Erdogans Bauprojekte: Das neue Gesicht der Türkei

Neubau neben Holzhaus auf der Prinzeninsel Heybeli. Bild: Gerrit Wustmann

Mega-Moschee, Mega-Flughafen, neue Bosporusbrücke, neuer Bosporus - am Horizont lauert eine gefährliche Immobilienblase

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Nach und nach kommen die Menschen zurück nach Sur, nach Cizre im Südosten der Türkei. Die umkämpften kurdischen Städte um Diyarbakir sehen stellenweise aus wie Aleppo. Zerbombte Straßenzüge, eingestürzte Häuser, von Einschusslöchern übersäte Fassaden, Krater von Granateinschlägen im Asphalt.

Wochenlang hatte die türkische Armee die Gegend im Kampf gegen die PKK unter Beschuss genommen. Hunderte starben, Zehntausende mussten Flüchten. Die Bomben und Panzer haben die Arbeit der Bulldozer fortgesetzt, die schon zuvor dort gewütet hatten. Der Staat hatte ein Neubauprogramm aufgelegt gehabt, um die Gegend für Touristen interessanter zu machen, wie es offiziell hieß. Die staatliche Wohnungsbaubehörde TOKI hatte 2011 mit den Arbeiten begonnen, 2013 wurden sie von massiven Bürgerprotesten mit Unterstützung der HDP zeitweise gestoppt.

Eigentlich ist TOKI für den Bau von Sozialwohnungen zuständig, aber seit die Behörde seit 2003 Recep Tayyip Erdogan unterstellt ist, kümmert sie sich um die Vergabe aller öffentlichen Bauprojekte - und, wie im Korruptionsskandal Ende 2013 publik wurde: Es gibt eine enge Kungelei zwischen Erdogan, TOKI und der Bauindustrie.

Dass Erdogan lukrative Projekte unter seinen Günstlingen in der Wirtschaft verteilt, war vorher schon länger gemunkelt worden, ein damals ermittelnder Staatsanwalt, hatte Intransparenz beklagt. Aber der Bauboom befeuert die Konjunktur - und Erdogan gilt nach wie vor als der Präsident, der die türkische Wirtschaft gestärkt hat. Er braucht gute Zahlen. Querschüsse, die hinterfragen, ob dabei alles mit rechten Dingen zugeht, kann er nicht gebrauchen. Dass die Regierung nun der Milliarden Euro in den Wiederaufbau in Diyarbakir investieren will, wirft daher erneut Fragen auf.

In Istanbul ist der Bau-Irrsinn längst Alltag

Wer Istanbul kennt, der hat gelernt, sich auf Veränderungen einzustellen. Die ständig weiter expandierende Megacity auf zwei Kontinenten wandelt sich rasant. Manche sagen: Das war schon immer so. Von den historischen Holzhäusern, die einst das Stadtbild prägten, ist nicht mehr viel übrig. Die meisten sind im Laufe der Jahrzehnte Feuern zum Opfer gefallen. Die wenigen, die noch stehen, sind windschiefe Ruinen, eine Handvoll wurde restauriert. Den besten Eindruck davon erhält man heute noch auf den zu Istanbul gehörenden Prinzeninseln im Marmarameer.

Blick über Gültepe auf das Bankenviertel Levent - links im Bild der Sapphire - Ende 2013. Bild: Gerrit Wustmann

Die Holzhäuser sind ein gutes Beispiel dafür, wie gering der Respekt vor der historisch gewachsenen Struktur der Stadt ist. Generell wird selten restauriert. Abriss und Neubau sind an der Tagesordnung. Ein Gebäude, das heute leersteht, kann morgen schon ein Schutthaufen und übermorgen eine Baustelle sein. Wenn man ein paar Monate weg war und dann nach Istanbul zurückkehrt, stolpert man zuallererst über Veränderung. Manches nimmt man unterschwellig wahr, anderes ist unübersehbar. Immer erfordert es einen Prozess der Neuorientierung.

Fährt man mit dem Auto in die Stadt, sind die ewig vom Verkehr heillos verstopften Straßen von kleinen und großen Baustellen gesäumt. Immerhin: Parkplätze gibt es mehr als genug. Otopark heißen sie auf Türkisch und sind stets gut ausgeschildert. Die Preise variieren, sind aber im Rahmen. Und die Plätze sind bewacht. Hier kann man sicher sein, dass das eigene Auto in guten Händen ist und keinen Kratzer abkriegt - auch wenn bei voller Belegung nur noch ein paar Zentimeter Platz zwischen den Fahrzeugen ist.

Nur eines sind diese Otoparks nicht: offiziell. Sie gehören der Parkplatzmafia. Die ist in der ganzen Türkei gut organisiert, schmiert Polizei und Stadtverwaltungen und macht sich auf jeder sich bietenden Fläche breit, die sich zum Parken eignet. Und sie verteidigt ihr Revier verbissen. Was das mit dem Bauboom zu tun hat? Die Otopark-Mafiosi sind vielleicht die einzigen, die sich ihm in den Weg stellen.

Wenn ein Investor auf so einem Grundstück bauen will, führt das in der Regel zu monate- bis jahrelangem Kleinkrieg. Manchmal, wenn genug Druck erzeugt wird, kommt dann die Polizei und sperrt den Parkplatz. Was die selbsternannten Inhaber nicht weiter stört. Sie parken dann so lange die Straße oder Gasse zu, bis die Anwohner maximal genervt sind und sich bei der Stadt beschweren - und bald geht alles wieder seinen gewohnten Gang.

Historisches Holzhaus auf der Prinzeninsel Heybeli. Bild: Gerrit Wustmann

Es gibt mehrere dieser Otoparks in Karaköy, dem alten Viertel am Schnittpunkt von Goldenem Horn und Bosporus. Früher war es eine No-Go-Area voller Hafenkneipen, Bordells und rauen Sitten, denen Schriftsteller wie Sait Faik und Yasar Kemal literarische Denkmäler setzten. Heute entsteht ein Edel-Lokal neben dem anderen, das Publikum ist international, und ein kleines Bier kann schon mal umgerechnet zehn Euro kosten. Nur eines von unzähligen Beispielen für die Radikalgentrifizierung (Gentrifizierung: "Es geht nur um Profit") in der bei Touristen beliebten Gegend um Galata, die historische Altstadt einen Steinwurf entfernt.

Der Look der Fischrestaurants auf der unteren Etage der Galatabrücke wurde im vergangenen Jahr vereinheitlicht, ebenso wie der der Imbisse am Taksim-Platz und an anderen Hotspots. Als habe die Stadtverwaltung eine neue Corporate Identity für die Gastronomie entwickelt; der seit über zehn Jahren bestehende Fischmarkt direkt am Goldenen Horn wurde im letzten Sommer von der Polizei niedergetrampelt, die Buden abgerissen. Alles illegal, hieß es. Heute gibt es den Markt wieder, auch im Einheitslook, und mit neuen Betreibern.

Der Fähranleger Kabatas unterhalb des Taksim-Platzes wird momentan umgebaut, die schmucklosen Wartehallen sollen durch eine futuristisch anmutende Konstruktion ersetzt werden, die nicht ansatzweise ins Straßenbild passt. Und die komplette Uferpromenade direkt gegenüber, am asiatischen Bosporusufer in Üsküdar, soll im Laufe der kommenden zwei Jahre zu einer hochgestylten Betonwüste werden, die viel Raum für Parkplätze und Einkaufszentren lässt.

Aber all das sind Kleinigkeiten, die Istanbuler sind den Irrsinn gewohnt, und da kaum mehr jemand große Lust hat, im Tränengasnebel zu verschwinden, haben auch die Proteste abgenommen. Man fühlt sich machtlos.