Atomabkommen reagiert. Eine andere Theorie besagt, dass den Machthabern im Iran der Gazastreifen einfach nicht mehr wichtig genug ist.

Sicher ist aber, dass es auch persönliche Abneigungen gegen Khaled Maschal, den derzeit in Katar ansässigen Chef des Politbüros der Hamas, gibt: Er hatte in den vergangenen Monaten die Nähe zu Saudi-Arabien gesucht - einem Erzfeind des Iran.

Mittlerweile hat aber auch Israels Regierung eine härtere Gangart eingeschlagen: Im Mai übernahm Avigdor Liebermann, der während des Krieges für eine israelische Besatzung des Gazastreifens eintrat, das Amt des Verteidigungsministers. Nachdem die Hadid-Brigaden Ende August eine weitere Rakete auf Israel abgefeuert hatten, änderte man die Strategie und startete das schwerste Bombardement seit Kriegsende: Stundenlang wurden Ziele von Hamas, Islamischem Staat und anderen Gruppen angegriffen. "Die Hamas ist für alles verantwortlich, was im Gazastreifen passiert, so lange sie dort regiert", sagte Liebermann.

Angst vor Seitenwechsel

Im Fall der Hadid-Brigaden gab es bislang ein bestätigtes Todesopfer: Ende Mai 2015 wurde beim ersten Anschlag der Gruppe der Hamas-Funktionär Saber Siam durch eine Autobombe getötet. Die Hamas hatte damals bereits einige Personen festgenommen, deren Schicksal heute unbekannt ist. Gleichzeitig hatte man das Thema "Islamischer Staat" damit für erledigt erklärt. So verweist der Pressesprecher des Innenministeriums, Ijad al Bozum, darauf, dass ja weitere schwere Anschläge ausgeblieben seien; mit dem "Islamischen Staat" auf dem Sinai habe man nie zusammen gearbeitet.

Allerdings: Bereits kurz nach der Machtübernahme der Hamas in Gaza im Jahr 2007 begannen die Kassam-Brigaden, mit einem ägyptischen Schmuggler namens Schadi al-Menai zusammenzuarbeiten. Auf Bildern ist er in den folgenden Jahren auch mit Maschal und dem Hamas-Regierungschef Ismail Hanijeh zu sehen. Al-Menai war dann später einer der Gründer von Ansar Bait al-Makdis.

Zudem wurden im Schifa-Hospital in Gaza nach Angaben von Mitarbeitern noch in diesem Jahr Männer mit Schussverletzungen und ägyptischem Dialekt behandelt. Und stets seien die Verletzten von Angehörigen der Kassam-Brigaden begleitet worden. "Man hört, ob irgendwo eine Schießerei stattgefunden hat, und wenn die Opfer nur Ägypter sind, dann ist das komisch", sagt ein Arzt.

Einer der nun Festgenommenen habe, sagt al-Bozum, den Auftrag gehabt, "Leute zu bestechen"; gut 30.000 US-Dollar habe er dafür dabei gehabt. Auf Nachfrage bestätigt er, dass man vermute, dass man Angehörige der Kassam-Brigaden im Auge gehabt habe. Allerdings ist möglich, dass die Hamas Festnahmen und Pressekonferenz inszeniert hat, um jene zu warnen, die für Avancen der Hadid-Brigaden empfänglich sein könnten. So oder so wird an diesem Punkt deutlich: Die Hamas befürchtet, dass Kassam-Brigadisten samt Raketen die Seiten wechseln könnten.