Feindliche Übernahme in Kurdistan

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Die türkische Regierung setzte in 28 Städten und Gemeinden, vorwiegend in den kurdischen Gebieten, die gewählten Ortsvorsteher ab - und regierungstreue Gefolgsleute ein

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Es hätte kaum ein Datum mit mehr Symbolkraft gegeben, für den jüngsten Coup Erdoğans: der 11. September 2016, der 15. Jahrestag der Terror-Anschläge in den USA. Ein Tag, wie geschaffen, um einmal richtig aufzuräumen. Mit dem Terror, fortschrittlichen Lehrkräften, Gewerkschaften und nicht zuletzt, um der aufsässigen, ewig widerständigen kurdischen Bevölkerung zu zeigen, wer der Herr im Hause ist..

Schon am vergangenen Freitag kündigte Hürriyet Daily News an, die türkische Regierung werde die Verwaltungen von 28 Gemeinden dem Einfluss der kurdischen Arbeiterpartei PKK entziehen.

Am frühen Sonntagmorgen wurde diese Absicht in die Tat umgesetzt: in zwei Großstädten, 24 Provinzstädten und zwei Ortschaften wurden die gewählten Amtsinhaber und Amtsinhaberinnen abgesetzt, und durch Erdoğan-Gefolgsleute ersetzt. Die Aktion sei von "speziellen Operationen der Polizei begleitet", berichtete imctv.

Konkret sah das dann so aus, dass Scharfschützen vor den entsprechenden Verwaltungsgebäuden postiert wurden und auf den Gebäuden die türkische Fahne gehisst wurde. Zeitgleich gab es in vielen Städten und Gemeinden keinen Zugriff auf das Internet.

Betroffen sind u.a. die Großstädte Batman (Hauptstadt der gleichnamigen Provinz mit knapp 500.000 Einwohner) und Hakkâri (Hauptstadt der gleichnamigen Provinz mit knapp 300.000 Einwohner), die Städte Cizre, Nusaybin, Silopi, Silvan, Sur sowie vier Städte in der Provinz Van.

Laut imctv richtet sich die Aktion in nur vier Orten gegen die Gülen-Bewegung, die Präsident Recep Tayyip Erdoğan als Drahtzieherin des Putsches vom 15. Juli 2016 sieht. Die anderen 24 , z. T. mit 50 bis 70% der Stimmen, gewählten politischen Repräsentanten haben auf der Liste der pro-kurdischen HDP (Demokratische Partei der Völker) kandidiert.

Es heißt, statt der Amts- und Mandatsträger seien "Treuhänder" eingesetzt worden. "Im türkischen wird der Begriff 'Kayyum' für 'Statthalter' verwendet. Direkt übersetzt heißt es so etwas wie 'Zwangsverwalter/Treuhänder'. Ich bevorzuge allerdings den politischen Begriff 'Statthalter'" erläutert Kerem Schemberger, Aktivist und Kommunikationswissenschaftler gegenüber Telepolis.

Die Aktion zeigt sehr deutlich, wohin Erdoğans Reise geht: Sein Ziel ist es, die Opposition auszuschalten: sowohl die Gülen-Bewegung als auch die fortschrittliche HDP bzw. lokale kurdische Vereinigungen. Ganz nebenher versetzt er fortschrittlichen Gewerkschaften wie z.B. der Erziehungsgewerkschaft Eğitim SEN, der ein Großteil der am vergangenen Freitag suspendierten Lehrerinnen und Lehrer angehört, einen heftigen Schlag (Türkei: Hungerstreik für Öcalan hat begonnen).

Laut Hürriyet Daily News begründete Innenminister Süleyman Soylu den Schritt damit, die betroffenen Gemeinden befänden sich "in den Händen der PKK oder Kandil" - in Kandil, in den Bergen, hat die kurdische Guerilla ihr Hauptquartier.

Es sei die Pflicht der Regierung, bei denen zu intervenieren, die 80% ihrer Gehälter nach Kandil schickten, so Soylu. Die Verwaltung werde übernommen von Personen, die die (türkische) Flagge in ihrem Herzen trügen. Wie auf Fotos deutlich zu erkennen ist, nunmehr nicht nur in ihren Herzen… Legitimiert wird diese feindliche politische Übernahme durch den Ausnahmezustand, der am 20. Juli 2016 wegen des gescheiterten Putschversuchs verhängt wurde.

Die berechtigte Sorge um die politische Stabilität in dem Land, das über reichlich, aber keine guten Putsch-Erfahrungen verfügt, gerät mehr und mehr zum Putsch nach dem Putsch, zum Generalangriff auf die Demokratie - nicht nur in den kurdischen Gebieten.

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"Das ist ein Putsch der AKP-Regierung (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung ) gegen die eh schon sehr eingeschränkten örtlichen demokratischen Strukturen in den kurdischen Gebieten. Dieser muss als ziviler Putsch auch von den deutschen Medien und der Politik als solcher bezeichnet werden", stellt Schemberger klar.

In der Tat stellt sich die Frage, wie die Bundesregierung auf diesen ungeheuerlichen und inakzeptablen Vorgang reagiert. Die Aktion ist vergleichbar mit der etwaigen Absetzung von Bürgermeister und Landräten der Linken in den so genannten "neuen Bundesländern", die durch CDU- oder CSU-Getreue ersetzt würden.

Putschgewinnler Erdoğan

Hätte es den Putsch vom 15. Juli 2016 in der Türkei nicht gegeben, Erdoğan hätte ihn glatt erfinden müssen. Auch wenn bis heute nicht geklärt ist, wer tatsächlich hinter der (glücklicherweise) misslungenen Aktion stand, eines ist sicher: Haupt-Profiteur ist Erdoğan. Noch nie war er seinem Ziel, ein Sultanat nach seinem Bilde zu errichten, so nah wie heute.

Nachdem seine Partei AKP bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 die absolute Mehrheit verfehlte, und zudem die pro-kurdische HDP die 10%-Hürde übersprang und in das Parlament einzog, zerplatzte sein schöner Traum von der Präsidialrepublik wie eine Seifenblase. Seine Absicht, mit satter AKP-Mehrheit beschließen zu lassen, die Macht über das Parlament, die Justiz und das Militär künftig in der Hand des Präsidenten zu vereinen, schien in weiter Ferne.

Laut Verfassung ist die Amtszeit des Ministerpräsidenten, der die politischen Geschicke des Landes leitet, auf drei Wahlperioden beschränkt. Diese drei Perioden hat Erdoğan hinter sich. Deshalb wurde er zum Kandidaten für das repräsentative Amt des Präsidenten nominiert, und in direkter Wahl mit 52% der Stimmen gewählt.

Doch mit den Wahlen ist das in der Türkei so eine Sache: "Die Masse hat ja nicht immer recht. Das kennen wir aus der eigenen deutschen Geschichte. Hinzu kommt, dass Wahlen in der Türkei nicht fair und frei verlaufen. Erdoğan kontrolliert die Medien, die Justiz und die Regierung. Wie soll es da zu fairen und freien Wahlen kommen?"

Diese Frage warf der Politikwissenschaftler Burak Copur schon am 21. Juli 2016 in einem Spiegel-Interview auf.

Nichtsdestotrotz bezieht Erdoğan genau da seine Legitimation her. Er sei vom Volk gewählt, wird er nicht müde zu betonen. Seine Pläne brachten ihm den Beinamen "Sultan" (Reis) ein. Da sie sich nicht auf direktem Weg umsetzen ließen, machte Recep Reis von Tayyipistan ein paar Umwege.

Eine ganz wesentliche Voraussetzung für das Gelingen ist die Ausschaltung der Opposition. Dazu wird alles, was irgendwie nach Fortschritt klingt, als PKK-treu diffamiert, und somit in das Raster "Terror" gepresst, gegen den Erdoğan mit internationaler Unterstützung, deutschen Waffen, deutschem Geld und politischem Rückhalt aus Berlin kämpft.

Die Repression geht weiter

Der Kahlschlag im Bildungswesen, den Erdoğan am vergangenen Freitag einleitete, betrifft vor allem die kurdischen Gebiete. Mehr als ein Drittel aller Betroffenen (4.300) unterrichtete in Amed (Diyarbakir), der "Hauptstadt" Kurdistans. 1.780 in Mardin, 946 in Batman, 466 in Adiyaman. In Dersim wurden fast die Hälfte aller Lehrkräfte entlassen.

Ca. 12.000 Lehrerinnen und Lehrer lassen sich aber nicht so leicht ersetzen, d.h. in den kurdischen Gebieten bahnt sich eine bildungspolitische Katastrophe an, weil nämlich Zehntausende Kinder und Jugendliche keinen Unterricht mehr erhalten werden.

Analphabetismus war und ist ein Problem in Kurdistan. Zentrale Grundlage des Anti-Gewaltprogramms, das die lokalen Räte unter Bürgermeister Osman Baydemir in Amed einführten, um häusliche Gewalt einzudämmen, waren Alphabetisierungskurse. Damit die betroffenen Frauen in die Lage versetzt werden, eigenständig den Lebensunterhalt für die Familien zu verdienen. Um z. B. die Posten ihrer Ehemänner in der Verwaltung zu übernehmen, während die sich einem Anti-Gewalt-Training unterzogen - oder ihres Amtes enthoben wurden, sofern sie sich dem verweigerten. Der Lohn wurde den Frauen in jedem Fall weiter ausgezahlt, und die Männer von den Familien getrennt untergebracht.

Dieses Programm dürfte weltweit einmalig sein. Durch den wieder neu aufgeflammten Krieg und Erdoğans Rache-Aktionen wird es vermutlich nicht aufrecht gehalten werden können. Damit wird auch der Lebensstandard der Menschen sinken, denn, vom Dienst suspendiert, heißt auch vom Einkommen "befreit". Armut, Obdachlosigkeit und letztendlich Flucht werden die Folge sein.

Indirekt wird damit auch die häusliche Gewalt wieder gefördert. Denn es ist ja kein Geheimnis, das Unzufriedenheit bei Männern nicht selten ein Ventil findet, indem sie Frau und Kinder malträtieren. Es wird aber niemanden mehr geben, der diesen Frauen und Kindern hilft, helfen kann, bzw. helfen will, denn Anti-Gewalt-Programme stehen nicht auf dem Programm der AKP.

Knapp 10.000 der am vergangenen Freitag aus dem Schuldienst entlassenen Lehrerinnen und Lehrer waren Mitglied der Gewerkschaft Eğitim SEN.

Die Entlassungen sind also gleichzeitig ein heftiger Schlag gegen die Gewerkschaften und zeigt aber auch zugleich, dass die kurdische Freiheitsbewegung organischer Teil der ArbeiterInnen-Bewegung in der Türkei und Nordkurdistan ist.

Kerem Schemberger

Weitere Verhaftungen

Es ist denkbar, dass die Aktion die Antwort der türkischen Regierung auf den Hungerstreik der hochrangigen kurdischen Politikerinnen und Politiker ist, die mit diesem drastischen Mittel die Aufhebung der Kontaktsperre zu Abdulah Öcalan erzwingen wollen. Einige von ihnen dürften wohl seit heute keine politischen Ämter mehr bekleiden.

Ob ein Hungerstreik ein probates Mittel zur Erreichung politischer Ziele ist, mag dahingestellt sein. In jedem Fall aber ist er ein legitimes Mittel des politischen Widerstandes und rechtfertigt in keiner Weise eine derartige feindliche politische Übernahme, mehr oder minder einer ganzen von der Regierung ungeliebten und gefürchteten Region.

Unterdessen geht die Verhaftungswelle weiter. Aufsehen erregte die Inhaftierung der Brüder Ahmet und Mehmet Altan am vergangenen Samstag (Türkei: Öcalan darf wieder Besuch empfangen). Der eine ein Publizist, der andere ein Ökonom, jeweils mit internationalem Renommee. Ahmet Altan ist Träger des "Leipziger Medienpreises für die Freiheit und die Zukunft der Medien". Sein Bruder Mehmet, der an der Universität Istanbul lehrte, war zu Gast bei der deutsch-türkischen Buchmesse Ruhr in Essen 2009.

Das deutet an, was eigentlich auf der Tagesordnung stünde: Internationale Proteste, statt Erdoğan zu hätscheln. Wissenschaftler und Publizistinnen haben Kontakte weit über ihr Heimatland hinaus. Journalistinnen und Journalisten haben Kolleginnen und Kollegen im Ausland. Gewerkschaften gehören internationalen Verbänden an, kurdische Städte pflegen Patenschaften mit Ortschaften überall auf der Welt.

Wir alle müssen die Stimme erheben und protestieren gegen Verhaftungen Oppositioneller, Massenentlassungen und Amtsenthebungen aufgrund territorialer Stigmatisierung oder die Schließung ganzer Medienhäuser.

An dieser Stelle sei noch einmal auf den Solidaritätsappell der Akademiker für den Frieden, die kürzlich mit dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnet wurden (Türkei: Wenn alle zu Putschisten erklärt werden), verwiesen:

Die türkische Regierung nutzt den Ausnahmezustand, um alle kritischen Stimmen zum schweigen zu bringen, inklusive derer, die keine Beziehung haben zur Gülen-Bewegung oder den Putschisten. Wir fordern, dass unsere Kolleginnen und Kollegen umgehend wieder eingestellt werden und ihre Rechte als Beschäftigte im vollen Umfang zurück erhalten.

Bitte verbreitet unseren Aufruf in Euren Netzwerken. Bittet Eure Kolleginnen und Kollegen, Organisationen oder Gewerkschaften, eine Stellungnahme zur Unterstützung der Akademikerinnen und Akademiker in der Türkei zu veröffentlichen, und an die Regierung und Universitäts-Verwaltungen zu schicken

barisicinakademisyenler.net